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Die "Eldergoths" sind mit ihrer Jugendkultur erwachsen geworden

Wer als Jugendlicher mit Leib und Seele Goth war, fragt sich meist irgendwann, ob er zu alt für schwarze Röcke, Bondage-Gürtel und Corsagen geworden ist. Diese Frauen sind da anderer Meinung.
Photos courtesy of Jillian Venters and Mary

Jillian Venters – oder "The Lady of the Manners", wie sie sich selbst nennt – ist schon fast ihr ganzes Leben lang Goth. Eigentlich ist sie schon fast seit Beginn der Subkultur Teil der Gothic-Szene und hat ihren Aufstieg bis hin zu ihrem Höhepunkt in den 80er-Jahren miterlebt. "Wenn man über Goths spricht, müssen die meisten Menschen zuerst an junge Gothic-Mädchen denken, die mit ihrer makellosen Haut heimatlos über Friedhöfen streifen. Außerdem zeigen die meisten Fotos Teenager oder Menschen in ihren Zwanzigern."

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Venters lebt in Seattle und betreibt von dort aus den Blog Gothic Charm School, einen "unerlässlichen Leitfaden für Goths und diejenigen, die sie lieben". Venters ist so eine Art Expertin auf ihrem Gebiet und bekommt deshalb regelmäßig E-Mails von Frauen in ihren 40ern, 50ern und 60ern – Eldergoths, wie sie sie nennt –, die sie fragen, was passiert, wenn man kein Teenie mehr ist, aber noch immer auf Friedhöfen rumhängen möchte (natürlich rein metaphorisch). Andere fragen, welcher Eyeliner sich am besten bei Krähenfüßen eignet oder wann sie aufhören sollten, Black Devil zu rauchen. "Es gibt viele Frauen, die sich fragen, ob sie zu alt sind, um sichtbar Goth zu sein", sagt Venters.

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Natürlich antwortet Venters auf solche Fragen mit einem entschiedenen Nein. "Wir sind die erste und zweite Generation von Goths, die nun älter wird. Wir müssen öffentlich dafür einstehen, dass ältere Frauen genauso zu dieser Subkultur gehören wie alle anderen auch. Wir müssen keinem bestimmen Muster entsprechen, nur weil wir älter werden." Venters sagt Frauen über 40 immer wieder, dass sie die Vorreiter der Gothic-Kultur sind und damit auch die optischen Standards setzen.

Der Gothic-Look stammt von Siouxsie Sioux, Rozz Williams, Morticia Addams und nahezu jedem Schauerroman des 19. Jahrhunderts und hat sich über die vergangenen Jahrzehnte immer weiter entwickelt. Von den traditionellen, schwarz gekleideten Goths mit Lederjacken und Band-Shirts über Cyber-, Mall- und Health-Goths bis hin zu Cupcake-Goths wie Venters, die sich überwiegend schwarze Kleidung tragen, die sie mit pinken Accessoires verzieren. Hinter dem Begriff Gothic stecken verschiedene Stile, die die düstere Gefühlswelt der teilweise sehr androgynen Gruftis zum Ausdruck bringen sollen. Schwarze Schminke, Samt, Leder, Corsagen und Totenköpfe sind dabei so etwas wie die Grundausstattung.

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Es gibt mit Sicherheit viele Menschen, die der Meinung sind, dass ich mit 48 Jahren keine pinken oder roten Haare mehr haben sollte.

Die Gothic-Kultur stammt ursprünglich aus der Gothic-Rock-Szene der späten 70er-Jahre. Die Subkultur zog vor allem junge Menschen und Teenager an, die sich von den düsteren und melancholischen Texten angesprochen fühlten, die ihr Gefühl der Entfremdung widerspiegelten. Die Bewegung vereinte das Eigenartige und das Ungewöhnliche mit einem starken Gefühl der Aufsässigkeit und bildete Gruppen aus Gleichgesinnten, die auf Vampirbücher und Horrorfilme standen. Eldergoths wie Venters haben an ihrem geisterhaften Aussehen seit Mitte der 80er-Jahre nichts mehr verändert und auch ihre Zugehörigkeit zu der Subkultur nie infrage gestellt.

Trystan in einem ihrer aufwendigeren Gothic-Outfits. Foto: Trystan

Eine 2011 erschienene Studie von der London School of Economics and Political Science hat gezeigt, dass viele Goths in ihren 30ern, 40ern und 50ern Schwierigkeiten damit haben, ihre "persönliche Authentizität" mit ihrem Verständnis von altersgemäßer Angepasstheit in Einklang zu bringen. Die Faktoren, die dazu beitragen, dass ihr Aussehen im Alter weniger extrem war, waren den Studienergebnissen zufolge "die zunehmende Bedeutung von Beruf und Karriere, langfristige Freundschaften und vor allem auch der Beginn einer festen Beziehung". Auch Venters ist sich dessen bewusst und hat einen Vorschlag, wie sich das Dilemma der Work-Goth-Balance lösen lässt:

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"Es gibt auch sogenannte CorpGoths: Man zieht dazu ganz normale Durchschnittskleidung und verpasst ihnen einen düsteren Anstrich", sagt sie. Sie empfiehlt Frauen, die ihren Gothic-Look auch bei der Arbeit nicht ablegen wollen, ausschließlich schwarz zu tragen. Das macht schon ziemlich viel aus, selbst wenn man eine Bluse oder einen Blazer trägt. Man kann sein Büro-Outfit aber auch mit dezenten Totenkopfansteckern individualisieren.

Trystan ist 48 Jahre alt und arbeitet als Werbetexterin in Silicon Valley. Sie bezeichnet sich selbst als "Sonderling" im Büro. Nach dem Studium wollte sie einen Job finden und Geld verdienen und hat ihre geliebten schwarzen Klamotten an den Nagel gehängt. Allerdings musste sie schnell feststellen, dass sie mit ihrer natürlichen Haarfarbe und den bunten Blusen einfach nicht sie selbst war. "Schon nach einem Jahr habe ich meinen Job gehasst und war todunglücklich. Ich dachte nur noch: 'Ich hasse meinen Job. Ich hasse alles. Das macht mir alles keinen Spaß mehr.'"

Sie schrieb sich schließlich an einer Hochschule ein und fand in den späten 90er-Jahren einen Job in einem Dotcom-Unternehmen. Dort fühlte sie sich wohl genug, um ihre Gothic-Outfits zu tragen, die sie seither nicht mehr abgelegt hat. Allerdings muss sie auch manchmal Kompromisse machen: Bei der Arbeit verzichtet sie auf ausladende Petticoats, aufreizende Corsagen und ihren geschwungenen Lidstrich. Das liegt aber vor allem auch daran, dass sie am Morgen weder die Zeit noch die Energie hat, sich so lange um ihr Aussehen zu kümmern. Stattdessen kombiniert sie Anzüge und hohe Schuhe mit Krawatten und Schmuck mit kleinen Totenköpfen. "Als erwachsener Grufti muss man sich auch manchmal auf das Wesentliche beschränken. Es geht mehr darum zu lernen, wann und zu welchen Anlass man die Zeit und die Energie aufbringen möchte, um sich in Schale zu werfen."

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Einige Eldergoths bekommen den Druck von außen besonders stark zu spüren und stellen sich letztendlich die Frage, ob sie ihre Zugehörigkeit zu der Subkultur auch weiterhin sichtbar zur Schau stellen möchten. Da die meisten Menschen davon ausgehen, dass jugendliche Subkulturen ein Ablaufdatum haben, werden auch die Gothic- und Punk-Kultur von vielen Menschen nur als Phase betrachtet, die wieder vergeht. Das hat auch zur Folge, dass viele Goths mit Kindern Schwierigkeiten haben, von anderen konservativeren Eltern akzeptiert zu werden. Venters ist dennoch der Meinung, dass sich Frauen nicht verändern müssen sollten, nur weil sie Eltern werden. "Nur weil man Kinder bekommt, heißt das nicht, dass man keine eigenen Interessen mehr haben kann oder kein eigenständiger Mensch mehr ist", sagt Venters. "Ich habe Freunde, die Eltern sind und dennoch als Gothics leben. Sie zeigen ihren Kindern ganz klar: 'Das bin ich, das ist mir wichtig und ich bin immer für dich da, um dich zu unterstützen.'"

Einmal habe ich eine schwarz-weiß gestreifte Strumpfhose und ein Samtkleid getragen, als mir jemand hinterher schrie: 'Du solltest dich schämen, so vor die Tür zu gehen.'

Mary st ebenfalls Teil der Gothic-Szene. Die Kanadierin hatte einige Jahre damit zu kämpfen, ihre Leben als Goth und ihr Leben als Mutter unter einen Hut zu bekommen. Als sie 2000 mit ihrem kleinen Sohn nach Ontario zog, entwickelten sich ihre mittelalterlichen Rüschenblusen und ihre schwarzen Klamotten zu einer echte Hürde, um Anschluss bei den konservativen Müttern zu finden. "Ich kann mich noch daran erinnern, dass eine Mutter mal zu mir meinte: 'Ach, du bist die Gothic-Mama?'" Mary wurde von dieser Aussage komplett verunsichert und versuchte, sich mehr wie die anderen Mütter anzuziehen: "Ich hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht, was ich anziehe. Mit diesem einen Satz hat sich mein Aussehen komplett verändert. Ich habe immer mehr versucht, so wie die anderen jungen Mütter zu sein. Das hat mich ihnen aber auch nicht näher gebracht. Ich sah zwar so aus wie sie, mochte aber ganz andere Musik und las ganz andere Bücher. Dadurch wurde mir klar, dass ich nichts mit diesen Vorstadtmuttis gemein hatte."

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Um mehr wie die anderen Mütter auszusehen, versuchte Mary, die viktorianischen Klamotten aus ihrem Kleiderschrank durch Teil zu ersetzen, die in ihrem Augen mehr ihrem Alter entsprachen. "Ich habe mehr bunte Sachen getragen und mich mehr daran orientiert, was gerade modern war. Ich habe damals in einem ziemlich hippen Laden gearbeitet und ständig die neuesten Klamotten ausgepackt." Mary hat ihren Stil über vier Jahre lang komplett verändert. Als ihr Sohn älter wurde, wurde ihr dann aber klar, dass farbige Kleidung nichts für sie war. Also kramte sie ihre alten Klamotten hervor. "Es war mir irgendwann egal, was die anderen Mütter denken. Ich wollte einfach so sein, wie ich bin und ich fühle mich tatsächlich auch wohler, wenn ich mich anziehen kann, wie ich will. Das Äußere spiegelt das Innere wieder."

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Natalie ist 36 Jahre alt und kommt aus dem englischen Lancashire. Sie sagt, dass sie auch den Druck von außen spürt, ihren Kleidungsstil zu anzupassen. Sie quält sich jeden Tag mit der Frage, ob sie ihre Bondage-Gürtel und ihre Corsagen ablegen und sich stattdessen lieber "ihrem Alter entsprechend" anziehen sollte. "Als ich noch jünger war", sagt Natalie, "bin ich auch in voller Montur – Eyeliner, Strümpfe, wallende Röcke und Corsagen – in den Supermarkt gegangen. Mittlerweile stimme ich mein Outfit mehr mit meiner Umgebung ab, um nicht ständig negative Kommentare zu bekommen. Einmal habe ich eine schwarz-weiß gestreifte Strumpfhose und ein Samtkleid getragen, als mir jemand hinterher schrie: 'Du solltest dich schämen, so vor die Tür zu gehen.'" Natalie bleibt ihrem Stil zwar treu, fragt sich aber trotzdem regelmäßig, wie ihr Stil bei anderen ankommt und ob sie nicht irgendwann zu alt dafür ist.

Venter glaubt nicht, dass es ein Ablaufdatum dafür gibt, Goth zu sein. Sie ist davon überzeugt, dass mit dem Alter nicht nur die Weisheit kommt, sondern auch die Meinung anderer keine so große Rolle mehr spielt. Die meisten Frauen kennen das Gefühl, dass die Gesellschaft von ihnen erwartet, die fürsorglichen Ernährerinnen zu sein, die im Alter immer weiter unsichtbar werden. Doch Venters widerspricht dieser Ansicht vehement. Sie möchte, dass Frauen so sichtbar und extravagant wie möglich altern.

"Es gibt mit Sicherheit viele Menschen, die der Meinung sind, dass ich mit 48 Jahren keine pinken oder roten Haare mehr haben sollte. Aber das ist ihre Meinung. Das kümmert mich nicht."