Von Chemtrails zu Morddrohungen: eine Verschwörungstheorie-Aussteigerin erzählt
Illustration: Sarah Schmitt

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Feminisme

Von Chemtrails zu Morddrohungen: eine Verschwörungstheorie-Aussteigerin erzählt

Stephanie Wittschier glaubte an Chemtrails, war Teil der Reichsbürgerbewegung und hat im Internet versucht, andere zu bekehren. Doch dann bekam sie Zweifel.

Stephanie Wittschier hat in ihrem Leben schon vieles geglaubt: an Aliens, die in Area 51 unter Verschluss sind, dass das Deutsche Reich nicht untergegangen und wir alle nur Angestellte sind, an die Illuminaten und—zuletzt—dass die herrschende Elite versucht, uns mit Chemtrails zu vergiften. Jahrelang war sie tief in der Verschwörungsszene. Bis sie ausstieg und sich der Aufgabe verschrieb, Außenstehende über das aufzuklären, was wirklich hinter „Chemmies" und selbsternannten Reichsbürgern steckt. Zusammen mit ihrem Mann Kai betreibt sie eineFacebook-Seite und einen Account bei Twitter, der sich „Die lockere Schraube" nennt. Dort posten die beiden mittlerweile regelmäßig verschwörungstheoretische Einträge aus den sozialen Netzwerken—und ziehen damit die Wut ihrer ehemaligen Verschwörungskollegen auf sich.

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Begonnen hatte Stephanies Reise in die Niederungen der Verschwörungsszene mit einer Dokumentation, die sich mit den Ungereimtheiten um die Anschläge auf das World Trade Center beschäftigte. „Danach ist sie direkt an den Rechner und hat Verschwörung und 11. September gegoogelt.", erklärt ihr Mann. Als ihr Interesse daran, hinter allem die vermeintlichen größeren Zusammenhänge zu begreifen, erst einmal geweckt war, ging es ganz schnell. „Dann fing sie an, von Eliten zu faseln. Illuminaten und so. Das war dann nicht mehr so spaßig, weil man auch nicht mit ihr reden konnte. Sie hörte nicht mehr zu, war für sachliche Gespräche überhaupt nicht mehr greifbar."

Leute, die dieselben Standpunkte wie sie vertreten, findet Stephanie im Internet. „Das war so", schreibt sie, weil sie das Interview lieber schriftlich führen möchte. „Ich hatte damals eine beste Freundin in der Verschwörungsideologieszene, mit der habe ich mich super verstanden. Wir haben an dasselbe geglaubt, waren im selben Forum unterwegs, konnten uns über alles unterhalten und waren meist derselben Meinung." Stephanie fühlt sich aufgehoben, unter Gleichgesinnten, die jeden Aufklärungsversuch von außen als lächerlich abtun: „Das sind dann vom System beauftragte oder bezahlte Leute, Schlafschafe. Nicht denkende Menschen."

Stephanie Wittschier war zu ihren Hochzeiten vor allem in der deutschen Chemtrail-Szene aktiv, in Facebook-Gruppen, im Forum Allmystery und auf YouTube. Ende August 2012 fing ihre beste Freundin dann allerdings an, nicht mehr alles zu glauben. Nachzufragen und dagegen zu sein, sich aus der gemeinsamen Gedankenwelt zu verabschieden. „Sie hat sich einfach gedreht, von einem Tag auf den anderen, um 180 Grad. Alle ihre Meinungen waren jetzt plötzlich andere", sagt die mittlerweile 35-Jährige. Danach hätten sie Wochen und sogar Monate diskutiert, bis auch Stephanie langsam anfing, vieles kritisch zu sehen. „Sie war meine beste Freundin, ich meine: Das konnte ich nicht einfach so beiseite schieben." Stephanie fängt an, Dinge zu hinterfragen, schiebt nicht mehr jeden Widerspruch unkritisch beiseite und wagt schließlich selbst den Ausstieg: „Im Sommer 2013 habe ich mich dann endgültig von diesem Schwachsinn losgesagt."

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Monate hat sie nach eigener Aussage damit verbracht, die Verschwörungsideologien zu hinterfragen und zum ersten Mal wirklich zu recherchieren: „Irgendwann habe ich gemerkt: Mann, deine beste Freundin hatte total recht. Ich war geschockt. Das ist der Moment, in dem du realisierst, dass du dich die ganze Zeit komplett zum Affen gemacht und viel Zeit und Geld investiert hast. Das war schrecklich. Ich habe mich gefühlt wie ein kompletter Idiot und so geschämt. Am liebsten hätte ich mich in einem Loch verkrochen. In dem Moment dachte ich an meine Familie, an meine Schwester, meinen Mann. Und was ich ihnen für Sachen aufgetischt hatte."

Stephanie gibt sich geläutert—und will ihr neues Wissen will jetzt in die alten Foren tragen. „Mir war es sofort wichtig, die Leute aufzuklären. Aber ich merkte schnell: Das wollen die gar nicht. Mal abgesehen von dem Allmystery-Forum, das sehr groß und sehr durchmischt ist, bleiben in den kleinen Gruppen und auf den Facebookseiten die Chemtrailer-Believer unter sich. Als ich anfing zu sagen: Leute, da stimmt wirklich was nicht, da sind die plötzlich richtig aggressiv geworden. Widersprüche will man nicht! Und da es ja zum Teil sogar meine alten Freunde waren, wussten die auch, wer ich bin, wer Kai ist und wo wir wohnen. Plötzlich tauchte im Gegenzug unsere Adresse mit Namen offen im Netz auf. Als Schlampe, Hure und Fotze wurde ich beschimpft", erzählt sie. „Ich solle mich raushalten und sei quasi ein Agent der Gegenseite, der herrschenden Eliten geworden."

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Ziemlich aufschlussreich für Außenstehende sind Stephanies Aufklärungsbemühungen dann, wenn sie erklärt, wie neue Verschwörungsmitstreiter angeworben werden: „Früher ging das bei uns so: Du sendest deinem ungläubigen oder unwissenden Gegenüber YouTube-Videos von langanhaltenden Kondensstreifen. Dann sagst Sachen wie: ‚Schau doch in den Himmel, es ist offensichtlich.' Man befasst sich dabei aber gar nicht genau mit der Materie oder den technischen Widersprüchen, sondern schreibt einfach irgendwas als Erklärung dazu, was sich nur möglichst plausibel, in sich geschlossen und sehr informiert anhört. Also wie Wissenschaft klingt. Und das lässt man dann in den Leuten arbeiten."

Illustration: Sarah Schmitt

Über ihren Ausstieg und die Aufklärungsversuche führt die 35-Jährige einen Blog, und verweist dort auf Protagonisten der Szene, schrieb ein Buch und gab Interviews. Die alten Freunde, sie waren gar nicht begeistert und fühlten sich bloßgestellt—von jemandem, der auch alle Namen und Kanäle kannte. Am Schluss habe es auch Morddrohungen gegeben, sagt Stephanie, und nur weil die im Internet stünden, könne man die doch noch lange nicht auf die leichte Schulter nehmen.

„Ein gewisses Drohpotenzial ist bekannt", sagt der Autor und Journalist Bernd Harder. Er ist Pressesprecher der GWUP—der „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e. V.", ein Zusammenschluss verschiedener Fachbereiche mit dem Ziel, Phänomene wie die Chemtrails „wissenschaftlich zu untersuchen". Die Szene zähle etwa 3000 Anhänger in Deutschland – „wobei die Protagonisten selbst sich als weltweite Bewegung bezeichnen", meint Harder. Weil diese Leute im Netz nur noch in ihren Gruppen, in ihrem Milieu und nur mit Gleichgesinnten kommunizierten, sagt er, und keinen relativierenden Kontakt mehr zur Realität hätten, würden sich die Teilnehmer zunehmend radikalisieren und somit auch aggressiver werden: „Diese Radikalisierung hängt auch von der persönlichen Betroffenheit ab, also vom Bedrohungspotenzial der eingebildeten Macht und der Gegner", so der Journalist. „Da sind Chemtrailer natürlich aggressiver, weil sie sich unmittelbar an Leib und Leben bedroht fühlen—und sich einer Verschwörung gigantischen Ausmaßes gegenübersehen, während Hohl- oder Flacherde-Gläubige offenbar eher der Überzeugung sind, einem Wissenschaftsskandal auf der Spur zu sein."

In Stephanies Empfinden ging es sogar noch weiter—weiter als Chemtrailer, die auf Demos die Presse oder Andersdenkende bedrohen: „Für mich war das rückwirkend betrachtet eine richtige Sekte", sagt sie. „Es war anfangs auch echt spannend, etwas Geheimes zu wissen, was andere nicht wissen—und dieses darüber aufklären zu können. Es war eine enge Gemeinschaft mit Regeln, Hierarchien und allem. Nachdem ich umschwenkte, merkte ich aber auch den Druck: Leute mit anderen Meinungen wurden aggressiv und meiner Meinung nach systematisch angegangen oder in wenigen Minuten gesperrt oder gelöscht, ich stand unter Beobachtung, und alles, was ich im Internet tat, wurde registriert, irgendwo gesammelt und aufschrieben. Ich finde, es gibt viele Parallelen zu Sekten wie beispielsweise Scientology—für mich ist das ein und dasselbe.

Von einer Sekte will der Soziologe und Kognitionswissenschaftler Andreas Anton vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg nicht sprechen. Er hat mit zwei Kollegen ein Buch über die „Soziologie des Verschwörungsdenkens" geschrieben. „Man sollte diese Menschen nicht generell pathologisieren und als Irre darstellen", findet er. „Das wurde schon bei den Theorien zum 11. September gemacht, und die Debatte verläuft dann zu oft nur entlang von Stigmatisierungen", meint Anton. Es gäbe durchaus Hierarchien und eine gemeinsame Zielsetzung, allerdings finde der Kontakt meist rein virtuell statt—weshalb es nicht den physischen Zwangscharakter einer Sekte habe, so der Soziologe. „Was sehr interessant in diesem Kontext ist: Wir finden auf beiden Seiten den Reflex, das Wissen des anderen jeweils beiseite zu schieben und als falsch abzutun. Bei Anhängern und Gegnern. Dabei beobachten wir: Je weniger Anhänger eine Theorie hat, und die Chemtrail-Fraktion ist eher klein, desto weniger gibt es auch eine offene Diskussion über Fakten, wie wir sie beispielsweise von den alternativen Ansätzen zum 11. September kennen", meint Anton. „Je mehr eine Theorie in der Nische ist, desto resistenter und unbeugsamer treten ihre Anhänger auf. Und das darf man nicht abtun: Die Ängste dieser Leute sind sehr real. Diese Menschen machen das tatsächlich nicht aus Spaß, sie fürchten sich—und das meinen sie auch todernst."

Wie todernst manche ihre oft belächelten Ängste nehmen, will Stephanie Wittschier aus erster Hand wissen: „Irgendwann liest du auch Sachen, da denkst du: Ist das euer Ernst? Kommentare von Verschwörungsideologen, die am liebsten sterben möchten, weil sie alles nicht mehr aushalten. Ankündigungen von Selbstmorden. Es gab sogar schon einen Aufruf eines Verschwörungsideologen auf seiner Pinnwand an die Illuminaten, dass sie ihn doch endlich umbringen sollen. Und da hört für mich alles auf. Das ist auch keine Meinung mehr, denn damit gefährden sie sich und andere. Es gibt einfach richtig Wahnsinnige in dieser Szene, und das sind eben nicht nur Leute, die irgendetwas friedlich glauben."

Heute versucht sie, ihre ehemaligen Freunde zu bekehren. „Im Prinzip ist es genau wie früher: Ich rede gegen eine Wand. Früher waren es meine Eltern, die meine Theorien nicht glauben oder wissen wollten, heute sind es die Chemmies und andere. Natürlich war ich damals auch überzeugt, Fakten zu haben. Nur heute weiß ich: Diese Fakten jetzt, die sind für jeden und ohne weiteres zu überprüfen." Das andere, die Theorien, das habe nur etwas mit Glauben zu tun gehabt.