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Wie sich Reality-TV auf unser Verhalten auswirkt

Schlechte Nachrichten für Fans von 'Keeping Up With The Kardashians' und dem Nachmittagsprogramm deutscher Privatsender.
Collage: Callie Beusman

Als ich noch zu Hause gewohnt habe, haben meine Eltern bestimmt, was geguckt wurde und was nicht. Meine Mutter war nämlich der festen Überzeugung: Du wirst, was du siehst. Einmal behauptete sie, eine meiner Freundinnen würde nur deshalb so schwierig sein, weil sie O.C. California gucken und sich an der Hauptfigur Marissa orientieren würde. Nicht etwa, weil ihre Eltern gerade in einer hässlichen Scheidung steckten (was sie wiederum tatsächlich mit Marissa gemeinsam hätte).

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Meine Eltern hatten den Sender MTV gesperrt, weil es in ihren Augen anscheinend der ultimative (und einzige?) Kanal war, um die eigenen Kinder zu verderben. Das führte allerdings dazu, dass ich mir andere fragwürdige Formate reinzog – und dabei auf einen der späteren Stützpfeiler meines Lebens stoßen sollte: Keeping Up with the Kardashians.

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Dank den Kardashians habe ich viele schwierige Phasen in meiner Teenager-Zeit überstanden. Als ich mit 15 anfing, die Reality-Show zu gucken, kämpfte ich verzweifelt mit meinen Augenbrauen, um sie auch nur ansatzweise so aussehen zu lassen wie die von Kim. Als ich schließlich aufs College ging, war ich quasi süchtig – und ließ mich auch nicht davon abhalten, jede Folge zu streamen, als ich zwischenzeitlich in Jordanien lebte. Das Ergebnis war eine Internetrechnung in Höhe von umgerechnet mehreren hundert Euro.

Als ich schließlich ganz offiziell erwachsen war, wurden die Kardashians zu einer Art Ruhepol für mich. Wenn Dienstreisen überhand nahmen oder mein Sozialleben mich eher stresste als entspannte, brachten mich die trivialen Streitereien der Schwestern wieder ins Gleichgewicht. Es gibt nichts, was mich mehr entspannt. Trotzdem musste ich immer an die Warnung meiner Mutter denken: Wer überdramatischen Menschen im Fernsehen dabei zusieht, wie sie dramatische Dinge tun, wird selbst irgendwann zur Diva. Ein Vorwurf, den mir nicht einer, sondern sogar zwei meiner Exfreunde machten.

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Eigentlich sind die Kardashians das absolute Gegenteil von Drama-Queens.

Der Erste war ganz allgemein der Meinung, dass die Kardashians nichts Gutes für unsere Gesellschaft bedeuten. "Sie stehen für alles, was heutzutage in der Welt falsch läuft", motzte er, wenn er mich dabei erwischte, wie ich mich über den neuesten Gossip aus dem Leben von Kim, Khloe, Kourtney, Kendall und Kylie informierte. In einer unserer letzten Streits warf er mir vor, nur deswegen so gerne die Show zu gucken, weil ich gerne so wäre wie die Schwestern. ("Reich, berühmt und mit perfekten Augenbrauen ausgestattet? Klar!" wäre im Nachhinein die perfekte Antwort darauf gewesen.) Wir haben wenig später Schluss gemacht.

Zu diesem Zeitpunkt nahm ich den Vorwurf noch nicht ernst. Allerdings passierte mir Jahre später dasselbe mit einem anderen Partner. Selbst wenn ich die Kardashians nur im Spaß erwähnte, zuckte er bereits genervt zusammen. Als unsere Beziehung ein ziemlich dramatisches Ende fand und ich heulend über einem Glas Wein zusammenbrach, warf er mir schließlich vor, dass mich das jahrelange Gucken von Keeping Up With The Kardashians zu diesem übertriebenen Verhalten erzogen hätte.


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Ich war vollkommen entgeistert. Wieso wurde meine Begeisterung für die Kardashians so ein großer Bestandteil meiner gescheiterten Beziehungen?

Wer die Sendung nie gesehen hat, wird mir das wahrscheinlich nicht abnehmen, aber: Eigentlich sind die Kardashians das absolute Gegenteil von Drama-Queens. Genau das macht die Sendung auch so wahnsinnig unterhaltsam für mich. Egal was in ihrem überdrehten, öffentlichem Leben passiert, sie nehmen es absolut stoisch entgegen. Sei es nun in den (zugegebenermaßen oftmals nachgestellten) Situationen selbst oder in nachträglich gedrehten Kommentaren zu den Geschehnissen: Sie sind immer absolut unaufgeregt, ruhig und haben meistens noch nicht einmal etwas, was man auch nur im Ansatz als Mimik bezeichnen könnte. Ob das nun an diversen Schönheits-OPs oder Antidepressiva liegen möge, sei mal dahingestellt. Trotzdem zählen die Vertreterinnen des Kardashian-Klans nicht zu der Art Mensch, die heulend Wein trinkt. Gut, vielleicht Kris Jenner, aber sie hat sich immer so schnell wieder im Griff, dass es eigentlich nicht zählt.

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Damit sind sie allerdings eine Ausnahmeerscheinung im klassischen Reality-TV. Formate mit "echten" Menschen, die "echte" Dinge tun, leben von Konflikten, die – mit Hilfe der Personen hinter der Kamera – eskalieren. Das zeigt sich beispielsweise bei US-Formaten wie The Real Housewives of [setze eine Stadt deiner Wahl ein], in denen privilegierte Frauen mit scheinbar unbegrenztem Vorrat an teurem Wein aufeinander gehetzt werden.

"Menschen, die sehr viel Reality-TV konsumieren, nehmen Probleme in ihrer Beziehung als schwerwiegender wahr als Personen, die weniger Reality-TV konsumieren."

Nach meiner letzten Trennung ging ich gedanklich die dramatischeren Episoden meines Lebens durch. Hatte ich wieder eine komplette Nacht vor dem Fernseher gehangen, bevor ich diese schlimme Auseinandersetzung mit meinem Chef hatte? Hatte ich wirklich eine der Real Housewives zitiert, als ich mich kürzlich mit meinem Mobilfunkanbieter über meine letzte Handyrechnung gestritten hatte? Mein Verdacht erhärtete sich. Vielleicht waren es nicht die Kardashians, wegen denen ich mich in bestimmten Situationen meines Lebens so verhielt, als würde mir jemand eine Kamera ins Gesicht halten. Vielleicht war es meine Leidenschaft für Reality-TV im Allgemeinen!

Ich wandte mich an meine Freunde, die mir in Teilen zustimmen mussten. Eine Freundin erzählte mir, dass ihr Partner ihr schon mehrfach gesagt hätte, dass sie nach einem Real Housewives-Marathon besonders aufmüpfig sei. (Eine Aussage, die er mir kurz darauf unter vier Augen nochmals bestätigt hat.) Eine andere hatte bei sich selbst schon mehrfach feststellen müssen, dass sie Sprüche ihrer Lieblings-Reality-Persönlichkeiten in ihr Vokabular aufgenommen hatte.

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Die Logik dahinter ist ebenso einfach wie überzeugend: Wir ahmen Dinge nach, die wir sehen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, jemandem ein Glas Wein ins Gesicht zu schütten, bis ich es in einer meiner Lieblingssendungen gesehen habe. Ich habe mich bisher noch nicht getraut, es wirklich zu tun, fantasiere aber immer wieder darüber, wenn mich mein Gegenüber gerade komplett in den Wahnsinn treibt.

Tatsächlich gibt es auch Forschungsergebnisse, die meinen Verdacht bestätigen. Karyn Riddle ist Professorin für Journalismus und Massenkommunikation an der University of Wisconsin-Madison und hat sich bereits beruflich mit der Frage beschäftigt, wie sehr Reality-TV unser Verhalten beeinflusst. Ihre Studie "A Snooki Effect?" (benannt nach der berühmt-berüchtigten Jersey Shore-Teilnehmerin) konnte zeigen, dass "Menschen, die sehr viel [Reality TV] konsumieren, […] Probleme in ihrer Beziehung als schwerwiegender wahrnehmen als Personen, die weniger Reality TV konsumieren." Riddle fand außerdem heraus, dass Reality-TV-Fans das Verhalten von Frauen als allgemein negativer bewerten und sie für manipulativ halten.

Es gibt schlimmere Wege, seiner Wut Luft zu machen, als jemandem Wein ins Gesicht zu schütten.

Brian Gibson von der Central Michigan University, der sich das Aggressionspotential von Reality-TV-Zuschauern genauer angesehen hat, ist zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. "Im Rahmen der Studie gab es eine Gruppe, die explizit gewalttätige Formate geschaut hat, Serien wie Dexter beispielsweise", erzählte er. "Tatsächlich waren diese Personen weniger aggressiv als die, die Reality-TV geschaut haben."

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Na schön. Laut diesen hochstudierten Menschen, die ein grundlegendes, wissenschaftliches Verständnis von menschlichem Verhalten haben, hatten meine Exfreunde also Recht. Trotzdem regte sich Widerstand in mir. Ich liebe Reality-TV – das allein kann mich doch nicht zu einem schlechten Menschen machen? Ich fragte Riddle, ob es nicht auch Dinge in diesen Formaten gibt, die einem etwas Positives für das eigene Leben mitgeben können. Schließlich sind genug der vermeintlichen TV-Drama-Queens erfolgreiche Business-Frauen, die vielleicht einfach nur ein bisschen mehr Trinken und Weinen als andere.

"Vielleicht hätte ich direkt erwähnen sollen, dass ich gar keine positiven Effekte feststellen konnte", antwortete die Professorin. "Es könnte sicherlich sein, dass diese Sendungen auch etwas Positives in ihren Zuschauern bewirken können. Ich möchte das nicht ausschließen. Meine Untersuchung hat sich allerdings auf die negativen Aspekte konzentriert."

Schon in den frühen 90ern gab es Studien, laut denen sich Frauen für ihren TV-Konsum schämten – allerdings ging es damals um Soaps. Die Befragten sagten aus, selbst zu wissen, dass die Sendungen "albern" und "belanglos" seien. Jahre später gab es eine ähnliche Befragung der University of Florida zum Thema Reality-TV, die zeigte: Auch diese Art von Unterhaltung ist nichts, von dem man gerne zugibt, dass man es mag. Es scheint, als würden Fernsehformate, die auf ein weibliches Publikum abzielen, allgemein eher in die Kategorie "guilty pleasure" fallen.

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Die Tatsache, dass weder meine Exfreunde, noch Medienwissenschaftler auch nur auf die Idee kamen, dass Reality-Formate auch etwas Positives sein könnten, sagt einiges über die Vorurteile, die es zu dieser Art der Unterhaltung immer noch gibt. Dabei gibt es – bei aller berechtigter Kritik – so einiges Positives zu Formaten wie Keeping Up With The Kardashians oder The Real Housewives zu sagen. Ihre weiblichen Protagonistinnen haben keine Angst davor, für sich einzustehen, setzen sich erfolgreich gegen Skandale und gewalttätige Partner zur Wehr, ziehen ihre Kinder groß und managen ganz nebenbei noch ihre millionenschweren Unternehmen.

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Auch wenn sich wahrscheinlich nur schwerlich argumentieren lässt, dass jemand, der vor laufender Kamera seine Beziehungsprobleme breit tritt, eine Ikone des weiblichen Empowerments ist: Die Frauen des Reality-Fernsehens sind durchsetzungsfähig und alles andere als eindimensional – auch wenn viele Facetten auf den ersten Blick vielleicht eher angsteinflößend sind.

Deswegen werde ich auch weiterhin Keeping Up With The Kardashians verfolgen, als wären Khloe, Kourtney, Kim und Co. meine eigene Familie – und nicht länger versuchen zu leugnen, dass mein Reality-TV-Konsum mich vielleicht ein klitzekleinesbisschen dramatischer gemacht hat. Außerdem: Es gibt schlimmere Wege, seiner Wut Luft zu machen, als jemandem Wein ins Gesicht zu schütten.

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