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Rechtsstreit

Eine Mutter möchte die Facebook-Nachrichten ihrer toten Tochter einsehen

Wir haben einen Anwalt, einen Ethiker und einen Priester gefragt, ob das OK ist.
Foto: Grey Hutton

2012. In einem Berliner U-Bahnhof gerät ein Mädchen auf die Schienen. Die Bahn kann nicht mehr bremsen. Wenig später stirbt sie im Krankenhaus. War es Suizid? Heute, fünf Jahre später, hat die Mutter noch immer keine Antwort auf diese Frage. Stattdessen befindet sie sich in einem Rechtsstreit mit Facebook.

In der Hoffnung, Hinweise auf mögliche Motive ihrer Tochter zu bekommen, versuchte die Mutter, sich in deren Facebook-Profil einzuloggen, auch weil der Bahnfahrer Schmerzensgeld von den Eltern forderte. Doch es war der Mutter nicht mehr möglich, auf das Konto der Tochter zuzugreifen. Ein Unbekannter versetzte es in den Gedenkzustand. Das bedeutet: Freunde und Bekannte können ihre Erinnerungen an die Verstorbene in der Chronik teilen, aber niemand kann sich mehr in das Konto einloggen und niemand hat das Recht, diesen Status rückgängig zu machen. Facebook weigerte sich, der Mutter Zugang zu gewähren.

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Wer hat nun also Recht? Darf die Mutter einfach in die Privatsphäre ihrer Tochter eindringen? Darf sie die Nachrichten Dritter – der Freunde der Tochter – einfach lesen? Unsere WhatsApp- und Facebook-Nachrichten sind privat. Darin teilen wir unsere Pläne, Gedanken und Gefühle mit. Wenn es uns schlecht geht, dann schreiben wir der besten Freundin und reden uns den Kummer von der Seele. Dass unsere Eltern jeden unserer Gedanken lesen, wollen wir dann nicht.

Aber kann man diese Situation vergleichen? Hat nicht eine Mutter gerade im Fall eines möglichen Suizids Anspruch darauf, die Todesursache ihrer Tochter zu erfahren? Und hat sie nicht vor allem ein Recht darauf, sich gegen die Forderung nach Schmerzensgeld zu wehren?

Das Landgericht Berlin hat im Januar entschieden: Das Facebook-Profil der Tochter geht in den Besitz der Eltern als Erben über.

Facebook legte Einspruch ein. Dass die Eltern einen Anspruch auf die Nachrichten der Tochter hätten, räumte der Konzern ein. Aber den Eltern stünde nicht zu, die Nachrichten Dritter zu lesen, die sie in der Annahme verfasst hatten, nur ihre Chat-Partnerin könnte sie lesen.

Nun muss das Kammergericht in Berlin entscheiden, wer Recht hat. Wir haben uns einmal umgehört, wie man in diesem Fall die Positionen gegeneinander abwägen kann und bei einem Anwalt für Medien- und Persönlichkeitsrecht, einem Ethiker und einem Priester nachgefragt.

David Geßner, Rechtsanwalt für Medien- und Persönlichkeitsrecht

"Ich glaube, dass das Landgericht Berlin zutreffend entschieden hat und das Kammergericht ähnlich entscheiden wird. Als Erben haben Eltern einen Anspruch darauf, Zugang zu dem Account ihrer Tochter zu erhalten. Wenn sie beispielsweise in dem Zimmer der Tochter einen Brief finden würden, hätten sie ein Recht, diesen zu lesen. Dabei ist es irrelevant, ob der Brief an die Tochter adressiert war, oder von der Tochter geschrieben wurde. Zwischen digitalen Informationen oder materiellen Gegenständen kann kein Unterschied gemacht werden.

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Natürlich muss die Frage betrachtet werden, ob dieser Anspruch nicht die Privatsphäre von Dritten beeinträchtigt. Ich denke aber, dass das Erbrecht an dieser Stelle überwiegt. Die Eltern haben ein berechtigtes Interesse daran, den Tod ihrer Tochter aufzuklären.

Die Eltern haben aber noch ein weiteres Recht, die Zugangsdaten zu dem Account ihrer Tochter zu erhalten. Als Erben dürfen sie einsehen, welche Daten über das Mädchen auf Facebook gespeichert sind. Hier greift das Bundesdatenschutzgesetz."

Ansgar Pohlmann, Regens des Priesterseminars Erfurt

"Das Schwierige an diesem Fall ist das Gefühl der Ungewissheit, weil man nicht weiß, was genau passiert ist. Das macht es vor allem für die Eltern besonders schwer, den Tod zu verarbeiten. Somit können die Facebook-Nachrichten den Eltern dabei helfen, über den Tod ihrer Tochter hinwegzukommen. Je mehr man die Situation des Verstorbenen kennt und versteht, umso besser lässt sie sich von den Angehörigen verarbeiten.

Hätte das Mädchen als Kind Briefe geschrieben, würden sie die Eltern nach ihrem Tod auch lesen. Facebook ist zwar elektronisch, aber eigentlich macht das keinen Unterschied. Wenn Kinder Tagebuch führen, schreiben sie auch vertrauliche Dinge über andere auf. Gerade in so einem Alter geht es vielfach um Beziehungen, Freundschaften und Verliebtsein.

Ich glaube, dass ein wichtiger Punkt ist, dass es für Eltern höchst dramatisch ist, ein Kind zu verlieren. Und wegen dieses Umstandes ist der Wert höher, den Eltern die Möglichkeit zu verschaffen, die Situation möglichst gut zu verarbeiten. Auch wenn das dann eventuell die Privatsphäre von Dritten verletzt."

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Nikolaus Knoepffler, Leiter des Lehrstuhls "Angewandte Ethik" an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena

Foto: Mit freundlicher Genehmigung

"Ich denke, dass die Eltern hier sogar ein Recht darauf haben sollten, Zugang zu dem Profil ihrer Tochter zu erhalten. Es gibt doch eine Analogie aus der Juristerei: Wenn der Verdacht auf eine Straftat besteht, dann darf die Staatsanwaltschaft über alle anderen Ansprüche hinweg eine Autopsie anordnen.

Wenn die Eltern in diesem Fall glauben, Hinweise über den Tod ihrer Tochter durch die Einsicht in das Facebook-Profil zu erhalten, dann sollte ihnen der Zugang in jedem Fall gewährt werden. Nehmen wir an, das Mädchen erhielt Mobbing-Nachrichten, die sie in den Tod getrieben haben. Das sollte aufgedeckt werden.

Außerdem ist ein Facebook-Profil doch ohnehin öffentlich. Natürlich handelt es sich um Nachrichten von weiteren Personen, die die Eltern auch einsehen könnten. Aber wir schreiben heutzutage nie eine Nachricht, die nicht irgendwie auch von Dritten gelesen werden könnte. Dessen ist man sich ja auch bewusst, wenn man die Nachricht verfasst."

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