Niemand glaubt einem, dass man ADHS hat—vor allem, wenn man weiblich ist
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Gesundheit

Niemand glaubt einem, dass man ADHS hat—vor allem, wenn man weiblich ist

Nach wie vor führen Vorurteile und Falschdiagnosen dazu, dass Mädchen und Frauen mit ADHS nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Aktivistinnen versuchen nun, das zu ändern.

Margaux Joffe, 31, ist immer total gestresst, wenn sie bei Ikea ist. Zugegeben, das Einkaufserlebnis in dem riesigen Möbelhaus kann für jeden eine aufreibende Erfahrung sein, doch für Joffe—und 4,7 Prozent der 18- bis 64-Jährigen, die in Deutschland an ADHS leiden—ist die Situation bedeutend schwieriger. In gewisser Weise hat es Joffe aber auch dem Labyrinth des schwedischen Möbelhauses zu verdanken, dass sie letztendlich doch noch die richtige Diagnose bekommen hat.

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„Ich habe–wie viele andere Frauen mit ADHS auch—jahrelang immer wieder stillschweigend mit Depressionen, Ängsten und einem andauernden Gefühl der Reizüberflutung gekämpft", erzählt mir Joffe am Telefon. „Seit ich 18 Jahre alt war, habe ich mit der Fehldiagnose Depression und Angststörung gelebt, bis ich [mit 29] schließlich den alles verändernden Ausflug zu Ikea gemacht habe. Man muss ja durch den ganzen Laden laufen, bevor man da wieder raus kann und ich war zusammen mit meiner Mutter ein paar Stunden lang in dem Laden, bis ich irgendwann an einen Punkt kam, an dem ich komplett reizüberflutet war." Da die sensorische Reizverarbeitung bei Menschen mit ADHS anders funktioniert als bei sogenannten neurotypischen Menschen, filtert ihr Gehirn zusätzliche Informationen nicht automatisch aus.

„Ich meinte zu meiner Mutter nur, dass ich raus müsste und nicht länger bleiben könnte. Glücklicherweise ist meine Mutter immer sehr aufmerksam und rief mich eine Woche später an, um mich zu fragen: ‚Margaux, hast du schon mal darüber gedacht, dass du vielleicht ADHS haben könntest?'"

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Da sich ADHS bei Frauen auf eine Art und Weise zeigt, die nicht dem klassischen Störungsbild entspricht, wird die Störung oft fehldiagnostiziert. Laut dem Ärztereport der Barmer GEK aus dem Jahr 2013 erhalten Jungen sehr viel häufiger die Diagnose ADHS als Mädchen—2013 wurde in Deutschland bei rund 472.000 Jungen und 149.000 Mädchen die Diagnose gestellt. Eine Studie, die 2005 vom Journal of Clinical Psychology publiziert wurde, stellte außerdem fest, dass ADHS bei Frauen nahezu immer unerkannt bleibt, weil die Symptome bei Frauen „weniger deutlich sind als das zerstörerische Verhalten, das bei männlichen Betroffenen beobachtet werden kann."

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Es gibt drei Unterformen von ADHS. Die Erste ist der vorwiegend hyperaktiv-impulsive ADHS-Typ, der sich überwiegend durch die klassischen ADHS-Symptome äußerst: Hyperaktivität oder Impulsivität sowie weniger oder gar keine Zeichen von Unaufmerksamkeit. Die zweite und dritte Form der Störung sind der vorwiegend unaufmerksame ADHS-Typ und der ADHS-Mischtyp, die sich—wie der Name schon sagt—durch Zeichen von Unaufmerksamkeit oder eine Mischung aus Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit äußern. „Mein ganzes Leben lang habe ich nicht gewusst, was mit mir los war. Als ich dann endlich die Diagnose bekommen habe, habe ich vor Erleichterung angefangen zu weinen", sagt Joffe.

ADHS hat einen ungeheuren Einfluss auf das Leben der betroffenen Frauen. Zu den Symptomen zählen unter anderem auch ein geringes Selbstwertgefühl, Desorganisation und Ängste. Bei Mädchen mit ADHS ist deshalb auch das Risiko für selbstverletzendes Verhalten und Selbstmordversuche höher als bei anderen Altersgenossen.

Joffe hat aus diesem Grund vor Kurzem die Kaleidoscope Society ins Leben gerufen, eine Anlaufstelle für Frauen mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Ziel der Kaleidoscope Society ist es, mehr Sichtbarkeit für eine andernfalls meist unsichtbare Bevölkerungsgruppe zu schaffen.

Margaux Joffe. Foto: Margaux Joffe

Joffes Eltern sind beide Ärzte. Dadurch hatte sie—wie sie selbst sagt—das Glück, dass sie gleich, nachdem der Verdacht auf ADHS geäußert wurde, Hilfe bekommen hat. Das ist aber nicht immer so. In manchen Fällen wird Frauen einfach nicht geglaubt, wenn sie sich in Behandlung begeben wollen. Es gibt sogar Ärzte, die Frauen vorgeworfen haben, sie würden die Störung nur vortäuschen, damit sie stimulierende Mittel bekommen, mit denen sie schneller abnehmen.

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„Es kommt oft vor [dass Ärzte zögern, Frauen die Diagnose ADHS zu stellen]. Außerdem wird zum Thema Frauen und ADHS auch zu wenig geforscht, weshalb es auch nur wenig wissenschaftliche Erkenntnisse dazu gibt", erklärt Joffe. „Vieles von dem, was wir über ADHS wissen, beruht auf Studien, die in den 70er-Jahren mit Jungen im Teenageralter durchgeführt wurden. Überwiegend weiße Jungs im Teenageralter."

„Mein Vater ist Kinderarzt und behandelt auch Kinder mit ADHS. Die Tatsache, dass mein eigener Vater die Zeichen [während meiner Kindheit] nicht erkannt hat, zeigt ganz deutlich, wie wenig man damals darüber wusste, wie sich ADHS bei Frauen äußert", sagt sie weiter.

Dr. Lara Honos-Webb ist Psychologin und hat bereits zahlreiche Arbeiten zum Thema ADHS publiziert. Sie sagt, dass auf jedes Mädchen drei Jungen kommen, die wegen einer ADHS-Diagnose zu ihr in die Praxis kommen. Wenn die Störung bei Mädchen nicht vor der Pubertät diagnostiziert wird, bekommen sie oft das Gefühl, dass ihre Schwierigkeiten in der Schule und im Leben ein persönliches Versagen darstellen. „Statt die Hilfe zu bekommen, die sie benötigen, versuchen Mädchen meist ihr Verhalten an die gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen", sagt Joffe. Wenn bei ihr im Zeugnis stand, dass sie „lernen muss, ihren Eifer zu kontrollieren", hieß das für sie nur, dass sie sich nicht so sehr von den anderen hervorheben darf.

Um solchen Schicksalen in Zukunft entgegen zu wirken, lädt die Kaleidoscope Society Frauen dazu ein, offen darüber zu sprechen, was es heißt, mit der Diagnose ADHS zu leben, um ein positiveres Bild der Störung herzustellen. „Ich möchte einfach, dass Frauen mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung wissen, dass sie nicht allein sind", sagt Joffe.


Foto: Danielle Truckenmiller | CC0