Urban Explorer in Moskaus Unterwelt: Auf eine Zigarette unter dem Roten Platz
Auch ein beliebtes Ziel für Moskaus Urban Explorer: Die 2007 noch nicht fertiggestellte Shiplovskaya Metrostation. Bild: STALFORM Engineering. Wikimedia; Lizenz: CC BY-SA 3.0

FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Urban Explorer in Moskaus Unterwelt: Auf eine Zigarette unter dem Roten Platz

Die Digger-Community erkundet die russische Unterwelt und stößt auf Militärbunker und geheime, seperate Metro-Systeme. Wir begeben uns auf eine Wanderung—bis uns der steigende Abwasserpegel wieder zum Aufstieg zwingt

Das Zentraltheater der russischen Armee thront majestätisch über dem Suvorov Platz im Norden Moskaus. Direkt hinter diesem sowjetischen Protzbau, über dessen riesige Bühne zur allgemeinen Belustigung gelegentlich auch echte Panzer rollten, beginnt mit dem Ekaterininsky Park eine der idyllischsten Grünanlagen im Zentrum der russischen Hauptstadt.

Für Mischa ist die Gegend aber vor allem der Beginn einer ganz besonderen Form von Flucht aus der Großstadtwüste: Hier befindet sich einer seiner meistgenutzten Einstiegspunkte, um für ausschweifende Ausflugs- und Dokumentationstouren in die Unterwelt Moskaus hinabzusteigen.

Anzeige

Als Digger, wie sich die Urban Explorer in Russland nennen, erkundet er Abwassersysteme, U-Bahn-Tunnel, unterirdische Flussläufe und verschollene Militäranlagen. Die unterirdischen Anlagen, die insbesondere in Zeiten der Sowjetunion ausgebaut wurden, schichten sich an vielen Stellen der russischen Hauptstadt auf mehr als sechs Ebenen—noch lange nicht alle sind erkundet.

„Wir schmieren die Wände hier unten nicht voll. Nur Fucker machen das."

In der Unterwelt Moskaus verstecken sich nicht nur diverse geheime Militärbunker, sondern auch provisorische Mini-Behausungen illegaler Einwanderer oder untergetauchter Bürger. Außerdem befindet sich hier das sagenumwobene Metro 2-System: Ein seperates Transportsystem für Bomben und flüchtende Politiker, das wohl in der Stalin-Ära tief unter der normalen Metro gebaut wurde.

Geheime Post-Systeme, viktorianisches Abwasser und Weltkriegsbunker: Eine Tour durch die unterirdischen Betriebssysteme Londons

Hastig schlüpft Mischa in die kniehohen Gummistiefel, die in Kombination mit seiner Helmlampe die Standardausrüstung jedes Diggers bilden. Er zieht die Eisenstange aus dem Rucksack, hebelt den Gullideckel auf, und schon steigt eine kleine Gruppe hinab in das wohl ruhigste Naherholungsgebiet Moskaus.

Alle Bilder (soweit nicht anders angegeben): Motherboard / Vice.

Digging ist in Moskau längst ein solch weit verbreitetes Phänomen, dass es nicht nur eigene Foren gibt, auf denen die besten Fotos ausgetauscht werden, sondern dass sogar Geheimdienste auf das Wissen der Digger zurückgreifen.

Anzeige

Die Geiselnahme im Moskauer Dubrokwka-Theater konnte tatsächlich erst beendet werden, als die russischen Spezialkräfte durch die Kanalisation einen Weg zu den pro-tschetschenischen Terroristen fanden, die zwei Tage lang mehrere hundert Geiseln in ihrer Gewalt hielten. Eine der Oldschool-Legenden der Digger-Szene hatte den FSB-Spezialeinheiten eine seiner selbst angefertigten Karten der Moskauer Tunnel und Abwassersysteme überlassen.

Ihr Bein wurde vom Zug erfasst, das Fleisch quillte heraus, aber sie schaffte es nach oben. Inzwischen ist auch sie wieder als Digger unterwegs.

Zusammen mit Mischa ist Motherboard in einem stundenlangen Marsch durch einige der ältesten historischen Abwassertunnel gewandert—vom nördlichen Rand des Metrorings unter dem Kreml hindurch bis in das Zentrum Moskaus. Erst als der Wasserpegel beginnt anzusteigen—was Mischa am lauter werdenden Rauschen des Abwassers bemerkte—waren wir gezwungen, die Tunnel am nächsten Ausstieg schleunigst zu verlassen.

So sieht der Rote Platz von unten aus—aus einem 15 Meter tiefen historischen Abwasserlauf. Alle Bilder (soweit nicht anders angegeben): Motherboard / Vice.

Auf der Tour zeigt Mischa uns auch den Kanalisationszufluss des Kremls und einen Ausstieg zum Roten Platz, unter dem wir vollkommen unbeobachtet hindurch spazierten, während sich 15 Meter über uns die Touristenmassen drängten—in dem Kanalisationstunnel gab es auch hier, direkt unter dem Machtzentrum Russlands, weit und breit vor allem historischen Backstein und Kloake, aber keine Kameras oder sonstigen Sicherheitssysteme, die die Anlagen überwachten.

Anzeige

Zwischendurch nutzen wir die Zeit, um mit Mischa bei mehreren Zigarettenpausen über die Heldentaten russischer Digger, die geheimen Keller-Partys seiner Freunde und seine Motivation für unterirdische Gewaltmärsche durch Gestank und Modder zu sprechen.

MOTHERBOARD: Hier unten ist es zwar ruhig, aber auch ziemlich ungemütlich. Warum tust du dir das an?

Diggen ist meine liebste Freizeitbeschäftigung geworden. In all den Jahren, die ich neben dem Studium unterwegs bin, wurde der Untergrund auch zu einem wichtigen Teil meines Lebens. Viele Explorer sind zu Freunden geworden. Man erlebt ja auch so einiges zusammen und steht gemeinsam gefährliche Momente durch.

Mein ultimativer Traum wäre es, einmal in die Metro 2 einzusteigen.

Das ist der wohl sagenumwobenste, aber auch schwierigste Spot für Urban Explorer in Moskau. Wie sieht das Metro 2-System überhaupt aus, kommt man da heute noch rein?

In den 1990er Jahren gab es einige Explorer, die in der Metro 2 unterwegs waren und sogar einige Zeichnungen und Pläne angefertigt haben. Das System besteht aus drei Linien. Eine verläuft Richtung Osten, eine nach Westen und eine Richtung Süden, bis knapp außerhalb der Moskauer Stadtgrenze. Das sind Fluchtrouten für die Minister und die Regierung. Es gibt auch einige Stationen in der Metro 2. Ich schätze, es sind rund ein Dutzend.

So weit ich weiß, ist die Metro 2 heute nicht mehr zugänglich. Es wäre ein Traum, diesen Ort zu sehen—aber es wird wohl immer ein Traum bleiben. Ich will mich da auch nicht erwischen lassen. Wenn ich da gepackt werde, lande ich im Gefängnis. Die Metro 2 ist auch heute noch ein Objekt von hoher strategischer Bedeutung und der Geheimdienst FSB [Nachfolgeorganisation des KGB] beschützt die Anlage noch immer.

Anzeige

Mischa seilt sich an einer abschüssigen Stelle des Tunnels ab.

Bist du auf deinen Touren denn auch schon auf bisher gänzlich unbekannte Orte gestoßen?

Ja, erst vor kurzem habe ich zum Beispiel wieder einige zuvor unbekannte Bunker und Militäranlagen entdeckt.

Was machst du nach einer solchen Entdeckung? Veröffentlichst du die Informationen im Netz?

Nein, so macht das niemand. Wenn ich etwas Neues entdecke, dann erzähle ich das nur meinen engen Freunden. Es gibt zu viele Leute, die Explorer werden wollen. Wenn detaillierte Informationen öffentlich bekannt werden, dann versuchen viele Leute, auch an den Spot zu kommen und zerstören den Ort für alle Explorer. Er wird dann entweder zugemüllt oder verschlossen.

Hier unten findet man immer wieder Tags und Schriftzüge. Hinterlasst ihr auch eure Namen in den Katakomben?

Nein, nur Fucker machen das. Wir versuchen, auf die Spots aufzupassen.

Dieser Fotograf erkundet die unterirdischen Pools von Paris

Wie hat das Diggen in Russland begonnen?

Es begann alles in den späten 1980er Jahren. Einige Pioniere sind in die U-Bahn-Anlagen und in die Kanalisation eingestiegen. Als das Regime schließlich zu taumeln begann, hat das die Situation für die Leute ziemlich vereinfacht. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs nahm das Diggen immer mehr zu.

In den frühen 90ern tauchte Vadim Michailov mit seinem Team auf. Sein Interesse für das Exploren wurde durch seinen Vater, der jahrelang als Maschinist und U-Bahnführer für die Moskauer Metro gearbeitet hatte, geweckt. Vadim prägte wie kein anderer die Oldschool-Generation. Inzwischen ist er um die 40 und ist schon seit 20 Jahren als Explorer unterwegs.

Anzeige

Wenn du Vadim nach Spots fragst, tut er aber noch immer so, als sei er ein Noob. Obwohl er fast alles gesehen hat, erzählt er dir nahezu nichts über die Orte, die er erkundet hat. Öffentlich berichtet er meist nur von irgendwelchen normalen Flüssen.

Das macht er, damit das Diggen nicht zu bekannt wird, und nicht zu viele Explorer zu den besten Spots kommen. Mehr Leute, mehr Idioten.

Wie ist die allgemeine politische Einstellung in der Digger-Szene und wie ist das Verhältnis zu den Sicherheitsbehörden?

Vadim Michailov zum Beispiel arbeitet tatsächlich auch eng mit den Sicherheitsbehörden zusammen. Am bekanntesten ist der Fall der verheerenden Geiselnahme im Dubrowka-Theater in Moskau. Damals haben die Spezialeinheiten des Militärs verzweifelt nach einem Weg gesucht, um in das Theater zu den Geiseln zu kommen. Mit Hilfe der Informationen der Digger konnten sie schließlich einen Weg durch den Untergrund finden und das Theater unterirdisch stürmen. Die Terroristen waren geschockt—der Weg durch die Kanalisation war einer der Schlüssel zum Sieg.

Ich bin auf jeden Fall ziemlich stolz auf diese Typen. Zwei Oldschool-Jungs, die dem Geheimdienst bei ihrer Arbeit helfen und dafür schon Medaillen und Abzeichen verliehen bekamen.

Ihr feiert hier im Untergrund auch Parties. Wie läuft das ab?

Bei unseren Digger Parties treffen wir uns irgendwo im Untergrund. Wir quatschen, trinken, manchmal haben wir eine Gitarre dabei und singen gemeinsam Lieder. Eigentlich ist es wie eine normale Party, nur halt unterirdisch.

Anzeige

Tragen die Gäste bei den Parties auch diese Schutzanzüge und die typische Diggerkluft?

Klar. Zumindest wenn sie nicht nass werden wollen.

Ist Diggen eine Jungssache oder sind bei euren Parties und Ausflügen auch Mädchen dabei?

Natürlich sind auch Mädchen dabei. Es gibt allgemein ziemlich viele Frauen, die in Moskau als Digger unterwegs sind.

Wir haben für unsere Pause heute Plastikflaschen und eingeschweißte Sandwiches mit gebracht. Lässt du den Müll hier unten oder nimmst du ihn mit hoch?

Eigentlich nehmen wir unseren Müll immer mit zurück nach oben. Es ist nicht ok, deinen Müll im Untergrund zu lassen. Was wäre, wenn jeder das machen würde? Natürlich gibt es immer ein paar Idioten, die hier unten ihren Müll zurücklassen.

Wissen deine Kommilitonen an der Uni vom Diggen? Wenn ja, was halten sie von deinem Hobby?

Ich mache kein Geheimnis daraus. Ich lade meine Bilder auch in sozialen Netzwerken und in den bekannten Digger-Foren wie Caves.ru hoch.

Manche halten mich für verrückt und sagen, dass es gefährlich sei. Besonders das Einsteigen in U-Bahnschächte ist in den Augen vieler sehr bedenklich. Andere sind aber auch einfach begeistert von den Fotos, die wir wieder zurück mitbringen.

VICE: In Moskau gibt es einen echten Fightclub

Kennst du Fälle, in denen sich Digger verletzt haben, als sie unterirdisch unterwegs waren?

Ja, es kommt schon immer wieder zu Verletzungen und auch Todesfällen im Untergrund. Meistens trifft es dabei aber die Sprüher und nicht die Digger.

Anzeige

Eine Freundin von mir wurde aber auch schon einmal schwer verletzt in der Metro. Ihr Bein wurde von einem Zug erfasst, ein Knochen ist brach und das Fleisch quillte schon raus. Aber sie war sehr stark und schaffte es alleine wieder nach oben. Sie musste dann einen Monat im Krankenhaus bleiben—aber inzwischen ist sie auch wieder als Digger unterwegs.

Wie schützt du dich, wenn du in einem U-Bahntunnel unterwegs bist und plötzlich unerwartet ein Zug kommt?

Wenn du hörst, dass sich in der Ferne ein Zug nähert, dann ist das die beste Strategie: Lauf so schnell du kannst und finde eine Tür, die zu technischen Räumen oder Toiletten führt. Wenn es so eine Tür da, wo du gerade bist, nicht gibt, dann kannst du dich hinter Kisten neben dem Gleis, in denen Equipment und Technik verstaut wird, verstecken, damit du zumindest nicht gesehen wirst.

Und wenn du nirgendwo hinkannst, weil der Tunnel so schmal ist, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als dich am Rande des Tunnels hinzulegen und dich tot zu stellen.

So kannst du zumindest verhindern, dass du gesehen wirst. Schon das kann hier unten zu einem echten Problem werden.

Das Titelbild zeigt ein ebenfalls lange Zeit beliebtes Ziel für Moskaus Urban Explorer: Die 2007 noch nicht fertiggestellte Shiplovskaya Metrostation. Bild: STALFORM Engineering. Wikimedia; Lizenz: CC BY-SA 3.0

Redaktionelle Mitarbeit: Manuel Freundt. Das Gespräch und die Fotos wurden von uns schon vor mehreren Monaten aufgezeichnet, jedoch erst im August 2015 veröffentlicht.