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Wie eine indische WhatsApp-Gruppe gegen Jungfräulichkeits-Tests ankämpft

In der Kanjarbhat-Community müssen sich Frauen in der Hochzeitsnacht einem demütigendem Ritual unterziehen, um ihre Keuschheit zu beweisen. Das soll jetzt ein Ende haben.
Eine indische Braut vor der Hochzeitszeremonie
Eine indische Braut vor der Hochzeitszeremonie | Foto: imago | Xinhua

Priyanka Tamaichikar ist die Schreie der frisch verheirateten Frauen am Morgen nach der Hochzeitsnacht schon gewöhnt. Innerhalb des indischen Kanjarbhat-Stamms weiß jeder, warum die Bräute zusammengeschlagen werden: Die Frauen haben den Jungfräulichkeitstest nicht bestanden – das Laken ist nicht blutverschmiert, sondern weiterhin weiß. Jetzt will Tamaichikar zusammen mit fast 40 anderen Mitgliedern der Kanjarbhat-Community der 400 Jahre alten Tradition ein Ende bereiten. Dafür tauschen sie sich regelmäßig in einer WhatsApp-Gruppe namens "Stop the V-Ritual" aus.

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"In der Gruppe konnte ich mich zum ersten Mal vor Mitgliedern meiner Community gegen die Jungfräulichkeitstests aussprechen", sagt Tamaichikar. Die 27-jährige Immobilienmaklerin sei schon immer gegen das Ritual gewesen. Sie gesteht aber auch ein, dass es noch nie gern gesehen wurde, den Test in Frage zu stellen. Durch das Ritual sollen Kanjarbhat-Frauen davon abgehalten werden, vor der Ehe und außerhalb ihrer Kaste Sex zu haben. Der Großteil der rund 200.000 Mitglieder des Kanjarbhat-Stamms lebt heute im indischen Bundesstaat Maharashtra. Jungfräulichkeitstests sind dort immer noch gang und gäbe.

Bei dem Test begleiten einige Verwandte das frisch verheirate Paar in ein Hotelzimmer. Dort wird die Braut von weiblichen Verwandten entkleidet, die sicherstellen, dass sie keinen Gegenstand bei sich trägt, mit dem sie eine Blutung verursachen kann. Der Bräutigam bekommt dann ein weißes Tuch gereicht, auf das die Braut während des Geschlechtsverkehrs bluten muss. Die Mutter des Bräutigams nimmt das blutverschmierte Tuch dann als Beweis dafür entgegen, dass die Braut vor der Ehe noch Jungfrau war – und damit "Charakter" bewiesen hat.


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"Wenn es beim Sex nicht richtig klappen will, soll sich das Ehepaar Pornos anschauen. Es gab auch schon Fälle, in denen andere Ehepaare aus der Familie demonstriert haben, wie man Sex hat", erzählt die 28-jährige Vivek Tamaichikar, Priyankas Cousine und Gründerin von Stop the V-Ritual. "Die Privatsphäre und die Würde der Frauen werden dabei mit Füßen getreten." Vivek ist eine der ersten Frauen, die sich geweigert haben, den Test zu machen, obwohl sie innerhalb der Kanjarbhat-Community geheiratet hat.

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Es sind aber nicht nur junge Frauen mit Studium und Beruf, die sich gegen die Tradition auflehnen. Auch die 56-jährige Leelabai Bambiyasing Indrekar ist ein enthusiastisches Mitglied der WhatsApp-Gruppe. Sie wurde im Alter von zwölf Jahren verheiratet, mittlerweile ist sie geschieden.

"Man muss nicht gebildet sein, um sich über das Ritual aufregen zu können", sagt die Großmutter zweier Enkel. Auch sie musste den Test damals über sich ergehen lassen und kritisiert ihn jetzt scharf: "Das Ganze ist wie eine Zirkusvorstellung, bei der nur die Männer unterhalten werden."

Damit bezieht sich Indrekar auf den Morgen nach dem Test. Das Ehepaar kommt öffentlich mit den Stammesführern der Kanjarbhats zusammen, auch andere Mitglieder der Community sind anwesend. Dann fragt einer der Stammesführer den Bräutigam in einem alten Dialekt, ob die Braut noch "ungebraucht" oder schon "benutzt" gewesen sei.

"Wie kann man eine Frau nur so zu einem Objekt machen?", fragt Indrekar. "Frauen werden in unserer Community vollkommen degradiert. Warum fragt niemand die Männer, ob sie noch Jungfrauen sind? Heutzutage geben wir Frauen uns nicht mehr einfach so zufrieden", fügt sie wütend hinzu. "Wir sind gleichgestellt!"

Stop the V Test member

Priyanka Tamaichikar | Foto: privat

Der Test ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs, wenn es um die Diskriminierung von Kanjarbhat-Bräuten geht. Wenn sie den Test nicht bestehen, müssen ihre Familien eine Strafe von 10.000 bis 50.000 indischen Rupien [rund 125 bis 625 Euro] an die Stammesoberhäupte zahlen. Und der Bräutigam kann noch eine weitere "Gebühr" von bis zu 100.000 indischen Rupien [knapp 1.250 Euro] verlangen. Weil er eine Frau akzeptiert, die schon sexuell aktiv war.

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Einige Frauen, die beim Jungfräulichkeitstest durchfallen, werden von ihren Männern – und manchmal sogar auch von deren Müttern – misshandelt. "Ich kenne Frauen, die deswegen zu Hause geschlagen, getreten oder gar mit Gegenständen malträtiert wurden", sagt Tamaichikar. "Das Ausmaß der Verletzungen bleibt oft geheim, weil keines der Opfer von sich aus darüber reden will."

Der Jungfräulichkeitstest kann sich sogar auf das Leben von Frauen auswirken, die noch gar nicht geheiratet haben. "Meine Schwestern und ich durften nicht in die Schule gehen. Unsere Eltern hatten Angst, dass wir dort mit Jungs reden und 'schlimme' Dinge machen. Das war nicht fair", erzählt die 46-jährige Padmabai Gaikwad, die außerhalb der Kanjarbhat-Community geheiratet hat und den Test deswegen nicht machen musste.

"Das Ganze schafft ein unerträgliches Umfeld für Frauen. Die Wurzel des Problems liegt aber gar nicht bei den Familien, sondern bei den Panchayats", erklärt Vivek. Panchayats sind Zusammenschlüsse von fünf hoch angesehenen Ältesten, die in ihrer Community das Sagen haben und sogar eigene Verfassungen formulieren können. Bei den Kanjarbhats besagt diese Quasi-Verfassung, dass Jungfräulichkeitstests als Grundlage der eheliche Gemeinschaft gelten.

Der Panchayat kann eine Art gesellschaftlichen Boykott gegen jede Frau verhängen, die sich gegen den Test stellt. In anderen Worten: Sie und ihre Verwandten dürfen dann nicht mehr an Zusammenkünften wie Hochzeiten oder Beerdigungen teilnehmen. Solche Boykotts werden auch noch in Maharashtra ausgesprochen, obwohl sie die Regierung dort verboten hat.

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"Die Mädchen aus meiner Community sollen wissen, dass sie auch ein würdevolles Leben führen können."

Diesen Januar machte Stop The V-Ritual Schlagzeilen, als drei junge Aktivistinnen bei einer Hochzeit von einem 40-köpfigen Mob angegriffen wurden. In der Gruppe geht man davon aus, dass ein Panchayat die Gewalt anordnete. Zudem gingen Anfang des Jahres über 200 Kanjarbhat-Frauen auf die Straße, um für den Jungfräulichkeitstest zu demonstrieren. Dabei skandierten sie, dass das Ritual ein wichtiger Teil ihrer Tradition sei, und verlangten eine öffentliche Entschuldigung von Stop The V-Ritual.

Vivek glaubt, dass solche Reaktionen auf die Angst innerhalb der Community zurückzuführen sind. "Unsere Gegner und Gegnerinnen wissen, dass die Medien und führende Politiker auf unserer Seite sind. Außerdem ist bekannt, dass wir rechtlich gegen die Jungfräulichkeitstests vorgehen wollen", sagt sie.

Stop The V-Ritual arbeitet derzeit an einer Petition gegen Jungfräulichkeitstests, mit der die Gruppe vor den obersten Gerichtshof Indiens ziehen will. Die größte Hürde, die es dabei zu überwinden gilt: genügend Daten und Indizien zusammenzubekommen. Vor allem junge und mittelalte Frauen, die den Tests mitmachen mussten, wollen sich nicht offiziell äußern, weil sie Angst vor einem gesellschaftlichen Boykott haben. Deswegen sucht die Gruppe vor allem in den sozialen Netzwerken nach Beweisen – etwa Audio- oder Videoclips von Kanjarbhat-Hochzeiten in ganz Indien.

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In Indien wird WhatsApp häufig dazu genutzt, Gewalt gegen Minderheiten anzustacheln. Inzwischen verwenden aber immer mehr Inderinnen den Nachrichtendienst als nützliches Werkzeug in ihrem Kampf gegen das Patriarchat. Die Aktivistengruppe "We Speak Out" setzt sich gegen Genitalverstümmelung bei Frauen ein. Bei WhatsApp finden Opfer dieses grausamen Brauchs einen Safe Space, in dem sie über ihre Erfahrungen reden können. Und derzeit diskutiert man vor dem obersten Gerichtshof Indiens über ein Verbot von Genitalverstümmelungen.

"Betroffene Menschen greifen auf WhatsApp zurück, wenn sie über sensible Themen reden wollen", sagt ein Sprecher der App gegenüber Broadly. "Deswegen ist jeder WhatsApp-Anruf und jede WhatsApp-Unterhaltung komplett verschlüsselt. Anders gesagt: Niemand – nicht mal WhatsApp selbst – hat Zugriff auf private Gespräche."

Abseits der virtuellen Welt bleibt der Alltag von indischen Aktivisten und Aktivistinnen aber weiterhin sehr gefährlich. Davon kann vor allem Tamaichikar ein Lied singen. Von den rund 60 Kanjarbhat-Familien in ihrer Wohngegend sind sie und ihre Verwandten die einzigen, die sich offen gegen den Jungfräulichkeitstest aussprechen. Ihre Nachbarn haben Tamaichikar deswegen schon damit gedroht, sie zusammenzuschlagen oder ihr Zuhause zu verwüsten. Davon lässt sich die junge Inderin aber nicht abschrecken.

"Ich werden den Kampf weiterführen", sagt sie. "Die Mädchen aus meiner Community sollen wissen, dass es auch einen Weg gibt, ein würdevolles Leben zu führen.

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