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Otherkin: Wenn Menschen sich mit Tieren oder Wetter identifizieren

Im Internet gibt es innerhalb der Community nicht nur sehr viele Leute, die sich selbst als Tierart oder mystische Kreatur sehen. Manche identifizieren sich auch mit Wetter, Pflanzen oder Zeitperioden wie den 80er-Jahren.
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Wie viele andere Teenager auf Tumblr teilt auch Marco oft Fotos von malerischen wolkenbedeckten Himmeln oder Sonnenuntergängen. Aber seine Bilder haben weniger mit Ästhetik zu tun: Seit einiger Zeit, sagt Marco, identifiziert er sich selbst als Wolke im Körper eines Menschen.

„Ich hatte schon immer das Gefühl, dass mein menschlicher Körper nicht zu mir passt. Aber wie weit das Ganze geht, habe ich erst vor ungefähr eineinhalb Jahren gemerkt", erzählt er mir im Tumblr-Messenger. Damals ist er zum ersten Mal auf das „Cloudkin"-Konzept gestoßen—eine Untergruppe von „Weatherkin", was wiederum Teil der „Otherkin"-Community ist, die sich selbst als Nicht-Menschen identifiziert.

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Die Otherkin sind in bestimmten Kreisen im Netz ziemlich berüchtigt: Das wohl bekannteste Beispiel ist das einer Frau, die im norwegischen Fernsehen erzählte, wie sie zu der Entscheidung kam, dass sie als Katze leben möchte. Ein Blog namens Otherkin FAQ definiert „Otherkin" als einen „Überbegriff für Wesen in menschlichen Körpern, die sich selbst nicht mit dem Menschsein identifizieren."

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Aber die Kategorie der Nicht-Menschen ist sehr viel breiter gefächert, als man zunächst erwarten würde. Neben den Otherkins, die sich mit Tieren identifizieren, gibt es auch Leute, die sich selbst als mystische Kreaturen—zum Beispiel Drachen, Feen oder Vampire—sehen oder sogenannte Fictionkins, die sich mit fiktionalen Charakteren—zumeist aus Animeserien oder Videospielen—identifizieren. Darüber hinaus gibt es noch Weatherkin wie Marco, die sich selbst als Wettersystem betrachten, Conceptkin, die sich selbst mit abstrakten Konzepten identifizieren, Spacekin, die sich als Himmelskörper fühlen und viele weitere verworrene Kategorien (wie Musickin, Timeperiodkin—und viele mehr).

Als ich das erste Mal auf den #weatherkin-Tag auf Tumblr gestoßen bin—der mich über den #conceptkin-Tag weiter in den konzeptionellen Abgrund geführt hat—, konnte ich nicht sofort sagen, ob es sich dabei nicht vielmehr, um einen aufwendig inszenierten Scherz oder eine Art gemeinschaftliche Kunstperfomance handelt. Bei manchen wurde sofort klar, dass sie sich einen Scherz erlaubten: Ein Blog von einem „Krieger für soziale Gerechtigkeit", der sich selbst mit einer Pflanze identifizierte, forderte seine Follower andauernd dazu auf, sich der Privilegien ihrer Spezies bewusst zu machen. Er wollte die Leute ganz klar verarschen.

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Aber es gibt noch andere traurigere und sehr introspektive Weatherkin-Blogs, die einen merklich nachdenklicheren Ton anschlagen. „Es ist seltsam, ein Rainkin zu sein, weil Regen keine Erinnerungen hat—es ist nur Wasser und Wasser hat kein Bewusstsein", sinniert einer von ihnen in seinem Blog, der gespickt ist mit Bildern von Regentropfen, die sich in Pfützen sammeln. „Und trotzdem kann ich mich erinnern, wie es war, mit Metal zu reagieren."

Es ist seltsam, ein Rainkin zu sein, weil Regen keine Erinnerungen hat. Und trotzdem kann ich mich erinnern, wie es war, mit Metal zu reagieren.

Als ich ihn frage, warum er glaubt, dass er eigentlich eine Wolke ist und inwiefern ihn das von denjenigen unterscheidet, die sich mit dieser Form von Wetter identifizieren, bekomme ich von Marco eine sehr ernsthaft gemeinte Antwort. „Das ist schwer zu erklären, aber immer wenn ich eine Wolke sehe, dann sehe ich mich selbst darin", sagt er. „[Die Wolke] ist meine Seele und das ist genauso ein Teil von mir wie meine Zehen oder meine Hände. Es ist meine Seele."

Etwas später ergänzt er noch: „In gewisser Weise ist es auch ein Gefühl der Sehnsucht—die Sehnsucht nach einem früheren Leben, als ich eine Wolke war. Ich fühle mich einfach zutiefst verbunden mit Wolken und—aber das ist mir ein wenig peinlich—ich habe einen Ventilator in meinem Zimmer, vor den ich mich manchmal setze, um mir vorzustellen, dass ich wieder fliegen kann."

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Viele Menschen in Otherkin-Kreisen glauben an ein früheres Leben. Es gibt allerdings einen großen Unterschied zwischen Menschen, die glauben, sie wären in einem früheren Leben eine Katze gewesen und denen, die denken, dass sie in einem früheren Leben eine Katze waren und noch immer irgendwie eine Katze sind—nur in einem menschlichen Körper.

Cat schreibt einen Kosmetikblog für Otherkins und versucht, mir diesen Unterschied zu erklären. Wie sein Name schon andeutet, ist er ein Catkin—also jemand, der sich selbst als Katze sieht. Als schottische Faltohrkatze, um genau zu sein. Er glaubt, seine Gefühle seien das Resultat einer Reinkarnation. Doch während die meisten Menschen, die an Reinkarnation glauben, der Ansicht sind, dass man jedes Mal ein neues Leben in einem neuen Körper beginnt, scheint er zu glauben, dass seine Seele grundsätzlich eine Katze ist und er nur eine menschliche Form angenommen hat.

Eine schottische Faltohrkatze. Foto: Kostj | Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0

Ein Otherkin zu sein, ist—wie er sagt—„fast immer ein spirituelles Ding." Die meisten Otherkin „wissen zwar, dass sie menschlich sind", sagt er weiter, „aber einige von uns spüren—wie wir es nennen—Astralgliedmaßen an Stellen, an denen sonst Flügel, ein Schwanz, Ohren o.ä. waren (je nachdem als was man sich fühlt), die ganz offensichtlich nicht mehr da sind."

„Diese Gliedmaßen fühlen sich meist ziemlich klobig, unangenehm und zeitweise auch sehr schmerzhaft an", sagt er weiter.

Ich habe einen Ventilator in meinem Zimmer, vor den ich mich manchmal setze, um mir vorzustellen, dass ich wieder fliegen kann.

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Cat beharrt darauf, dass Otherkins „keinesfalls wahnhaft sind." Auch Psychiater und Psychologen haben bereits von Otherkin gehört, sagt er, aber „sie sagen, solange es einem selbst keine psychischen Leiden verursacht oder einen negativen Einfluss auf das eigene Leben hat, ist das alles vollkommen gesund."

Tatsächlich hat Dr. Marc Feldman, klinischer Professor und Schöpfer des Begriffs „Münchhausen by Internet", 2015 gegenüber Daily Dot gesagt, dass es „nicht illegal ist [ein Otherkin zu sein], anderen Menschen keinen Schaden zufügt und keine Form einer psychischen Erkrankung ist (außer die Leute werden wahnhaft). Deswegen sehe ich keinen besonderen Grund, warum eine Behandlung notwendig wäre."

Aber selbst innerhalb der Otherkin-Community begegnet man den Leuten, die sich selbst mit leblosen Objekten oder abstrakten Konzepten identifizieren, im Allgemeinen mit Skepsis. In einem Tumblr-Blog, der die Erfahrungen eines Otherkin schildert, wird Objectkin und Conceptkin als „größter Streitpunkt in der Otherkin-Community" bezeichnet.

Ein Fictionkin namens Felix—der sich als die „rechtmäßige Reinkarnation" von drei verschiedenen Cartoonfiguren bezeichnet—schrieb in einem Post: „Die allgemeine Meinung unter ernsthafteren, nachdenklicheren Otherkins ist, dass man von nichts abstammen kann, das weder einen Geist, noch eine Persönlichkeit oder irgendeine Form von Willen hat."

„Man kann sich nicht mit einem Stuhl identifizieren, wenn der Stuhl kein Bewusstsein und keine Gedanken hat", bestätigt er.

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Eine solche Aussage wirkt tatsächlich ziemlich überraschend, da die Otherkin-Community eigentlich den Ruf hat, so aufgeschlossen zu sein, dass es zum Teil schon wirklich absurd ist. Wenn sie über ihre gefühlten Identitäten diskutieren, nutzen sie oft rhetorische Mittel, wie man sie aus Diskussionen über soziale Gerechtigkeit kennt—was aber auch zu Kritik von Seiten von Leuten führen kann, die glauben, dass sich die Otherkin-Community an bedeutungsvollen sozialen Bewegungen bedient. 2012 beispielsweise gaben drei gelangweilte Teenager zu, dass die „autistische, pansexuelle, asexuelle, demisexuelle, transasiatische Katze" eher eine Art Witz sei und sich in Wahrheit mit nichts von alledem identifizierten.

Man kann sich nicht mit einem Stuhl identifizieren, wenn der Stuhl kein Bewusstsein und keine Gedanken hat.

„Überlegt euch mal Folgendes: Ihr habt eine Community geschaffen, in der sich jemand als authistischer, pansexueller, asexueller, demisexueller, transasiatischer Katzen-Otherkin ausgeben kann, ohne sofort als Troll geoutet zu werden", schrieben die Teenager in einem Post, der mittlerweile aber gelöscht wurde. Darüber hinaus brachten sie noch ihre Wut darüber zum Ausdruck, dass eine Bewegung, die unterdrückte Minderheiten schützen möchte, „von Leuten vereinnahmt wird, die glauben, dass sie Drachen sind."

Die Otherkin-Community dagegen sagt, dass sie nichts und niemandem vereinnahmen und dass ihnen bewusst ist, dass sie nicht systematisch von der Gesellschaft diskriminiert werden. „Die Otherkin-Bewegung hat nichts mit an den Rand gedrängten Geschlechtern oder sexuellen Orientierungen zu tun … die Vorstellung, dass wir etwas damit zu tun hätten, kenne ich nur aus Troll-Blogs", schreibt der Moderator von Otherkin FAQ. Im Header der Seite heißt es: „Otherkin werden nicht unterdrückt, weil sie Otherkin sind und das wissen wir."

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Doch diese aggressive Aufgeschlossenheit der Community macht es auch umso schwerer, Skepsis zu äußern oder kritische Fragen zu stellen, wie: „Denkst du wirklich, dass es möglich ist, sich als die 80er-Jahre zu identifizieren?" Einwürfe wie dieser werden oftmals als gefühllos, unsensibel oder—im schlimmsten Fall—sogar als problematisch betrachtet. Es gibt zwar bestimmte Identitäten, bei denen auch die Otherkin-Community größtenteils die Stirn runzelt (zu sagen, dass man sich mit einer anderen Rasse oder Ethnie identifiziert, ist beispielsweise ziemlich inakzeptabel), aber den meisten Otherkins widerstrebt es, anderen zu sagen, dass deren Identität nicht legitim wäre. Letzten Endes ist es doch so, dass man niemandem in der eigenen Online-Community sagen würde, dass er sich nicht wie eine Wolke fühlen kann, wenn einem im wahren Leben niemand glaubt, dass man ein Drache ist.

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Zum Beispiel hat ein anonymer User, der sich selbst als Neonlicht identifiziert, auf Felix' Post, in dem er anzweifelt, dass es Objectkins wirklich geben kann, mit einer höflichen Antwort reagiert und bestand darauf, dass es Momente gibt, wo sie „fast erwarten, dass mein Körper anfängt von innen heraus zu leuchten" und dass sie „in diesen Momenten das Gefühl haben, als wären sie die physikalische Verkörperung von Neonlicht."

Felix stellte schnell klar, dass er damit nicht die persönlichen Erfahrungen des anonymen Nutzers infrage stellen wollte. „Wenn ich sage, dass ich nicht an Conceptkin oder Objectkin o.ä. glaube, dann möchte ich damit nicht die aufrichtigen Erfahrungen anderer als nichtig hinstellen", schrieb er.

„Wenn ich jemanden treffen würde, der drei Jahre seines Lebens damit verbracht hat, über seine Identität nachzudenken und seine Seele sowie seine psychische Verfassung usw. zu erkunden und danach wirklich ernsthaft glaubt, dass es seiner wahren Natur entspricht, ein Stuhl zu sein", sagt er, „dann würde ich das respektieren, ihm glauben und seine Identität respektieren."