In der Theorie klingt es so simpel: Wer abnehmen möchte, muss einfach mehr Kalorien verbrennen, als er zu sich nimmt. Darum zählen viele Menschen beim Essen penibel Kalorien, unterstützt von Abnehm-Apps und Bewegungs-Trackern. Denn gerade diese technischen Hilfsmittel versprechen präzise Zahlen: Man kann live mitverfolgen, wie sich die eigene Kalorien-Bilanz mit jeder geknabberten Salzstange und jeder gelaufenen Treppenstufe verändert.
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Auch die Professorin für Ernährungswissenschaften der New York University, Marion Nestle, erklärt, dass man theoretisch jeden Tag bei McDonalds essen und trotzdem abnehmen könnte – vorausgesetzt, man verbrennt im Gegenzug genügend Kalorien. Trotzdem bleibt bei vielen Menschen der gewünschte Effekt in der Praxis aus, obwohl sie rein rechnerisch alles richtig machen.Folgt Motherboard auf Facebook, Instagram, Snapchat und TwitterDafür gibt es einen einfachen Grund: Die Zahlen, mit denen dein Fitness-Tool rechnet und die Kalorienangaben, die auf der Verpackung deines Schokoriegels stehen, sind im besten Fall gut geschätzt. Tatsächlich kommen Wissenschaftler immer häufiger zu dem Schluss, dass einige dieser Kalorienangaben komplett falsch sind. Außerdem gibt es abgesehen vom Kaloriengehalt noch viele weitere Faktoren, die beeinflussen, ob wir zunehmen oder nicht.Unsere heutigen Diät-Apps und Fitness-Tools stützen sich auf jahrhundertealte Werte und Messmethoden. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte der französische Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier einen dreiwandigen Metallbehälter, der gerade groß genug für ein Meerschweinchen war. Die Zwischenwand des Behälters war mit Eis ausgekleidet, unter dem Behälter befand sich eine Auffangschale. Da Lavoisier wusste, wie viel Energie man braucht, um Eis zu schmelzen, konnte er an der Menge des Tauwassers ablesen, wie viel Wärme das Tier im Inneren abgegeben hatte. Was der Wissenschaftler zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Indem man die Hitze misst, die das Meerschweinchen abgibt, kann man auch errechnen, wie viel Energie es aus seiner Nahrung verwerten konnte.Eine modernisierte Version von Lavoisiers Messgerät, das inzwischen als Kalorimeter bekannt ist, wird auch heute noch in Forschungseinrichtungen wie dem Beltsville Human Nutrition Research Center in den USA angewandt. Allerdings wird hier der Energieverbrauch von Menschen und nicht von Nagetieren untersucht: Versuchspersonen halten sich Tag und Nacht in einem kleinen Raum auf, in dem sie schlafen, essen, zur Toilette gehen und auf dem Laufband schwitzen. Sensoren in der Wand messen permanent, wie viel Energie, also wie viele Kalorien, verbrannt werden. Denn grob gesagt entspricht eine Kalorie der Wärme, die gebraucht wird, um die Temperatur von einem Kilogramm Wasser um ein Grad Celsius zu erhöhen. Die Sensoren messen, wie viel Sauerstoff verbraucht und wie viel Kohlendioxid ausgeatmet wird. Da die Wissenschaftler wissen, wie viel Energie für die Umwandlung in Kohlendioxid gebraucht wird, können sie beispielsweise ausrechnen, dass ein Mensch, der 15 Liter Kohlendioxid ausatmet, 94 Kalorien an Energie verbraucht hat.
Was unterkühlte Meerschweinchen mit unserer Ernährung zu tun haben
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Mit dieser Methode haben die Forscher über die Jahre unzählige Daten erhoben: Sie wissen, wie viele Kalorien eine 55 Kilogramm schwere Frau verbraucht, wenn sie mit einer Geschwindigkeit von sechs Stundenkilometern joggt. Oder wie viele Kilokalorien ein sportlich wenig aktiver 60-Jähriger Mann zu sich nehmen muss, um seinen Tagesbedarf zu decken. Auf derartigen Durchschnittswerten solch präziser Messungen bauen die Fitness-Apps und Kalorientabellen dieser Welt auf.
Unsere Kalorienberechnung beruht auf verbranntem Kot
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Wie viele Kalorien unser Körper tatsächlich aufnimmt
Baer und seine Kollegen vom Beltsville Centre fanden beispielsweise heraus, dass unser Körper manchmal auch weniger Kalorien aufnimmt, als auf einer Verpackung angegeben sind. Die Teilnehmer ihrer Studie nahmen zum Beispiel bei Mandeln rund ein Drittel weniger Kalorien auf, als der angepasste Atwater-Wert angibt. Bei Walnüssen lag der Unterschied bei 21 Prozent. Das sind gute Nachrichten für alle, die abnehmen wollen und gerne Mandeln oder Walnüsse knabbern, denn sie nehmen wahrscheinlich weniger Kilokalorien zu sich, als bisher angenommen. Dieser Unterschied könnte an der Struktur der Nüsse liegen, vermutet Baer: "Alle Nährstoffe – Fette, Proteine und so weiter – befinden sich innerhalb einer pflanzlichen Zellwand." Solange diese Zellwände nicht vollständig zersetzt werden – durch Weiterverarbeitung, Kauen oder Kochen – können einige Kalorien vom Körper nicht aufgenommen werden. Sie werden stattdessen wieder ausgeschieden.
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Auf die Zubereitung kommt es an
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Denn durch das Kochen werden stärkereiche Lebensmittel leichter verdaulich, weil die Hitze die Struktur der Stärke auflöst und unserer Verdauung so Arbeit abnimmt. Wrangham stellte beispielsweise fest, dass Mäuse, die mit rohen Erdnüssen gefüttert wurden, mehr Gewicht verloren, als Mäuse, die mit derselben Menge gerösteter Erdnussbutter gefüttert wurden. Dasselbe Prinzip gilt auch für Fleisch: Ein gebratener Burger enthält wesentlich mehr verwertbare Energie als rohes Steak-Tatar. Auch unterschiedliche Zubereitungsmethoden haben Einfluss auf den Kaloriengehalt. 2015 stellten Forscher aus Sri Lanka fest, dass sie die Kalorien von Reis mehr als halbieren konnten, indem sie beim Kochen Kokosnussöl hinzufügten und den Reis danach im Kühlschrank abkühlen ließen.
Jeder Mensch ist einzigartig – auch bei der Kalorienverwertung
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Auch die Darmflora bestimmt, wie wir Kalorien verwerten
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2013 untersuchten Forscher der Washington University menschliche Zwillingspaare, von denen einer stark übergewichtig und einer schlank war. Die Forscher entnahmen beiden Zwillingen Stuhlproben und setzten sie in die Därme von Mikroorganismen-freien Mäusen ein. Mäuse, die die Mikroorganismen der übergewichtigen Zwillinge erhalten hatten, legten Gewicht zu, die anderen blieben schlank – obwohl alle Mäuse das gleiche Futter bekamen. "Das war sehr auffällig", meint Peter Turnbaugh, der an der Studie beteiligt war. "Das war der erste Hinweis, dass die Mikroorganismen im Darm tatsächlich beeinflussen könnten, wie viel Energie wir aus der Nahrung ziehen."Die Zusammensetzung unserer Darmbakterien ist zwar so individuell wie ein Fingerabdruck, lässt sich jedoch leicht durch unsere Ernährung und Umgebung verändern. Beispielsweise deutet vieles darauf hin, dass einige Medikamente eine Gewichtszunahme verursachen, indem sie die Zusammensetzung der Mikroorganismen im Darm verändern. Auch der Fall einer Mutter zeigt, welch großen Einfluss die Darmflora hat: Die Frau hatte eine Stuhltransplantation von ihrer übergewichtigen Tochter erhalten, um ihre chronische Darmentzündung zu heilen. Die Mutter konnte durch den Eingriff zwar geheilt werden, nahm jedoch 18 Kilogramm zu, die sie auch durch Diäten und Sport nicht wieder los wurde.
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Diese Beispiele zeigen, wie viele individuelle Faktoren es gibt, die die Kalorienverwertung beeinflussen können. Kalorienzählen alleine reicht nicht aus – wir müssen einen ganzheitlichen Blick darauf werfen, was wir essen und wie wir essen.Das Kaloriensystem, das wir auch heute noch nutzen, stammt aus einer Zeit, in der ernährungstechnisch ganz andere Prioritäten gesetzt werden mussten, als heute. Anfang des 20. Jahrhunderts war es die oberste Devise, die Bevölkerung ausreichend zu ernähren. Daher war die Kilokalorie eine gute Methode, um den Bedarf einer Person zu errechnen. Heute sieht die Situation jedoch ganz anders aus: In der westlichen Welt betrifft Übergewicht wesentlich mehr Menschen als Unterernährung. In Deutschland sind über die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig oder adipös, in den USA sind es sogar mehr als zwei Drittel. Mit dem Übergewicht steigt auch das Risiko für Diabetes, Herzkrankheiten und Krebs. Das stellt sowohl die Wissenschaft und als auch die Gesellschaft vor ganz neue Herausforderungen, die nach einem neuen Messsystem verlangen.Eine alternative Methode zur Gewichtsreduzierung hat die Ernährungsforscherin Susan Roberts von der Tufts University entwickelt. Statt auf stures Kalorienzählen konzentriert sich ihr Ernährungsplan auf das Sättigungsgefühl. Der Gedanke dahinter ist einfach: Wenn man sich nach einer Mahlzeit satt und zufrieden fühlt, ist das Bedürfnis weniger groß, kurz nach dem Essen zum nächstbesten Snack zu greifen. Äpfel, Fisch und Griechischer Joghurt stehen bei Roberts ganz oben auf dem Plan.
Warum Sättegefühl und Nährstoffdichte wichtig sind
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Auch auf VICE: Die Hochfettdiät eines Ultraläufers
Roberts Programm scheint zu funktionieren: In einer Studie konnten sie und ihre Kollegen feststellen, dass die Menschen, die sich an an ihren Ernährungsplan hielten, dreimal so viel Gewicht verloren, wie mit Hilfe des traditionellen Kalorienzählens – und dass sie dieses Gewicht auch halten konnten. Auch der Ernährungswissenschaftler David Ludwig konnte zeigen, dass Jugendliche, die zum Frühstück Haferflocken aßen, beim Mittagessen 650 Kalorien mehr zu sich nahmen, als eine andere Gruppe, die Omelette und Früchte frühstücken durfte. Denn das Sättigungsgefühl hielt bei der zweiten Gruppen scheinbar länger an.Der Epidemiologe Adam Drewnowski hat noch ein weiteres Update fürs schnöde Kalorienzählen parat: Er konzentriert sich ganz auf die Nährstoffdichte von Lebensmitteln. In seinem System werden Lebensmittel nach ihrem Nährstoffgehalt pro Kilokalorie bewertet, nicht nach ihren Gesamtkalorien. Grüne Gemüsesorten und Hülsenfrüchte schneiden sehr gut ab, während Alkohol und stark fett- und zuckerhaltige Lebensmittel eine sehr geringe Nährstoffdichte aufweisen.
Die Zukunft der individuellen Ernährung
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Vieles deutet daraufhin, dass es signifikante Unterschiede gibt, wie verschiedene Menschen Essen verwerten. Alles hängt von den Zehntausenden – oder Millionen – von Chemikalien ab, die unser individuelles Metabolom ausmachen. Kombiniert man dieses Wissen mit den Informationen über die individuelle Darmflora, könnten sich personalisierte Ernährungsempfehlungen entwickeln lassen. Wishart glaubt, dass wir in Zukunft ein Gericht nur mit unserem Smartphone abfotografieren müssen, um Informationen darüber zu erhalten, welchen Effekt es auf unseren Körper haben wird und wie viele Kalorien wir daraus verwerten können. Es ist gut möglich, dass die Person neben dir ganz andere Informationen zum selben Gericht erhalten würde.
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Vielleicht wird man sich in Zukunft auch darauf konzentrieren, die Darmflora zu manipulieren. Jemand, der abnehmen möchte, würde die Darmflora dann so beeinflussen, dass sie weniger Kalorien aus den Lebensmitteln zieht – ohne dabei der Gesundheit zu schaden. Peter Turnbaugh warnt davor, dass die Wissenschaft noch nicht dazu in der Lage ist, ein bestimmtes Darmmikrobiom zu empfehlen oder es gezielt im Darm einzusetzen.Trotzdem wissen wir, dass sich die Mikroorganismen in unserer Verdauung verändern, wenn wir beispielsweise Antibiotika nehmen, reisen oder unsere Ernährung umstellen. Daher ist der Forscher zuversichtlich, dass wir eines Tages dazu in der Lage sein werden, die Mikroorganismen in unserer Verdauung nach unseren Wünschen zu beeinflussen.Dieser Artikel ist ungekürzt und in englischer Sprache unter dem Titel "Why the calorie is broken" bei mosaic erschienen. Er wird unter der CC BY 4.0 Lizenz veröffentlicht.
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