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„Sie sind Kämpferinnen”: dieses indische Café wird von Säureopfern geführt

Die Frauen im Sheroes Hangout in Indien sind keine gewöhnlichen Kellnerinnen. Mit ihrer Arbeit in dem Café unweit des Taj Mahals setzen sie ein Zeichen gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung von Säureopfern und zwingen die Gesellschaft, sie...
All photos courtesy of Sheroes Hangout

Das Sheroes Hangout in der Nähe des Taj Mahal sieht aus wie jedes andere Café und lockt mit Chai, Pommes und kostenlosem Wi-Fi Besucher aus der ganzen Welt an.

Es gibt jedoch einen Unterschied: Das Sheroes ist das weltweit erste Café, das von Frauen geführt wird, die Opfer eines Säureattentats wurden.

Das Café lockt täglich rund 80 Besucher an—der Großteil davon Touristen. Es ist die erste Initiative dieser Art, mit der Frauen zurück in den Alltag der indischen Gesellschaft finden sollen, so Atul Kumar, Maschinenbauingenieur und Manager des Sheroes Hangout.

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Eröffnet wurde das Café 2015. Die Idee dafür stammt von der Stop Acid Attacks-Kampagne und der Chhanv Foundation, einer Nichtregierungsorganisation, die sich seit 2013 dafür einsetzt, dass Säureangriffe in Indien verhindert werden.

Schon lange bevor der Fall um die Gruppenvergewaltigung in Delhi internationale Aufmerksamkeit erregt hat, hatte Indien mit Gewalt gegen Frauen zu kämpfen. Alle 16 Minuten wird in Indien eine Frau missbraucht und alle 4,4 Minuten wird ein Fall von häuslicher Gewalt bekannt, so das nationale Amt für Kriminalitätsdelikte. Es ist fast ironisch, dass Agra—die Stadt, in der auch das Taj Mahal, ein Denkmal für die Liebe des Mogulherrschers Shah Jahan zu seiner Frau steht—landesweit die meisten Fälle von Gewalt gegen Frauen zu beklagen hat.

Dabei bleibt Säure die am häufigsten verwendete Waffe, die gegen Frauen gerichtet wird. Die Organisation Acid Survivor International schätzt, dass es jedes Jahr rund 1.000 Fälle gibt. Die genaue Zahl könnte jedoch sehr viel höher liegen, da man annehmen muss, dass viele Frauen aus Scham oder Angst zögern, sich zu Wort zu melden. In vielen Fällen geht es um Familien oder Landstreitigkeiten oder—in machen Fällen auch—um die Mitgift. In den meisten Fällen jedoch ist der verletzte Stolz von Männern, die von Frauen zurückgewiesen wurden, der Grund für die Tat, so die Jurastudentin und Feministin Vishnal Manve aus Mumbai: „Wenn sie sich in ihrem Eigentum oder ihrem Besitzanspruch durch eine Frau beschnitten fühlen, treibt das viele Männer zu einer solchen Tat."

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Der Garten des Sheroes Hangout in der Nähe des Taj Mahal in Agra.

Für viele Überlebende, mit denen ich gesprochen habe, ist es ganz normal, dass Frauen das Gefühl haben, dass sie von der Gesellschaft für den Angriff verantwortlich gemacht werden und deswegen untertauchen müssen. Laxmi Saa aus Delhi ist selbst eine Überlebende und Mitbegründerin der Stop Acid Attacks-Kampagne. Sie schreibt: „Mit den körperlichen Schmerzen habe ich gelernt umzugehen. Was jedoch viel schlimmer war, war die Reaktion der Gesellschaft. Meine eigenen Verwandten und Freunde haben mich nicht mehr angeschaut. Ich bin acht Jahre lang nicht vor die Tür gegangen."

Die Isolation der Frauen wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass es nur wenige bis gar keine Jobangebote für sie gibt. Lakshmi wurde angegriffen, als sie gerade 15 Jahre alt war, nachdem sie den Heiratsantrag eines 32-jährigen Mannes zurückgewiesen hat. „Ich habe versucht, Arbeit zu finden, aber niemand wollte mich einstellen", sagt sie. „Viele sagen: ‚Die Leute werden Angst kriegen, wenn sie dich sehen.' Andere meinten, sie würden mich anrufen, aber mein Telefon hat natürlich nie geklingelt. Niemand möchte ein Säureopfer einstellen—so wie wir aussehen." Lakshmi hat bis Ende letzten Jahres in dem Café gearbeitet.

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Als die Frauen durch das Café endlich wieder ihren Weg in die Öffentlichkeit finden wollten, trafen sie erst einmal auf Widerstand. Die Reaktion war nicht besonders „neutral oder positiv gegenüber den Opfern", erzählt Kumar gegenüber Broadly.

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Indien hat diese Frauen lange Zeit über an den Rand der Gesellschaft gedrängt, während die Täter jeder Form von Stigmatisierung oder Bestrafung entgehen konnten und die Freiheit genossen, die sie ihren Opfern verweigert haben. Sheroes ist für die fünf Frauen, die in dem Café arbeiten, hingegen eine Möglichkeit, wieder sichtbar zu werden.

Egal in welcher Position sie arbeiten, die Frauen haben immer die Gelegenheit, direkt mit den Gästen zu sprechen und nur wenig Platz, um sich zu verstecken. Neetu (24) ist eine aufstrebende Köchin, die erblindet ist, nachdem ihr eigener Vater ihr Säure ins Gesicht geschüttet hat. Heute bietet sie gemeinsam mit ihrer Mutter und einer anderen Überlebenden namens Geetu (46) Kaffee an. Eine andere „Shero", Dolly (16), wurde mit 12 Jahren angegriffen, weil sie die Annäherungsversuche eines 25-jährigen Mannes zurückgewiesen hat. Sie arbeitet gelegentlich in der Bibliothek des Sheroes. Rupa (24) wäre fast an ihren Verletzungen gestorben, nachdem ihre Stiefmutter sie mit Säure überschüttet hat, während sie schlief. Heute designt sie Kleider, die im Café ausgestellt werden, während Ritu (20) sich um das Geschäft kümmert.

Inzwischen bietet das Café nicht mehr nur Essen und Getränke an, sondern verfügt auch über eine hauseigene Bibliothek, eine Kunstgalerie und sogar ein Bildungszentrum.

Ritu leitet die Geschäfte im Sheroes Hangout.

Das Sheroes hat den Frauen geholfen, ihr Selbstbewusstsein wieder aufzubauen. Man kann spüren, wie gelassen die Frauen mit den Gästen umgehen. Sie posieren unbeschwert für Selfies und unterhalten sich mit den Leuten. Die Tage, als sie nicht einmal den Mut fanden, ihr Haus zu verlassen, liegen hinter ihnen.

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Die Frauen im Sheroes verzichten bewusst darauf, ihre gezeichneten Gesichter zu verhüllen (so wie es Geetu einst getan hat) und wurden damit zu einem starken Symbol, das die Geschichte der Frauen verändert hat und sie nicht mehr länger zu Opfern, sondern zu Überlebenden macht.

Noch bewundernswerter ist jedoch die Tatsache, dass die Frauen die Gesellschaft dazu aufgefordert—ja förmlich gezwungen—haben, ihre Vorstellung von Schönheit zu überdenken. In einer Gesellschaft wie Indien, in der Schönheit zu einem Verhandlungsinstrument für arrangierte Hochzeiten wird, verlieren Frauen mit ihrem ästhetischen Aussehen auch die grundlegende Bedeutung ihrer Existenz. Annie Zaidi, die Autorin von The Good Indian Girl, sagte gegenüber Broadly, dass sie nicht davon ausgeht, dass sich das in nächster Zukunft ändern wird: „Natürlich denke ich, dass die Leute hinter die Fassade sehen werden und dass sich die Meinung einzelner ändern wird, aber ich glaube, das passiert nicht über Nacht."

Genau das ist das Ziel von Säureattacken: Nimmt man einer Frau ihren vermeintlich größten Wert, nimmt man ihr auch alles andere weg—wie zum Beispiel der Möglichkeit, Liebe zu finden. Wenn Überlebende jedoch heiraten oder—wie Laxmi Saa—Mutter werden, dann trotzen sie damit nicht nur den Absichten der Täter, sie zeigen auch, dass Schönheit über Äußerlichkeiten steht. Rashi Jauhri ist eine Menschenrechtsaktivistin aus Neu Delhi, die dem beipflichtet: „Du kannst ihre Haut verätzen, aber nicht ihre Seelen. Sie sind Kämpferinnen."

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Während die Frauen jedoch erreicht haben, was vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen wäre (die vollkommene Reintegration in die indische Gesellschaft), ist der Kampf noch nicht gewonnen.

Säureüberlebende werden häufig ausgestoßen und haben Probleme, ihren Weg zurück in die indische Gesellschaft zu finden.

Ich frage Kumar, ob die Regierung irgendetwas tut, um gegen den alarmierenden Anstieg von Säureattacken vorzugehen oder um wenigstens einen offenen Dialog zu fördern.

Trotz des immensen politischen Durchbruchs, meint er, sei diese Entwicklung der Stop Acid Attacks-Kampagne zu verdanken. So hat das oberste Gericht in Indien erst nach ihrem jahrelangen, rastlosen Einsatz und 27.000 Unterschriften, die mit Laxmis Hilfe gesammelt werden konnten, den Verkauf von Säure im Juli 2013 eingeschränkt. Angesichts der Tatsache, dass Säure so günstig und einfach zu haben war wie Milch, ist diese Entwicklung wirklich Grund zu feiern.

Unterdessen hat Uttar Pradesh, der Minister von Akhilesh Yadav, Säureattacken auf Frauen als „einen Schandfleck zivilisierter Gesellschaften" bezeichnet. Seither finanziert er die Kosten für die medizinische Behandlung von 51 Überlebenden (was umgerechnet mehr als 5.000 Euro entspricht).

Abgesehen von der finanziellen Unterstützung wurde allerdings noch nicht besonders viel getan, um die Säureattacken an der Wurzel zu bekämpfen. Der Politiker hat zwar beteuert, dass es eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung sei, Säureattacken zu verhindern. Trotzdem wurde bisher kein Gesetz initiiert, das mutmaßliche Täter abschreckt oder sie gar zur Rechenschaft zieht.

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Im Gegensatz dazu wurde im benachbarten Bangladesh viel getan, um gegen Säureattacken vorzugehen. Bangladesh war einst das Land mit den weltweit meisten Fällen von Säureattacken, in dem zwei von drei Frauen in Laufe ihres Lebens irgendeine Form von Gewalt erlebt haben. Laut der Hilfsorganisation Acid Survivors Foundation in Dhaka hat die Zahl der Fälle rapide abgenommen: von 496 Fällen im Jahr 2002 auf 58 im Jahr 2014.

In Pakistan werden Säureattacken seit 2011 als Verbrechen bestraft. Während also zwei Länder, in denen es geschichtlich betrachtet nur wenige Fälle von Gewalt gegen Frauen gab, Gesetze eingeführt haben, um Frauen zu schützen, wie kann es dann sein, dass Indien seine Überlebenden weiter im Stich lässt?

„Wir haben noch viel zu lernen", meint Zaidi gegenüber Broadly. „Es sollte nicht so lange dauern. Der Unterschied zwischen Säureattacken und vorsätzlichem Mord ist nicht besonders groß. Wenn man die Absicht hinter dem Verbrechen per Gesetz mit einberechnet, dann sollten die Täter definitiv sehr viel härter bestraft werden."

Deshalb ist es ein umso größerer Erfolg, dass Sheroes auf eigene Faust das bitter nötige Bewusstsein für dieses Thema geschaffen hat—und Sheroes arbeitet auch noch weiter daran: Erst im letzten Monat wurde eine neue Filiale in der Stadt Lucknow eröffnet. Zudem, sagt Kumar, seien noch weitere Standorte geplant.

Und nachdem für das Café jeder Tag eine neue Gelegenheit ist, um die Botschaft zu verbreiten, steht fest, dass das Taj Mahal nicht das einzige Denkmal in der Geschichte Agras bleiben wird.