Illustration von einem jungen Mann auf einem Boot in einem gelben Meer. Tom hat Urophobie, er hat Angst, in die Hose zu pinkeln, wenn er nicht auf Klo gehen kann. Das macht ihm das Leben zur Hölle.
Illustration: Tatjana Junker
Menschen

Tom hat ständig Angst, sich in die Hose zu machen

Die Urophobie begleitet ihn überallhin: zum Arzt, zur Arbeit, ins Bett – beim Sex.

Tom ist in der Mittelstufe, als ein Klassenkamerad damit prahlt, acht Stunden nicht gepisst zu haben. Tom weiß, wie unsinnig das ist. Trotzdem meint er, dass das – also acht Stunden nicht zu pissen – dazugehöre, wenn man ein echter Mann sein will. Tom kann das nicht, aber ein Mann will er doch sein, also ist er in solchen Momenten still. Er will nicht, dass die anderen wissen, dass er schon froh ist, wenn er es mal eine Stunde erträgt, nicht zu urinieren. Denn oft passiert das nicht. Auch deshalb heißt Tom nicht wirklich so.

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Tom leidet unter Urophobie, der "Angst vor dem Harndrang zur Unzeit", wie es im Duden heißt. Tom nennt es: "Ich hab’ halt Schiss vor dem Moment, in dem ich mich einpisse, weil ich nicht aufs Klo kann". Und diese Angst begleitet ihn überallhin: zum Arzt, zur Arbeit, ins Bett – beim Sex. Immer dann, wenn er weiß, dass er jetzt für eine gewisse Zeit nicht pinkeln können wird, muss er plötzlich, egal ob Urin in der Blase ist oder nicht. 


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Wenn Tom sich zurückerinnert, dann war die Angst immer da. Nicht so deutlich und klar definiert, wie sie es heute ist. Nicht so grausam allgegenwärtig und mit so einer Gewalt über seinen Körper und sein Leben. Aber irgendwie schwang sie immer mit. Als Kind waren es die langen Urlaubsfahrten von Berlin nach Italien. 

Die Stunden und Minuten vor der Abfahrt waren stressig. Seine Mutter lief aufgeregt umher, sprang immer wieder ins Haus, weil sie etwas vergessen haben könnte. Toms Vater blieb still, doch seine Anspannung konnten alle spüren. Sie hatten Angst vor ihm, wie er da stand, sich auf die Lippe biss, mit einer pulsierenden Ader auf der Stirn, und betonte, dass er schon vor einer Stunde loswollte. 

Die Unruhe spürte auch Tom. Er war sich sicher: Wenn es gleich losginge und er dann noch mal pinkeln müsste, würde sein Vater niemals anhalten. Er war der Jüngste der drei Geschwister, fühlte sich ohnehin bereits wenig wahrgenommen. Jetzt oder nie. Also lief er noch mal kurz ins Haus, er wolle noch etwas holen, und erleichterte sich ein letztes Mal. Und dann noch mal. Und noch mal. Natürlich stöhnten die anderen, wenn er erneut aufstand, aber offenbar dachten sie sich nichts dabei. Trotzdem erinnert sich Tom an den Stress, wenn er gerade versuchte, die letzten Tropfen herauszupressen und die Rufe seiner Familie durchs Haus hallten: Wo bleibst du? Jetzt komm endlich!

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Die Vertretungslehrerin

In Toms Familie werden Probleme nicht angesprochen. Man isst gemeinsam zu Abend, man fährt in den Urlaub, aber besonders vertrauensvoll ist das Verhältnis zu den Eltern nicht. Sein Vater ist ein schweigsamer Kerl, der seine Gefühle nicht ausspricht. Wenn Tom ihm etwas erzählt, kommen kaum Rückfragen, es scheint, als sei der Vater froh, wenn das Gespräch vorbei ist. Toms Vater weiß bis heute nichts von der Angststörung seines Sohns. Und seiner Mutter fällt Kommunikation schwer. Einige Jahre später wird sie deshalb den Moment verpassen, in dem sie Tom hätte helfen können. 

Den Auslöser für das, was ihm das Leben so schwer macht, sieht Tom heute in seiner Schulzeit. In der sechsten Klasse sitzt er im Unterricht einer Vertretungslehrerin. Chaos, Ungehorsam, Lärm. Sie kann die Klasse nicht kontrollieren. "Alle trieben Schabernack", sagt Tom. Er auch. Und doch muss er wirklich auf Toilette, als er sich meldet und fragt, ob er gehen dürfe. Die Lehrerin verbietet es, hält ihn für einen Unruhestifter – wer weiß, was er nun im Schilde führt. Aber Tom muss.

Er fragt erneut. Wieder ein Nein. Jetzt kriegt Tom es mit der Angst zu tun, er muss doch auf Klo. "Scheiße, ich pinkel mich gleich ein. Scheiße, ich pinkel mich gleich ein. Scheiße, ich pinkel mich gleich ein." Die Gedanken kreisen um sich selbst, sonst ist der Kopf leer. Irgendwann geht es nicht mehr. Er steht auf, öffnet die Tür zum Flur und rennt los. Der Gang bis zum Klo scheint endlos, als die Lehrerin in die Tür tritt und ihm hinterherbrüllt: "Was machst du da? Komm zurück!" Tom rennt von ihr davon und auf die Toilette. Dass er die Art von Ärger kriegen wird, die für einen Sechstklässler noch ein kleines Ende der Welt bedeutet, damit hat er sich bereits abgefunden. Dass dieser Ärger nicht kommt, überrascht ihn. Doch das, was kommt, ist schlimmer als Ärger.

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Denn jetzt steckt es in seinem Kopf. Früher hatte er ab und zu Bedenken, aufs Klo zu müssen, wenn es eng wurde. Nun denkt er fast ständig daran.

"Piss halt einfach"

Christa Roth-Sackenheim ist Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Psychiater. Sie sagt, dass eine Angsterkrankung häufig einen Auslöser habe. "Es gibt auch eine genetische Prädisposition, die eine Phobie wahrscheinlicher macht, das ist dann manchmal familiär gehäuft auftretend." Konkrete Auslöser gebe es aber auch. Tom hat beides, einen Auslöser und eine genetische Prädisposition, wie er später erfahren wird.

Nach jeder Schulstunde eilt Tom jetzt auf die Toilette. Er steht dann am Pissoir mit seinem Penis in der Hand und zählt: zehn - neun - acht … bei eins drückt er und meistens kommen noch ein paar Tropfen. Alles muss raus, kein Rest darf in der Blase sein. Er drückt sich auch mit den Händen auf den Bauch, verschränkt die Beine so, dass er Druck aufbaut auf das Organ, in das er das Vertrauen verloren hat. Um jeden Preis will er verhindern, in eine Situation zu kommen wie damals bei der Vertretungslehrerin. 

Und doch kriegt er nun immer wieder Ärger, weil er nach der Pause zu spät kommt. Aber er will einfach sicher sein. Dabei merkt er schon jetzt, dass er nie ganz sicher ist. Auch im Unterricht fragt er sich: War es genug? Hätte ich eine Minute länger warten sollen? Er kann sich nicht konzentrieren, starrt apathisch vor sich hin. An schlechten Tagen bricht der Schweiß aus ihm heraus, an noch schlechteren deuten sich erste Panikattacken an, Herzrasen, flache Atmung. Später werden diese Panikattacken wirklich kommen.

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Natürlich merken seine Mitschüler, dass da etwas nicht stimmt. Tom ist ja nie dabei, nie Teil der Gruppe. Wenn die anderen in den Pausen Quatsch machen, versucht er gerade zu pinkeln. Und steht einer der Klassenkameraden auf der Toilette neben ihm, geht es gar nicht. Eine schüchterne Blase. Wenn Tom andere Männer fragt, wie die damit umgehen, lachen die. Er solle halt einfach pissen. 

Die Prädisposition

Christa Roth-Sackenheim spricht von einer hohen Dunkelziffer nicht diagnostizierter psychischer Erkrankungen bei Männern. "Viel mehr Frauen lassen sich wegen Angststörungen behandeln, wegen psychischen Erkrankungen generell. Trotzdem bringen sich Männer viel häufiger um. Woran liegt das wohl?", fragt sie. "Wird eine Angststörung nicht behandelt, wird sie mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nur schlimmer." 

Es ist eigentlich nicht zu übersehen, auch seine Lehrer müssen es mitbekommen, aber von ihnen kommt niemand auf ihn zu. Seine Klassenkameraden, sprechen ihn ab und zu darauf an. Es könne doch nicht sein, dass er schon wieder muss. Er schämt sich und redet sich raus, irgendwann geben sie es auf. Wenn nicht, erzählt Tom ihnen etwas von einer schweren Krankheit, die das alles verursache. "Erzähl das auf keinen Fall weiter", sagt er dann und ein bisschen glaubt er selbst daran. Er ist ja mit psychischen Erkrankungen noch nie in Berührung gekommen – zumindest nicht so, dass er es wüsste. Wie soll er seine Störung also als solche erkennen? 

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Dabei, das weiß er heute, hatte schon seine Großmutter mindestens eine Zwangsstörung. Sie fürchtete sich vor Infektionen und Verunreinigungen. Ständig wusch sie sich die Hände, berührte Türklinken nur mit dem Ellenbogen. Und auch seine Mutter hatte später eine Depression und war lange in Behandlung. Doch damals, als Jugendlicher, ist das alles weit weg, da ist Tom mit seiner Angst allein. Bis heute hat sich das nicht wirklich geändert und bis heute bedroht die Stille seine Freundschaften mit Menschen, die ihm nahestehen.

Ist Tom selbst schuld?

Trotzdem trägt Tom damals ein Selbstbewusstsein vor sich her, das ihn selbst überrascht. Sein Freundeskreis außerhalb der Schule besteht aus Jungs, die Scheiße bauen, kiffen, sprayen. Die Streber in seiner Klasse sind dagegen kleine Würstchen. Unter ihnen hat er ein Gangster-Image. 

Vor seiner Familie verheimlicht er das Problem. Er wüsste auch gar nicht, was er sonst tun könnte, er hat ja noch gar keine Worte dafür. Er mogelt sich durch. Bald sagt man ihm nach, dass er sich damit vor Aufgaben drücken wolle. So sei er halt. Nie wird hinterfragt, was dahinterstecken könnte.

Noch heute denkt Tom manchmal, dass er vielleicht selbst dran Schuld sein könnte. Er war doch immer schon ein Typ, der viel nachdenkt, ein Grübler. Immer im eigenen Kopf. Vielleicht hat er sich da reingesteigert, sich praktisch aus sich selbst heraus mit einer Angststörung angesteckt? "Mir ist todesbewusst, wie schwachsinnig das ist, aber ich kann mich nicht von den Gedanken lösen", sagt er. 

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Auch Christa Roth-Sackenheim sagt, dass diese Sorge vollkommen unbegründet sei. "Menschen, die sich viel reflektieren, fällt es leichter, sich zu analysieren, was aber für die Bewältigung der Krankheit ganz ausgezeichnet ist. Das Gefühl, dass man sich in etwas hineinsteigert, kommt dann eher von außen als Kritik: 'Steiger dich da doch nicht so rein!'"

Wann ist ein Mann ein Mann?

Nach der zehnten Klasse geht Tom von der Schule ab und beginnt eine Ausbildung bei der Bank. Wie seine Schwester. In seiner Familie ist klar, dass jeder für sich selbst zu sorgen hat. Und Banker sind reich, sie fahren dicke Autos und tragen Anzüge. Außerdem tut ihm das gut, in der Schule fühlte er sich noch ständig beobachtet. Alle suchten immer nach potenziellen Angriffsflächen. Wenn Tom nach der Arbeit im Anzug nach Hause kommt, spürt er den Stolz seiner Eltern. Endlich macht er etwas Vernünftiges, hängt nicht mehr nur mit diesen Kiffern rum. Dass er längere Kundengespräche kaum durchsteht, weil er immer meint, gleich in die Hose zu machen, wissen sie nicht.

Tom wird erwachsen, viel schneller als seine Freunde. Auf der Arbeit sagt man ihm, seinen Slang solle er bitte auf der Straße lassen. Er ist ständig von Erwachsenen umgeben und wird dabei selbst einer. Trotzdem bleibt er das schwarze Schaf, "der Geheimniskrämerei wegen", sagt er. 

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In dieser Zeit fällt ihm zufällig ein Magazin in die Hände. Es geht um Angst. Eigentlich will er es nur zerschneiden und daraus Collagen basteln, doch er bleibt an einem Text hängen. Darin werden verschiedene besonders absurde Phobien beschrieben. Eine nennt sich Urophobie. "Krass", denkt er. Das beschreibt genau das, wofür er keine Worte hat.

Er setzt sich an den Computer und googelt "Urophobie". Die Ergebnisse sind spärlich und ernüchternd. In den wenigen Blogbeiträgen, die er findet, geht es eher um Leute, die Angst haben, sich einzuscheißen. Das findet er weird. Mit den meisten kann er sich nicht identifizieren und irgendwo, tief in seinem Kopf, sitzt auch noch die Überzeugung, dass echte Männer wahlweise acht Stunden nicht pissen müssen oder einfach pissen sollen – je nachdem.

Christa Roth-Sackenheim sagt, Menschen schämten sich, über ihre Ängste zu reden. "Aber in meiner Erfahrung hilft es den Menschen enorm, sich auszutauschen."

Tom hat nun immerhin ein Wort für seine Störung. Er kann doch eigentlich gar nicht alleine sein? 

Tom erleichtert sich

Sein Freundeskreis ändert sich in dieser Zeit, er wird offener, menschlicher. Tom kifft immer noch viel, aber das Kiffen hilft auch dabei, über die intimen Dinge zu sprechen, mit denen die Jungs sonst alleine geblieben sind. Dazu gehören auch ehemalige Klassenkameraden. Die sprechen ihn irgendwann auf die Pausen an. Was war damals eigentlich los? Bekifft erzählt er zum ersten Mal, was ihn seit so vielen Jahren bedrückt. Und die Jungs verstehen das, sie fragen nach, empathisch, besorgt, wie Freunde. Toms Geheimnis ist keines mehr.

Er ist so glücklich darüber, dass er es auch gleich seiner Mutter erzählt. Doch die hatte schon immer Probleme damit, aufmerksam zuzuhören, und das tut sie auch diesmal nicht.

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Sie kennt psychische Probleme nur als Depressionen und will auch bei Tom eine erkennen. Sie schickt ihn zum Psychiater. Der verschreibt ihm Antidepressiva. Die knallen zwar ganz geil mit dem Gras, hauen auf den Rausch aber noch einen Schub drauf. Eines Nachts erlebt Tom seine erste echte Panikattacke und glaubt, er müsse jetzt sterben. Er setzt die Medikamente wieder ab. Seine Mutter schickt ihn auch zum Urologen. Der verschreibt Tom ein Mittel, das den Weg von der Blase verkleinert und gleichzeitig den Blasenzugang verengt. Tom müsse dann weniger pinkeln und wenn, dann tue es gleich richtig weh. Aber Toms Harnleiter ist nicht das Problem. Es wird zehn Jahre dauern und alles noch viel schlimmer werden, bis er sich wieder einem Therapeuten anvertraut.

Beim Sex, beim Arzt und immer

Nach seiner Ausbildung beschließt Tom, nicht als Bankkaufmann zu arbeiten. Er entscheidet sich stattdessen dafür, als Verkäufer im Einzelhandel zu arbeiten. Hier kann er sich frei bewegen. Wenn genug Leute gleichzeitig arbeiten, kann er jederzeit auf Toilette gehen. Das reicht ihm, um nicht ständig zu müssen. Doch in seiner Freizeit bleibt die Angst ein Problem.

Beim Sex ist es oft unangenehm. Dann muss er vorher noch mal kurz verschwinden. Aber was heißt kurz? Auch jetzt zählt er: zehn – neun – acht … Er wartet, drückt, wartet, drückt, minutenlang. Und im Schlafzimmer wartet eine junge Frau darauf, dass er zurückkommt und verliert langsam die Lust. Manchmal ist Tom auch gedanklich und körperlich schon voll dabei, dann merkt er plötzlich, "Shit, wer weiß, wie lang das jetzt dauert?", und geht lieber nochmal.

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Seiner letzten Freundin erzählte er irgendwann von seinem Problem. Anfangs hatte sie Verständnis, aber später wurde sie ungeduldig. Er könne doch nicht immer aufs Klo müssen. Natürlich wollte Tom sie nicht verärgern, aber was sollte er denn tun? Dadurch wuchs der Druck nur weiter. Ging er ihr zuliebe mit auf ein Konzert, konnte er sich nur darauf konzentrieren, wie er seinen Vordermann nach dessen Becher fragen würde, falls es nicht mehr anders ginge.

Oft spürt Tom eine winzige Menge Urin in der Blase und ist überzeugt, dass die sofort raus muss. Nachdem bei einem Kumpel Hautkrebs diagnostiziert wird, geht er zum Hautscreening. Schon im Wartezimmer ist er unruhig, traut sich aber nicht, noch einmal pinkeln zu gehen. Was, wenn er aufgerufen wird? 

Als er der Ärztin gegenübersteht, soll er sich freimachen. In dem Moment setzt sein Hirn aus. Auf das Gespräch kann er sich nicht konzentrieren, auch weil sie ihm körperlich so nah ist. "Fuck, ich piss mich gleich ein. Fuck, ich piss mich gleich ein. Fuck, ich piss mich gleich ein." Sie fragt ihn schließlich, ob sie auch im Intimbereich schauen solle, aber er wehrt sofort ab, nein nein. Das Schlimmste wäre, dass er sich einpinkelt, wenn sie ihm gerade da unten nahekommt.

Selbst mit seiner besten Freundin kann er nicht über sein Problem sprechen, obwohl die beiden sich so nah sind. Immer hat Tom Angst, dass das, was er erzählt, falsch rüberkommt. Dass die Menschen, denen er es erzählt, sich ekeln oder abwenden. 

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Alles wird schlimmer

Mit Corona wird Toms Job stressiger. Die Kunden bleiben weg, also entlässt seine Chefin einige Mitarbeiter. Tom ist nun meistens allein im Laden. Das ist natürlich ein Problem. In diesen Zeiten ist er selbst kaum da, konzentriert sich nur auf seine Blase. Die Gedanken kreisen: "Was, wenn jemand kommt und ich mich einpisse? Was, wenn jemand kommt und ich mich einpisse? Was, wenn jemand kommt und ich ich mich einpisse?" Am Ende ist es die Chefin, die sein Problem löst, indem sie ihn rauswirft und damit in eine weitere Krise stürzt.

Jetzt kommt alles zusammen. Die Arbeitslosigkeit, die Angststörung, das Virus, die soziale Isolation. Sein Mitbewohner, der sich selbst in seine Furcht vor Corona hineinsteigert und nicht mehr das Haus verlässt. Das Gefühl, im Job versagt zu haben. Die Frau, mit der Tom sich regelmäßig getroffen hat, will plötzlich nicht mehr. Zusätzlich zu seiner Angst erlebt er jetzt manchmal auch Panikattacken. "Mein Herz schlägt dann so schnell, dass ich glaube, ich habe gleich einen Herzinfarkt", sagt Tom. 

Christa Roth-Sackenheim sagt Anpassungssituationen seien besonders schwierig. Trennungen, Todesfälle, Jobverlust. Zwar habe eine Angststörung immer eine gute Aussicht auf Heilung, aber oft komme sie in Zyklen wieder. Eine Therapie helfe trotzdem jedes Mal wieder genauso gut.

Anfang Juli fährt Tom mit seiner besten Freundin U-Bahn, eine halbe Stunde nur, aber Tom fühlt sich bald, als verliere er die Kontrolle. Er senkt den Kopf, um sich auf nichts konzentrieren zu müssen als seine Angst. Er setzt Kopfhörer auf, um die Außenwelt auszuschließen. Eben war er noch fröhlich und jovial, jetzt verschlossen und abweisend. Das muss sie doch vor den Kopf stoßen. Er will sie nicht verlieren.

Denn viel ist von Toms Leben nicht mehr übrig. Immerhin hat er Zeit, sich Gedanken zu machen. Seine alten Freunde fordern das schon lange von ihm: Setz dich mit dem Scheiß auseinander, kümmer dich drum. Tom genießt erst mal, sich den Situationen entziehen zu können, die ihn triggern. Und doch braucht es jetzt nicht mehr viel, um die Angst zu besiegen.

Eines Tages sieht er eine Dokumentation bei YouTube. Es geht um Angststörungen und Tom erkennt sich wieder. Das ist doch die Gelegenheit, sich endlich zu offenbaren und anderen gleichzeitig ein Vorbild zu sein. Einer, der sich traut, darüber zu sprechen. Er schreibt den Dokumachern, bietet sich als Gesprächspartner an. Doch die haben keinen Bedarf. Also wendet sich Tom an VICE.

Für unsere Telefonate geht Tom in den Park, sein Mitbewohner weiß nichts von der Krankheit und soll auch nichts mitbekommen. "Der hat spitze Ohren", sagt Tom. Wer weiß, wie er damit umginge. Seine Stimme zittert am Telefon. Wenn andere Spaziergänger in Hörweite laufen, wird er leiser. Nach dem ersten Gespräch weint er, aber es hilft ihm, mit Fremden zu sprechen. Er merkt, dass es geht, und macht einen Termin bei einer Therapeutin, ein Erstgespräch nur, aber immerhin. 

Am Abend vor dem Termin erzählt er auch seiner besten Freundin davon. Er will, dass sie weiß, warum er so komisch war – in der Bahn und überhaupt. Die beiden reden, bis es spät wird. Sie hat jede Menge Verständnis. 

Das Gespräch mit der Therapeutin fällt ihm leicht, er hat seine Geschichte ja jetzt schon oft erzählt. Sie diagnostiziert ihm jetzt offiziell eine Angststörung und stellt ihm ein Zertifikat aus, mit dem er sich eine richtige Therapie suchen kann. Die Wartelisten dafür sind lang, aber nicht endlos. Mit einem bisschen Glück wird Tom dann zum letzten Mal von seinem Harndrang zur Unzeit erzählen müssen.

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