Ich habe versucht, so viele Millennial-Klischees wie möglich zu leben
Alle Fotos:  Regina Lemaire-Costa

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Selbstversuch

Ich habe versucht, so viele Millennial-Klischees wie möglich zu leben

Sind wir wirklich faul, oberflächlich und besessen von Avocado-Toast? Ich wollte unsere Generation verstehen, in dem ich all das gemacht habe, was uns vorgeworfen wird.

Ich bin so gegen Anfang oder Mitte der Millennial-Generation geboren. Das heißt, ich kenne mich bestens damit aus, welche Eigenschaften unsereins angeblich auszeichnen: Wir sind faul, wir sind Idioten, wir sind daran Schuld, dass niemand mehr Servietten benutzt und damit eine ganzes Industrie ausstirbt. Das sind übrigens auch Dinge, die Google automatisch vorschlägt, wenn ich "Millennials are" ins Suchfeld tippe.

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Aber anscheinend retten wir auch die öffentliche Bibliothek. Wir sparen besser für unsere Rente. Wir kaufen Häuser, nur damit unsere Haustiere einen Garten zum Austoben haben. In den Augen vorheriger Generationen sind wir an allem schuld, was aktuell so falsch läuft. Andererseits können wir unmöglich den Untergang des Braugewerbes bewerkstelligen und gleichzeitig unsere französische Bulldogge kuscheln und in die Rentenkasse einzahlen. Faule Leute sind schließlich schlecht im Multitasking.

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Dieser Widerspruch hält aber Werbeagenturen, Trendbeobachter und überhaupt alle, die sich gern reden hören, keineswegs davon ab, unsere Generation zu verallgemeinern. Deswegen habe ich mir ein großes Ziel gesteckt: herauszufinden, was es eigentlich bedeutet, ein "Millennial" zu sein. Wie ich das schaffen will? Indem ich alle Klischees, die es zu meiner Generation gibt, auf einmal lebe.

Contouring

"Es scheint, als hätten Millennial-Frauen keine Scheu vor Experimenten. Vom Contouring bis hin zum Microblading, sie haben alles schon probiert." – Influenster

Meine Großeltern haben nicht die japanische Besatzung von Hongkong überlebt, nur damit sich ihre Enkelin später freiwillig mit einer scharfen Klinge im Gesicht herumwerkeln lässt. Deswegen ist meine Experimentierfreudigkeit von vorneherein etwas eingeschränkt. Laut einer Umfrage von Influenster, an der 5.000 Frauen teilnahmen, ist der beliebteste Beauty-Trend ohnehin ein anderer: Contouring.

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Weil ich schon die ein oder andere Erfahrung damit gemacht habe, reicht es nicht einfach nur, mein Gesicht zu einer anderen Form zu pinseln. Ich fahre besonders schwere Millennial-Geschütze auf und beschließe, mir ein Schmink-Tutorial auf YouTube anzugucken.

Das ist wirklich eine Premiere für mich. Deswegen klicke ich auch erst einmal etwas verloren umher, bis ich bei "How to Contour for Beginners" lande. Es stammt von der australischen Vloggerin Tina Yong, der 1,7 Millionen Menschen folgen.

Yong hat die glatte, porenlose Haut, die alle YouTube-Stars eint, und den eisernen, kameraerprobten Blick einer Frau, die wortlos um einen Deal mit L'Oreal fleht. "Wenn ihr Contouring-Anfängerinnen seid oder es einfach noch nicht gemeistert habt, bleibt dran!", fordert Yong. Dabei steht sie vor etwas, das aussieht wie ein glitzernder Duschvorhang.

Meiner Erfahrung nach teilt sich Contouring in drei Phasen: Die erste ist die "Was zur Hölle mache ich hier eigentlich?"-Phase, gefolgt von "Eigentlich sieht es ganz OK aus." Darauf folgt aber unweigerlich Phase drei: "Jup, jetzt habe ich irgendwas falsch gemacht, aber ich bin zu faul, alles wieder wegzuwischen."

Wie du in den Fotos sehen kannst, habe ich es bis zur dritten Phase geschafft und bin jetzt orange. Da ich ein arbeitsscheuer Millennial bin, kannst du allerdings deinen Einhorn-Onesie darauf verwetten, dass ich das jetzt nicht nochmal von vorn mache.

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Millennial-Pink

"Das immer wieder gepostete und geteilte 'Millennial-Pink' ist das Aushängeschild dieser pinken Farbwelle. Das überlappt auch nahtlos mit einer der Farben des Jahres von Pantone, Rosenquarz. Dieser rosige Farbton umfasst die immer weiter verbreitete Botschaft der Geschlechtsneutralität, aber baut auch auf den beliebten, minimalistischen Skandi-Trend aus der Mitte des 20. Jahrhunderts." – WGSN

Ich habe keine Ahnung, was eine Farbe mit Geschlechterkram und skandinavischen Möbeltrends aus dem vorigen Jahrtausend zu tun hat. Aber Millennial-Pink schmeichelt mir optisch, finde ich. Leider dürfen Millennials nicht länger einfach eine Farbe "mögen". Trend-Agenturen würden schließlich pleitegehen, wenn sie nicht Beratungshonorare dafür kassieren könnten, dass sie unfassbar aufgebauschte Beobachtungen präsentieren.

Meine 23-jährige Kollegin Lauren ist die offizielle Millennial-Beraterin für dieses Projekt und allein bei dem Gedanken, dass sie in den 90ern geboren wurde, wird mir ein wenig schlecht. Dafür weiß sie aber, warum Millennial-Pink gerade so abgeht: "Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Gesellschaft uns wie Babys behandelt, also kehren wir zu den Farben unserer Kindheit zurück." Dann fügt sie hinzu: "Oder so."

Meine Freundinnen besitzen genug pinke Klamotten, um mir ein perfektes Millennial-Outfit zu ermöglichen. Als Accessoires wähle ich eine pinke Gürteltasche von New Balance, einen pfirsichfarbenen Emoji-Anstecker und eine pinke Basecap mit einer französischen Bulldogge drauf. ("Das ist wahrscheinlich der millennialmäßigste Hund", informiert mich Lauren zuverlässig. "Sogar mehr noch als ein Mops.")

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Ich glaube, ich sehe so halbwegs in Ordnung aus. Aber falls jemand fragt, antworte ich vielleicht doch lieber, dass ich gerade den Pfirsich aus James und der Riesenpfirsich cosplaye. Auf meinem Arbeitsweg starren mich Leute an. Drei Jungs lehnen sich aus den Fenstern eines ramponierten Autos und rufen mir "Baby" hinterher. Es klingt allerdings ein bisschen gezwungen. Wenn man "Millennials are babies" bei Google eingibt, kommen zehn Millionen Ergebnisse. Deswegen muss da wohl was dran sein.

Als Lauren mich in meinem neuen Aufzug im Büro sieht, ist sie allerdings begeistert. "Du siehst aus wie jemand, mit dem ich abhängen wollen würde. Richtig trendy", sagt sie. Meine Frage, ob sie das sarkastisch meint, verneint sie schnell. "Nein! Ich finde die Farben sehr modisch und sehr Millennial." Ich verbuche die Mission als vollen Erfolg.

Avocados

"Als ich mir mein erstes Haus gekauft habe, habe ich keine 19 Dollar für einen Avocado-Toast gezahlt und mir vier Becher Kaffee für jeweils 4 Dollar geleistet." – Tim Gurner

Tim Gurner ist eigentlich ein australischer Grundstücksentwickler. In den Medien ist er allerdings eher für seine Kritik an Millennials bekannt, weil sie Geld für Avocados und Kaffee ausgeben statt Häuser zu kaufen, in Aktien zu investieren, die Umwelt zu zerstören und all die anderen Dinge, die Babyboomer so gut können.

Ich persönlich habe in der unmittelbaren Nähe des Büros vier Avocados für 4,20 Euro gekauft. Und das in einem teuren Biomarkt, der die Avocados als "perfekt essreif und cremig" anpreist. Was sagst du jetzt, Tim Gurner?

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Mein Triumph dauerte allerdings nicht all zu lange an. Seit fast einer Woche esse ich Avocadobrei auf Toast und muss sagen: Mittlerweile protestiert nicht nur mein Geldbeutel, sondern auch meine Verdauung. Du kennst doch diesen undefinierbaren Geschmack nach vager Cremigkeit, den Avocados haben? Ich kann ihn jetzt definieren: Es schmeckt wie Tofu mit Grasnote.

"Du brauchst Avocados aus richtig sonnigen Gegenden", erklärt Regina, eine brasilianisch-französische Fotografin, mit der ich arbeite. Sie hat Recht. Hass-Avocados, die auf einer dauergekühlten Palette aus entwaldeten mexikanischen Anbaugebieten kommen, schmecken nicht gut. Vor allem, wenn man sie fast jeden Tag isst.

Fidget Spinner

"Ob du sie liebst oder hasst, die sogenannten Fidget Spinner erobern gerade ihren Platz in der Popkultur. Sie sind das Jo-jo der Millennials." —Nerdist

Mein Versuch, das neue Spielzeug der Millennials zu erstehen, wirkt anfangs zum Scheitern verurteilt. Lauren hat mir gesagt, dass kleine Kiosk-Läden und Billigkram-Shops sie verkaufen, aber ich finde dort keine. "Alles ausverkauft", sagt ein Verkäufer mittleren Alters. "Aber ich hab' einen kaputten, wenn du magst." Er zieht das Teil hinter dem Tresen hervor.

Eigentlich möchte ich mich weigern, mich einmal mehr von einem kapitalistischen Babyboomer übers Ohr hauen zu lassen, andererseits bin ich mittlerweile aber auch wirklich verzweifelt. Ich reiche ihm die zwei Euro und kehre mit meinem traurigen, fehlerhaften Fidget Spinner zurück ins Büro. Genau wie die Wirtschaft, die unsere Elterngeneration uns vermacht hat, ist er nur eine kaputte Hülle, die sich niemals komplett reparieren lassen wird. Und drehen tut er sich auch nicht sonderlich gut.

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Dann taucht allerdings ein Lichtblick auf – in Form meines Kollegen Alex, der einen Spinner auf seinem Tisch liegen hat und sich so gar nicht dafür zu schämen scheint. "Als der Fidget-Hype losging, war ich genauso skeptisch wie alle anderen", sagt Alex. "Was machen die überhaupt? Für wen sind die gedacht? Wie schnell können sie werden? Aber als er sich dann das erste mal in meiner Hand gedreht hat und ich den leichten Lufthauch im Gesicht gespürt habe, habe ich es verstanden."

Ich leihe mir den Spinner aus und probiere es. Und weißt du was? Ich verstehe es auch. Ein Fidget Spinner macht ein Geräusch, das für ASMR taugen könnte, er hat ein angenehmes Gewicht, und er dreht sich echt verflucht schnell. Da wir dauernd unsere unbezahlbaren Studienkredite und den steigenden Meeresspiegel vor Augen haben, brauchen gerade wir vielleicht manchmal die einfacheren Freuden des Lebens.

Ich habe mein Gesicht konturiert, Pink getragen, Avocados gegessen und einen Fidget Spinner gedreht. Trotzdem habe ich noch nicht das Gefühl, vollends verstanden zu haben, wofür wir als Generation stehen. Wie ein junger Mensch, der einen aussichtslosen Job ohne Aufstiegschancen antritt, wache ich nach meinem Experiment lustlos und unzufrieden auf.

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Dann stoße ich auf einen Einhorn-Toast-Popup-Store.

"Nur einen Tag lang wird dieses Café gratis Einhorn-Toast verteilen. Diese trendige Kreation besteht aus natürlichen Lebensmittelfarben und Frischkäse", heißt es in der Pressemitteilung dazu. "Damit wollen wir feiern, dass die beliebte Brotscheibe auch eine Nährstoffbombe ist."

Es gibt einfach nichts, das millennial-esker ist als der Versuch, Millennials mittels Einhorn-Toast Kohlenhydrate wieder schmackhaft zu machen. Das hier ist das Most Millennial Thing Ever. Ich glühe vor Freude, als ich Schlange stehe und auf mein kostenloses, glitzerndes Regenbogenbrot warte. Endlich ist es soweit: Das Tor zum Millennial-Leben wird sich mir auftun. Es wird wie purer Erfolg schmecken.

OK, nein. Es schmeckt widerlich.

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