Wofür brennst du, Nico Marchetti (ÖVP)?
Fotos: Christoph Schattleitner | VICE Media

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Schon wieder Wahlen!!!

Wofür brennst du, Nico Marchetti (ÖVP)?

7 Stunden, 10 Bier und ein offenes Gespräch über den Unterschied zwischen richtiger und populärer Politik, die eigene Verletzlichkeit – und die Werte der ÖVP.

Das ist der dritte Beitrag aus unserer Reihe "[Wofür brennst du?](https://www.vic Das ist der dritte Beitrag aus unserer neuen Reihe )", in der wir uns mit interessanten Menschen betrinken. Mehr Gespräche findest du unter: "Wofür brennst du, Julia Herr (SPÖ)?" und: "Wofür brennst du, Claudia Gamon (NEOS)?"

Es ist 17 Uhr in der eher trostlosen Troststraße im 10. Wiener Gemeindebezirk. Eine Gruppe junger Frauen mit Kopftuch steht vor einer Kebab-Bude, die auf einer großen Plakatwand "Keksen" (sic!) anpreist. Die ÖVP hat hier 6,1 Prozent bei der Gemeinderatswahl 2015 errungen. In Favoriten ist die Volkspartei schwächer als die Grünen.

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Nico Marchetti, der in einem britischen Pub auf mich wartet, versucht darüber zu lachen. Solche schier aussichtslosen Herausforderungen würden ihn anspornen, sagt er – ist doch geil. Deshalb läuft er im Wahlkampf so viel; der Einzug ist eher "ein sportliches Ziel". Deshalb wollte er die Favoritener ÖVP übernehmen. Deshalb hätte er nicht gezögert, dieses, ähm, besondere Interview mit mir zu machen.

Die Transparenz-Box: VICE hat alle jungen Politiker, die wahrscheinlich dem nächsten Nationalrat angehören, zu einem Gespräch in ihr Lieblingslokal geladen. Bis auf die FPÖ, die auf die Anfragen bisher nicht reagiert hat , haben alle Parlamentsparteien Interesse bekundet. Nico Marchetti (27) ist ÖVP-Bezirksobmann in Wien Favoriten und Chef der JVP Wien. Marchetti ist für den Bundesobmann der JVP, Stefan Schnöll, der aus Zeitgründen kurzfristig absagen musste, eingesprungen. Marchetti und der Autor hatten bisher noch keinen Kontakt. Marchetti forderte keine Freigabe des Gesprächs.

Ohne es auszusprechen, sind wir uns über das Setting wohl einig; VICE steht wahrscheinlich nicht ganz oben auf der Beliebtheits- und Wichtigkeitsskala der ÖVP. Zwischenzeitlich zweifelte ich sogar, ob aus dem Gespräch überhaupt etwas wird. Anfangs bekam ich von der Partei Vormittagstermine, obwohl es eigentlich Abendtermine in der Lieblingsbar sein sollten. Dann wurde der Termin mit JVP-Obmann Stefan Schnöll von Mitte September kurzfristig auf Mitte Oktober verschoben, der dann wiederum am gleichen Tag gecancelt wurde.

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Wir bestellen eine Runde Bier und Marchetti, der ganz in der Nähe aufgewachsen ist, empfiehlt mir die Craft-Biere. Er hält die Erwartungen gleich zu Beginn niedrig: "Wenn von diesem Abend bleibt, dass du das Mabel's No90 magst, bin ich zufrieden." Das sei nicht schwierig, erkläre ich, immerhin war ich während meines Auslandssemester in England Mitglied eines Vereins, der wöchentlich über Bier diskutierte. Marchetti lacht und nach gut 30 Minuten ähnlicher Beiläufigkeiten fragt er: "Wie läuft das jetzt hier eigentlich?" – "Genau so", sage ich. "Genau so."

Nach vier Bieren pro Person, um 21:34 Uhr, schickt Marchetti dieses Selfie an Sebastian Kurz. "Schnapsideen" war übrigens einer der vielen tollen Vorschläge für dieses Format.

VICE: Hast du heute eh keinen Stress mehr?
Marchetti: Nein, ich hab heute keine Termine mehr. Wenn irgendein TV-Duell ist, ist's mir auch wurscht, weil ich kann's schon nimmer sehen. Es ist einfach so nervig. Ich kann den Namen "Silberstein" nicht mehr hören. Auf der Straße spricht mich dazu übrigens fast niemand darauf an. Für mich ist das eine Polit-Bubble-Thema. 80 bis 90 Prozent ist es wurscht. Und deswegen habe ich auch entscheiden, dass ich zu dem Thema nichts auf Facebook poste.

Ich frage, ob das eine selbstkritische Beobachtung ist und er erklärt die ÖVP-Position dazu (wer will, kann das ungefähr überall nachlesen), ehe wir darüber diskutieren, was das in weiterer Folge bedeutet.

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Allein beim Wort Skandal steigen die Leute aus: "Ich hab's eh immer gewusst, die sind alle böse." Das ist das Bild, das transportiert wird. Für mich ist auch House of Cards kein Vorbild. Da wird ein Bild von Politik vermittelt, das niemand wirklich ernsthaft cool finden kann. Dafür muss man sich eigentlich genieren.

Ich finde, dass die verstärkte Berichterstattung über Machtfragen auf die wirtschaftliche Struktur zurückzuführen ist; sie werden stärker geklickt. Und wenn man sich – wie fast alle Politiker – mehr Berichterstattung über Inhalte wünscht, könnte man ja die Rahmenbedingungen ändern.
Ja, aber auch die Medienpolitik ist mit einer Machtfrage verknüpft. Ich meine, auflagenstarke Zeitungen, die jetzt vielleicht nicht unbedingt Qualität in Reinform bieten, sind natürlich trotzdem interessanter.

Man kann ja Qualität fördern.
Eh, aber dann ist immer noch die Frage: Wie viele Leute erreicht's? Der Nutzen ist natürlich höher, wenn mehr Leute es lesen. Aber ob das jetzt moralisch immer der richtige Weg ist, darüber kann man sicher diskutieren, ja. Wenn ich persönlich eine super Hintergrund-Story zur Europapolitik lesen will, dann lese ich Die Zeit oder FAZ.

Die Europa-Berichterstattung ist in Österreich vielerorts unter aller Sau. Mir kommt vor, einige Redakteure wissen nicht genau, wie die EU-Institutionen heißen und welche Aufgaben sie haben. Geschrieben wird jedenfalls immer nur "Brüssel will".
Ja eh. Was mich extrem aufregt – und da nehme ich meine eigene Partei nicht aus – ist, dass Minister Dinge entscheiden und dann nach Österreich kommen und sagen: "Die blöde EU hat das schon wieder verordnet." Zum Beispiel die Allergen-Verordnung: Das ist ja ein Ding, wo wir auch zugestimmt haben. Und in Österreich putzt man sich ab. "Brüssel hat beschlossen und wir können da nix machen", heißt es. Aber das stimmt einfach nicht. Ich finde, man muss schon auch den Mut haben und zu seiner Verantwortung stehen. Sonst brauchen wir uns am Ende des Tages nicht wundern, warum die EU den Ruf hat, den sie hat.

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Wir sprechen noch ein wenig über die "Krisen" der EU, ehe es um die Handlungsunfähigkeit in der Flüchtlingsfrage geht.

Jede Partei – sogar die FPÖ – sagt, dass wir eine europäische Lösung brauchen. Aber es gibt keine. Da verstehe ich den Frust auf die EU schon.

Man sagt zwar vielleicht, dass man eine europäische Lösung will. Aber dann macht man – wie die SPÖ – beim EU-Resettlement-Programm nicht mit oder – wie die ÖVP – man macht eine Balkan-Konferenz, ohne die EU irgendwie einzuweihen.
Letzteres ist passiert, weil es keine europäische Lösung gibt. Und die gibt's ja nicht wegen uns nicht, sondern vor allem nicht wegen Polen, Tschechien und der Slowakei, die das permanent blockieren; in vielen Fragen gibt es ein Einstimmigkeitsprinzip. Und auf etwas zu warten, was nie kommen wird, ist auch unbefriedigend. Also sagt man aus der Not heraus – wirklich, es ist kein Wunsch gewesen von uns – dass man eine nationalstaatliche Lösung findet. Auch die Geschichte mit der Balkanroute ist irgendwie verständlich, weil sich die Bevölkerung Lösungen erwartet. Und wenn wir von einer Utopie, die natürlich ideal wäre, aber nicht da ist, befriedet man ja niemanden.

Sorry, aber damit macht man's sich schon ziemlich einfach. "Die EU tut nix, deshalb haben wir den Freibrief, alles zu machen", ist schon …
Ja, aber was ist die Alternative? Gar nichts zu tun?

Naja, das ist doch Politik, oder? Andere von sich – auch auf europäischer Ebene – zu überzeugen versuchen.
Ja, viel Erfolg! Es gibt von den EU-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn ganz klare Positionen, wo ich nicht glaube, dass Österreich was dran ändern könnte.

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Worin unterscheidet sich die österreichische Außenpolitik dann von der polnischen oder ungarischen? Weil, die Balkankonferenz oder dieser Hickhack mit Italien ist ja auch ein Alleingang.
Wir haben am Anfang ganz klar für die europäische Lösung gearbeitet. Aber irgendwann hat es die Erkenntnis gegeben, dass es einfach keine Mehrheit für die europäische Lösung gibt.

Deshalb pfeift man auf Europa.
Nein.

Doch, schon.
Das Ziel ist ja immer noch da. Der größte Punkt war ja, dass die Leute kein Vertrauen mehr in den Rechtsstaat hatten. Es wurden ja permanent alle möglichen Regeln und Gesetze gebrochen. Das werfe ich niemandem vor. Hätte Heinz-Christian Strache 2015 die absolute Mehrheit gehabt, hätte er es nicht aufhalten können. Es war nunmal so. Und es hat jeder nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Nur: Was übrig geblieben ist, ist dass die Leute das Vertrauen in den Grenzstaat verloren haben. Das finde ich schon problematisch, weil ich glaube, dass das auch ein Motor für Politikverdrossenheit oder Hinwendung zu Extremen ist. Ich finde übrigens auch, dass die Diskussion teilweise viel zu akademisch geführt wird.

Wann wurde die Flüchtlingsdiskussion zu akademisch geführt? Das wäre mir noch nicht aufgefallen.
Ich wohne ja am Hauptbahnhof, wo viele Flüchtlinge ankamen. Und ich hab mich wirklich damit auseinandergesetzt. Ich wusste, warum und woher die Menschen kommen und was die Geschichten dazu sind. Aber es setzt sich halt nicht jeder im Detail auseinander. Die Leute sehen die Situation – in der Nacht kommen Busse, in denen hunderte oder sogar tausende Leute sitzen –, und sind verunsichert. Und ich finde, das ist durchaus etwas, das man auch verstehen muss.

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Auch auf VICE:


Soll man diesen Menschen also nicht helfen, nur aus Angst, dass ein paar Leute das nicht verstehen?
Darum geht es nicht, es wurde ihnen ja geholfen. Ich find's halt wichtig, dass man auch solche Stimmungen wahrzunehmen versucht. Die Politik ist der Platz, wo Stimmungen, Themen und Diskussionen, die in der Bevölkerung vorhanden sind, stellvertretend geführt werden. Und wenn die Leute das Gefühl haben, sie finden sich da nirgends mehr wieder, dann kann's passieren, dass diese Diskussionen irgendwo außerhalb geführt werden.

Da sind wir jetzt beim Spannungsverhältnis zwischen "Was ist populär?" und "Was ist richtig?" angekommen. Ich finde, dass in der Flüchtlingsfrage die Leute nicht überzeugt wurden, das Richtige zu tun. Nämlich jenen, die vor Krieg und Elend fliehen, zu helfen.
Wir haben denen ja geholfen.

Wenn wir jetzt vom September 2015 reden: Da ist staatlich sehr wenig passiert. Das war die Zivilgesellschaft. Die Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) ist erst nach zwei Wochen das erste Mal am Bahnhof gewesen.
Ich schicke voraus, dass das eine Sondersituation war. Ich finde, dass wir extrem viel geholfen haben und extrem viele aufgenommen haben und überdurchschnittlich im europäischen Vergleich Verantwortung übernommen haben. Das ist mein Bild, du kannst ja ein anderes haben.

Was hältst du von der Einschätzung, dass die "Willkommensklatscher" Schuld sind? Also, dass sie ein "Pull-Faktor" für mehr Flüchtlinge waren?
Ich würde das Wort "Willkommensklatscher" nie in den Mund finden, weil ich es respektlos finde.

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Verwendet Sebastian Kurz aber andauernd.
Ja. Ich bin trotzdem ich. Und ich fang anders an: Ein paar Leute, die vor Ort aktiv waren, haben mir die Schlepper-Videos gezeigt. Das sind Bilder von Österreich, Deutschland und Schweden, wo bildlich gesprochen Milch und Honig fließt.

Wir reden noch eine zeitlang weiter, ehe wir uns mit der 2. Runde, die die Kellnerin vor 10 Minuten gebracht hat, zuprosten. Ich rege mich über die Diskussion über "Wirtschaftsflüchtlinge" auf, weil die Lösung dafür eh System ist: Wer seine Verfolgung im Asylverfahren nicht nachweisen kann, wird ohnehin abgeschoben, argumentiere ich. Marchetti weist darauf hin, dass es sehr wohl Abzuschiebende gibt, die wegen fehlender Abkommen mit dem Heimatstaat nicht abgeschoben werden.

Für mich ist es dramatisch, wenn ein Mensch überhaupt keine Perspektive hat – und es ist völlig wurscht, welche Herkunft er hat. Wenn du das Gefühl hast, dass alles nur schlimmer wird, was löst das aus? Mich macht das extrem betroffen.

Marchetti will über die fehlenden Deutschkenntnisse von Schülern reden.

Ich hake doch noch schnell beim Vorigen ein, weil ich es für einen sehr schönen, ehrlichen Moment halte. Du sagst, es macht dich fertig, wenn es Leute in unserem Land gibt, die keine Perspektive haben. Wie kannst du dann argumentieren, dass man Leuten mit Asylstatus die Mindestsicherung halbiert? Die ÖVP will die Mindestsicherung, die derzeit je nach Bundesland zwischen 830 und 924 Euro ausmacht, auf 365 Euro plus optionalen Integrationsbonus von 155 Euro kürzen …
Ich würde es jetzt nicht nur auf Asylwerber beschränken. Ich glaube, das ist generell…

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Der Vorschlag der ÖVP, die Mindestsicherung zu kürzen, bezieht sich aber nur auf Asylberechtigte.
Ja, wobei es da so einen Integrationsbonus gibt, wo sie mehr bekommen, wenn sie gewisse Integrationsziele erfüllen.

Sie kriegen ungefähr die Hälfte von dem, was ein Österreicher bekommt. Das ist ja Programm, oder?
Also ich fang bei einem anderen Punkt an, weil ich glaube, dass der viel wesentlicher ist.

Marchetti will noch immer über fehlende Deutschkenntnisse reden und holt weit und lange aus. Die Zusammenfassung: Wenn migrantische Kinder dem Unterricht nicht folgen können, ist das "eine dramatische Sache" – auch, weil sie sich mit Mitschülern nicht unterhalten können. Marchetti will für solche Leute Deutschförderklassen, bevor sie ins Regelwesen wechseln. Und das sei "um Gottes Willen" nicht rechts, sondern die "sozialste Maßnahme überhaupt".

Ich hab dich ausreden lassen, du hast deinen Punkt angebracht. Aber eigentlich haben wir von etwas anderem geredet.
Aber ist die Mindestsicherung eine dauerhafte Perspektive?

Natürlich nicht.
Das ist ja der Punkt.

Provokant gesagt: Dann sollen sie die Mindestsicherung ganz verlieren oder was? Die ist ja dazu da, um auf die Beine zu kommen und in das eigene Leben zu starten. Und wenn du ihnen nur die Hälfte von dem Stockerl gibst, von dem sie los springen sollen …
Ich finde, wir müssen Gratis-Sozialleistungen auch im europäischen Kontext sehen. Und …

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Nein, bevor wir wieder abdriften: Mit der Kürzung der Mindestsicherung nimmst du ihnen die Perspektive. Ja oder nein?
Das ist aber für mich der entscheidende Punkt und das ist kein Ausweichen. Natürlich wird verglichen: In welchem Land bekomm ich wie viel? Da müsste es viel mehr Gleichheit in der Europäischen Union geben. Und ich finde auch den Ansatz richtig, dass man auch Integrationsziele hinschreibt und sagt: Ok, wenn man die erfüllt, bekommt man mehr.

Nimmt man ihnen die Perspektive?
Wie gesagt, für mich ist die Mindestsicherung eine Überbrückung und keine langfristige Perspektive. Und auch in dem Zusammenhang muss man einfach ehrlich sein. Und die ehrliche Antwort ist, dass wir Leute nicht dauerhaft in der Mindestsicherung haben wollen - egal woher sie kommen. Das ist doch nicht das Ziel…

Die Leute gehen schneller aus der Mindestsicherung raus, wenn man sie halbiert? Ist das das Argument?

Marchetti pocht weiter auf den unterschiedlichen Vergleich, ich wende ein, dass unterschiedliche Sozialsysteme in unterschiedlichen Lohnsystem nachvollziehbar seien. Marchetti verweist auf die kanadischen Einwanderungsbestimmungen, die ebenfalls Leistung erfordern. "Man muss auch etwas leisten", sagt er in Richtung Flüchtlinge.

Ein Asylwerber darf doch nichts leisten. Die ÖVP blockiert den Arbeitsmarkt für Asylwerber.
Ich halt es für einen extrem positiven Punkt, dass Asylwerber sich – wie der Vorschlag aus Oberösterreich – ehrenamtlich engagieren.

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Ich unterbreche etwas unfreundlich.

Aber sind wir uns ehrlich, das ist doch alles Kosmetik oder Blödsinn. Ich halte dich nicht für einen rechten Recken. Also, was soll es bringen, wenn man denen die Mindestsicherung kürzt? Das ist ja eines der Hauptprogramme der ÖVP in diesem Wahlkampf.
Hauptprogramm? Das Programm hat 270 Seiten.

"Können wir auch mal über etwas anderes reden? Wir reden schon seit einer Stunde über Flüchtlinge."

Schon, aber einer von drei Teilen ist der sogenannten "Neuen Gerechtigkeit" gewidmet. Das ist einer der Eckpfeiler, oder nicht?
Ja. Ich will mich da auch nicht herauswinden. Ich finde, der wichtigste Punkt, hinter dem ich auch zu 100 Prozent stehe, ist, dass man einfach durch die Erfüllung der Integrationsziele einen wesentlichen Teil wieder bekommt. Wir können auch über etwas anderes reden, als über Flüchtlinge.

Unangenehmes Thema?
Nein, aber ich hab das Gefühl, wir drehen uns im Kreis, ich hab dir gesagt, wie ich dazu steh. Und ich werd vielleicht dich nicht zu 100 Prozent glücklich machen.

Nein, es geht nicht darum, mich glücklich zu machen. Es ist nur der Punkt, den ich im ÖVP-Wahlprogramm am wenigsten verstehe. Weil ich finde, der hat nichts mehr mit christlich-sozialen Werten zu tun. Die "Neue Gerechtigkeit" ist für mich Rechtspopulismus pur. Ich verstehe auch nicht, was – außer Show – damit bezweckt werden soll. Im Staatshaushalt ist das ein Pipifax-Posten. Die Mindestsicherung, die ja nicht nur Flüchtlinge, sondern viele andere Bedürftige auch beziehen, macht 0,6 Prozent aus – nicht vom gesamten Staatshaushalt, sondern von den Sozialausgaben. Was bringt's da, herum zu kürzen?
Ich würd mich nur wiederholen. Man kann auch Respekt vor anderen Meinungen haben. Das ist eine Eigenschaft, die in der Politik viel zu kurz kommt. Also ich find, in einer Debatte, wo man nicht einer Meinung ist, kann man oft mehr lernen, als in Debatten, wo man sich einer Meinung ist. Aber können wir auch mal über etwas anderes reden? Wir reden schon seit einer Stunde über Flüchtlinge.

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OK, dann reden wir darüber, wie sehr du eigentlich aus der Parteiposition ausscheren darfst.
Ich darf alles.

Mir kommt vor, du würdest gern, aber es geht grad nicht.
Das ist deine Einschätzung.

Für's Protokoll: Er hat gelächelt.
Ich würde generell sagen, dass kein vernünftiger Mensch die Meinung einer Partei zu 100 Prozent teilen kann. Aber ich glaube, es funktioniert auch nur, wenn man wirklich für die gemeinsamen Sachen kämpft. Es bringt ja nichts, wenn jeder was anderes sagt – grad im Wahlkampf, wo man auch klar darstellen muss, wofür eine Partei steht. Und ich bin Vertreter der ÖVP, deswegen stehe ich auch dafür. Das heißt aber nicht, dass man seine eigenen Überzeugungen aufgeben muss. Ich bin 80 bis 90 Prozent einverstanden mit dem, was meine Partei fordert. Wenn ich es ins Parlament schaffe, könnte ich nicht meine Hand ins Feuer legen, dass ich immer bei allem, was die ÖVP tut, mitstimme.

Wo hättest du bei den Dingen, für die die ÖVP in letzter Zeit gestimmt hat, nicht mitgestimmt?
Du hast ja offensichtlich eh schon gegoogelt, dann kannst du es mir ja gleich sagen.

Dazu wollte ich später kommen. Ich will es nicht sagen, weil es vielleicht noch mehr gibt.

Marchetti ist übrigens für die Ehe für alle und hat eine Debatte über die Legalisierung von Cannabis eröffnet. Er erklärt sein grundsätzliches Verständnis dazu, später weiterzureden. Er wolle jedenfalls keine Politik machen, die er später einmal bereut. Innerparteilichen Widerstand inhaltlicher Natur, der nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen wird, hält er deshalb für "gesund". Auch, wenn er für seine Partei unkonventionelle Dinge fordere, sei er sich seiner Partei und Position bewusst.

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Weil ich wollte immer in einer Partei der Mitte sein, in einer Partei, die Verantwortung trägt und wo man etwas umsetzen kann. Diese Breite macht es natürlich auch schwierig, für Positionen, die derzeit speziell sind, sofort eine Mehrheit zu erringen. Aber ich find's sinnvoll, dass man auch daran arbeitet und versucht, etwas weiterzubringen. Weil ich glaub, wenn man bei einer der drei großen Parteien intern Dinge durchbringt, kann man das Land sehr viel schneller verändern, als wenn man es als kleine Oppositionskraft versucht.

Das sei der Grund, warum Marchetti in der ÖVP und nicht bei einer anderen Partei ist. "Trinken wir mal", sage ich nach dieser langen und konzentrierten Auseinandersetzung. Wir unterhalten uns über verschiedene Geschmäcker im Craft-Bier-Bereich. Marchetti erklärt, dass Biergläser deshalb so unterschiedlich ausschauen, weil sie Einfluss auf den Geschmack des Bieres haben sollen und die Produzenten darum eigene Designs entwickeln.

"Ich steh total auf Leute, die sich für Details interessieren", sagt er passenderweise dazu. Er selbst kann sich für Gewürze, die er mit dem "letzten zusammengekratzten Geld" am Naschmarkt kauft, sowie für alle Staffeln von Columbo begeistern. Wir bestellen noch eine Runde Bier und endlich den Bauerntoast. "Du wirst es nicht bereuen", sagt Marchetti dazu. "Das sind die schönen Momente des Wahlkampfs", sage ich, als das geile Teil eintrifft.

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Wir reden über Vergangenes und Anfänge. Ich erzähle, dass ich in seiner Zeit als Bundesschulsprecher Schulsprecher meiner Schule war und bei der Landesschulsprecherwahl von der ÖVP-nahen Schülerunion zum Saufen vor dem Wahltag eingeladen wurde (ich habe abgelehnt). Das sei nicht auf seinem Mist gewachsen, lacht Marchetti, sondern immer schon so gewesen. Und dann wird er erstaunlich persönlich.

"Ich gestehe: Ich hab keine dicke Haut."

Ich war in meinen Anfängen relativ schüchtern. Du musst dir das vorstellen: Da stehen tausende Leute vor dem Parlament, die erwarten, dass du auf den Truck steigst und etwas sagst. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht und ich hab gedacht: "Oh mein Gott, was tust du da?" Auch als Bundesschulsprecher hab ich mir gedacht: "Kannst du das wirklich?" Und dann hab ich mir gedacht: "Ok, scheiß drauf, das mach ich jetzt."

Und genau diese Scheiß-drauf-Momente, haben die besten Entscheidungen in meinem Leben gebracht. Ich sage das auch immer bei Schuldiskussionen: Keiner ist der geborene Politiker. Keiner ist sich zu 100 Prozent sicher. Mir gefällt der Spruch: Wenn du dich nicht entscheiden kannst, entscheidet sich auch niemand für dich. Das begegnet mir auch jedes mal auf der Straße, wo du als Politiker pauschal für alles verantwortlich bist. Das ist am Anfang total schwierig. Aber ich finde die Erwartung vollkommen berechtigt.

Ich nicht. "Die Politik" wird so oft für Dinge verantwortlich gemacht, wofür die einzelnen Beteiligten wenig Einfluss haben.
Ich hab mal zwei Sommer lang in einem Möbelhaus gearbeitet. Und wenn etwas in der falschen Farbe bestellt worden ist, habe ich als Lagermitarbeiter es trotzdem abbekommen. Wenn ich heute am Reumannplatz stehe und Leute mich mit meiner Partei konfrontieren, ist das nichts anderes.

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"Ich wünsche mir, dass Julia Herr in den Nationalrat kommt."

Und gleichzeitig reden Politik und Medien immer davon, dass wir uns trauen sollten Wahrheiten auszusprechen. Auf Platz 1 steht da meiner Meinung nach in vielen Situationen: "Ich weiß es nicht".
Politik ist ein heikles Terrain. Deine Konkurrenten lauern darauf, dass du ein falsches Wort sagst. Ich versuche, das anders zu machen. Wenn ich das Grundgefühl habe, mein Gegenüber – egal welcher Partei – ist vernünftig und will in irgendeiner Form etwas Positives, dann dreh ich ihm nicht das Wort im Mund um. Es gibt viele Politiker, mit denen ich inhaltlich nicht übereinstimme. Mit Julia Herr (SJ-Vorsitzende, Anm.) zum Beispiel stehe ich oft diametral gegenüber, aber wir pflegen einen guten Umgang. Ich wünsche mir, dass sie in den Nationalrat kommt. Ich unterstelle grundsätzlich jedem Politiker - und das ist sehr naiv -, dass er etwas Positives will. Oft ist es nicht so. Aber ich glaube, dass es oft genug so ist. Ich will der Letzte sein, der jemandem einen Strick aus irgendwas dreht.

Beruht das auf Gegenseitigkeit?
Ich hab schon viele Erlebnisse gehabt, die mich sehr betroffen gemacht haben. Man sagt ja, in der Politik braucht man eine dicke Haut. Ich gestehe: Ich hab keine dicke Haut. Ich nehme mir gewisse Sachen wirklich zu Herzen. Wenn mich jemand angreift, auf Facebook diffamiert oder auf der Straße anspuckt, anrempelt oder das Haxl stellt, beschäftigt mich das. Das geht nicht spurlos an mir vorbei. Aber ich will mir das auch bewahren. Das Letzte, was ich will, ist abzustumpfen. Mir ist lieber, ich hab keine dicke Haut und ich spüre noch, was in meiner Umgebung passiert, als dass ich mich abschotte.

"Man glaubt immer, Politiker sind wie Comicfiguren oder Superhelden, die alles überleben und keine Gefühle haben. Nein, wenn man einen Politiker verletzt, dann blutet er wirklich."

Was tut weh?
Womit ich gar nicht umgehen kann, ist, wenn mich jemand anschreit. Ich erwarte mir einen gewissen Grundrespekt und davon gehe ich auch nicht runter. Wer diese Grenze überschreitet, ist bei mir unten durch. Egal, ob das ein Parteifreund, ein Gegner oder ein Bürger ist. Man glaubt immer, Politiker sind wie Comicfiguren oder Superhelden, die alles überleben und keine Gefühle haben. Nein, wenn man einen Politiker verletzt, dann blutet er wirklich. Wir sind alle Menschen.

Schade, dass es im politischen Geschäft kaum Raum gibt, Gefühle zuzulassen.
Das ist nicht nur in der Politik so, sondern in vielen Lebensbereichen. Scheitern wird dir in keinster Weise verziehen – vor allem in Österreich. Das hemmt natürlich, Risiken einzugehen. Man sollte auch in der Politik scheitern dürfen. Das wäre für die politische Kultur sehr gut. Ist ein naiver Wunsch. Ich glaub nicht, dass das passiert. Aber träumen darf man ja noch.

Ich find's schön, dass du bereits die Begriffe "pathetisch", "naiv" und "träumen" in den Mund genommen hast, weil da will ich eigentlich ein bisschen hin. Es heißt immer: diese linken Träumereien. Aber wovon träumen eigentlich Rechte?
Das musst du Rechte fragen, ich bin nicht rechts.

Warum bist du nicht rechts?
Weil es keine Ideologie ist, die ich vertrete.

Was bist du dann?
Ich befinde mich politisch in der Mitte.

Naja, das sagt jeder von sich. Ich hab ja auch kein Problem mit Rechten, genauso wenig wie mit Linken. Das ist eine normale politische Begrifflichkeit.
Es war immer Anspruch, dass ich politisch in der Mitte stehe.

Ok, aber du bist in einer rechten Partei.
Seh ich auch anders.

Das geht noch eine Weile so weiter. Marchetti sieht sich in der Mitte. Der Frage, ob die ÖVP mit Sebastian Kurz eher nach rechts als nach links gerückt ist, weicht Marchetti aus. Wir versuchen zu klären, was konservativ, liberal, rechts und christlich-sozial an der ÖVP ist. Marchetti hält es für christlich-sozial, wenn sich jeder Mensch in der Gesellschaft entfalten kann und der Einzelne Eigenverantwortung übernimmt und einen Beitrag leistet. Ich erkläre, dass die Prinzipien der Christlichen Soziallehre meiner Ansicht nach das genaue Gegenteil nahe legen.

Wir bestellen noch eine Runde und reden über unser Privatleben. Eine Bekannte, die mir beim Transkribieren geholfen hat, umschreibt diesen Abschnitt mit "Schmeicheleinheiten zur Person gegenseitig". Marchetti sagt irgendwann: "VICE ist auch ein gewisses Risiko" und irgendwie ist dieser Satz ohne Kontext um Welten lustiger. Und ich sage ernsthaft den Satz: "Bei genau diesem Punkt sind wir vor zwei Stunden abgebogen." Dann kommt sehr viel Wiederholung, die wir wohl aufgrund des Alkoholpegels beide nicht mehr wirklich bemerken.

Nach Stunde 5 oder 6 fragt Marchetti: "Können wir das mal ausmachen?", und deutet auf das Aufnahmegerät. Wir bestellen zwei mal Wasser und reden noch eine gute Stunde vertraulich. Zwei Dinge, die ich davon veröffentlichen darf, kritzle ich in kaum erkennbarer Schrift auf meinen Notizblock. Kurz nach Mitternacht torkeln wir aus dem Pub. Die letzte Bahn ist schon weg, wir teilen uns ein Taxi. Marchetti sagt: "Ich bin schon sehr gespannt, was rauskommt. Ich weiß nämlich nicht mehr, was wir geredet haben."

Christoph auf Facebook und Twitter: @Schattleitner

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