Sex in Büchern: Wenn „verführerische Vorhaut“ auf „begierige Klitoris“ trifft
Illustration by Vivian Shih

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Sex in Büchern: Wenn „verführerische Vorhaut“ auf „begierige Klitoris“ trifft

Schlechter Sex in Büchern kann mindestens genauso frustrierend sein wie schlechter Sex im wahren Leben. Doch woran erkennt man eigentlich schlechte beschriebene Sexszenen? Wir haben einen Experten gefragt.

Was macht schlechten Sex aus? Auf diese Frage finden wohl die meisten von uns recht schnell eine Antwort: vorzeitige Ejakulation, Scheidentrockenheit, Tränen. Über die Frage, was schlecht beschriebene Sexszenen in Büchern ausmacht, haben dagegen vermutlich bisher die wenigsten von uns nachgedacht. Die Frustration kann aber in beiden Fällen ähnlich groß sein.

Wer eine schlecht beschriebene Sexszene sieht, erkennt sie meist sofort—die Fehler, die die Autoren machen, können dagegen so vielfältig sein wie die sexuelle Begegnung selbst. Grundsätzlich hat man oft den Eindruck, dass Autoren Probleme damit haben, die Worte „Vagina" und „Penis" auszusprechen und sich stattdessen lieber in wilde Metaphern stürzen, die den Leser meist vollkommen ratlos zurücklassen.

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Die folgende Sexszene stammt aus Morrisseys List of the Lost und ist vermutlich ein guter Ausgangspunkt für weitere Diskussionen:

Darauf verwandelten sich Eliza und Ezra in einen kichernden Schneeball aus vollschlanker Kopulation, schreiend und rufend, als sie sich spielerisch bissen und aneinander zerrten wie in einer gefährlichen und lärmenden Achterbahn-Spirale aus leidenschaftlicher Rotation, wobei Elizas Brüste wie zwei Fässer über Ezras heulenden Mund rollten und der ekstatische Schmerz seines knolligen Ständers seine Aufregung etwas milderte, während er schlagend und schmatzend seinen Weg in jeden von Elizas Muskeln fand, abgesehen von der anderweitig zentralen Zone. Die beiden fielen unbeholfen vom Bett, wobei beide erschraken und dennoch in ihrem beeinträchtigten Unbehagen weiter lachten, während sie sich vor Schmerzen krümmten.

Was daran so schlimm ist? Ein Leser, der wirklich versucht, der Handlung zu folgen und wissen möchte, was da vor sich geht—Sex—, riskiert durch so absurde Abstraktionen wie „lärmende Achterbahn-Spirale" oder „gekrümmtes Unbehagen" vom Weg abzukommen und niemals wieder zurückzufinden. Ja, Sex kann wild und komisch sein und es kann auch so weit gehen, dass es sich anfühlt, als würden Brüste „wie zwei Fässer" über „einen heulenden Mund rollen", allerdings liegt über der gesamten Szene eine solche sprachliche Verirrung und Atemlosigkeit, dass die Realität der Szene vollkommen vernebelt wirkt. Die gelebte Realität—die Realität, die die Handlung für den Leser nachvollziehbar und fassbar macht—wird zweitrangig.

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Frank Brinkley ist stellvertretender Herausgeber des renommierten britischen Magazins Literary Review und war in diesem Jahr als Pressesprecher für die „Bad Sex in Fiction Awards" zuständig. Der Bad Sex in Fiction Award ist ein eher ironisch gemeinter Negativpreis, der jedes Jahr an zeitgenössische Romanautoren für die schlechteste Beschreibung einer Sexszene verliehen wird. Brinkley ist der Meinung, dass Hyperbeln das am häufigsten wiederkehrende Verbrechen von schlecht geschriebenen Sexszenen sind. Morrisseys „kichernder Schneeball aus vollschlanker Kopulation" und „sein knolliger Ständer" veranschaulichen das sehr deutlich. Natürlich gibt es aber noch unzählige andere Beispiele: Ethan Canin (A Doubter's Almanac) vergleicht Sex mit „einem lebhaften Tennismatch oder einem Leichtathletikwettkampf"; Janet Allis (The Butcher's Hook) nennt die Erektion eines Mannes eine „verwegene Schwellung"; und wenn eine Frau zum Höhepunkt kommt, schreibt sie: „Ich laufe über wie Getreide in einem Eimer."

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Wenn es um die Beschreibung einer Sexszene geht, sagt Brinkley, fühlen sich viele Autoren dazu bewogen, die sprachliche Gestaltung noch stärker in Anspruch zu nehmen als normal. „Die Autoren versuchen, ihre Sexszenen so schön, orgasmisch und erfüllend wie nur irgend möglich zu gestalten", sagt er, „oder aber sie verlassen sich zu sehr auf die sprachliche Gestaltung und versuchen, die Szene durch verschiedene Metaphern und seltsame Vergleiche innovativ und neu wirken zu lassen."

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Im Gegensatz zu schlechtem Sex, der meist recht einfach zu erkennen ist, ist es oft sehr schwer zu definieren, was schlecht geschriebene Sexszenen ausmacht. Literary Review begründet seine Auswahl damit, dass sie „die Aufmerksamkeit auf die kruden, geschmacklosen, oft nachlässig geschriebenen und redundanten sexuellen Passagen in modernen Romanen [lenken wollen], um solche künftig zu verhindern."

In vielen Fällen, sagt Brinkley, wird Sex zu so einer Art blindem Fleck für Romanautoren, die Straßenmärkte, Sonnenuntergänge und selbst den Gang zur Toilette sonst meisterhaft beschreiben. „Am Ende hat man diese völlig überzogene Bildsprache vor sich, weil der Autor versucht hat, das Ganze herunterzuspielen oder weil er eine neue, interessantere Möglichkeit finden wollte, um das Ganze zu beschreiben. Dabei wäre es viel besser gewesen, wenn er bei der Realität geblieben wäre", erklärt er. „Ein Merkmal von schlecht beschriebenen Sexszenen ist, dass sie meist überhaupt nicht zum Rest des Buches passen. Machmal liegt das aber auch daran, dass der Autor mit einer etwas anderen Haltung an die Sache rangeht."

Die Romanautorin und Literaturprofessorin Elizabeth Mosier sagt, dass Sex in Büchern fundiert und anschaulich sein sollte, womit sie meint, dass man sich nicht auf übermäßige Intellektualisierungen oder stylisiertes, pornografisches Vokabular verlassen sollte. „Herausragende Bücher sollten immer anschaulich sein—nicht abstrakt. Einige Autoren neigen dazu, Sex zu intellektualisieren, bis man sich fragt: ‚Wo soll das Ganze eigentlich spielen?' Am Ende ist man nur verwirrt", sagt sie. „Menschen sind unvorhersehbar und komplex und Sex stellt nur eine von unzähligen Möglichkeiten dar, die der Schriftsteller nutzen kann, um das zum Ausdruck zu bringen. Man tut sich keinen Gefallen, wenn man versucht, die Menschlichkeit der Charaktere zum Ausdruck zu bringen, dann aber eine Kehrtwende macht, die den Leser von der wahrgenommenen Wahrheit wegführt und man stattdessen eine vorgefasste Geschichte beschreibt. Genau das ist es, was schlechte Texte ausmacht: abstrakte und konzipierte Geschichten, von denen man eigentlich gar nicht glaubt, dass sie wahr sind."

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Was Texte stark macht, sagt Mosier, ist nicht das „erregende" Vokabular, das man aus Pornos kennt—pochende Glieder oder ähnliches—, sondern vielmehr umgangssprachliche Formulierungen, die etwas über den Charakter einer Figur oder das Umfeld der Geschichte verraten.

Schlecht beschriebene Sexszenen sind für Leser (und Kritiker) gleichzeitig aber auch unglaublich spannend und witzig, weil sie auf so viele verschiedene Art und Weisen schlecht sein können. Bei den Bad Sex Awards 2016 wurde eine Szene aus Tom Connollys Men Like Air nominiert—aus einem sehr ungewöhnlichen Grund: In einer Szene, bekommt ein Mann von einer Frau auf der Flughafentoilette einen geblasen. Währenddessen zieht der Mann ihren Pass aus ihrer Gesäßtasche, um herauszufinden, ob sie ihm tatsächlich ihren richtigen Nachnamen verraten hat. Beim ersten Lesen wirkt die Begegnung noch wie eine ganz normale Blowjob-Szene—nicht besonders aufregend, aber auch nicht wirklich schlimm.

Der Gang zum Terminal war komplett mit Teppich ausgelegt, kein Sauerstoff. Dilly verfrachtete Finn in die erste Toilette, die sie finden konnte, schloss die Kabinentür und zerrte an seinem Ledergürtel. „Du bist wunderschön", sagte sie, sank zu seinen Lenden und öffnete seinen Reisverschluss. Er sah, wie ihr Pass langsam aus der Gesäßtasche ihrer Jeans rutschte, mit dem rhythmischen Auf und Ab ihres Hinterns, als sie ihm einen blies. Er beugte sich über ihren Rücken und griff nach dem Pass, bevor er auf den Boden fiel. Trotz der besonderen Umstände zwang ihn die menschliche Natur, auf das Passbild zu schauen.

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An einem bestimmten Punkt bemerkt man dann allerdings, dass das Ganze anatomisch völlig unmöglich ist. „Man wird von der Situation mitgerissen und plötzlich denkt man: ‚Moment mal, wie lang sollen die Arme von dem Kerl denn eigentlich sein?'", meint Brinkley. „‚Wie soll das gehen?'"

In einer Szene aus Gayle Formans Leave Me stößt man auf derart veraltete Rollenklischees, dass es einem ebenfalls den Atem verschlägt: Forman beschreibt an einer Stelle, wie die weibliche Hauptperson dasteht, „ihr Kleid ein Bündel auf dem Boden, wie ihre Knie anfingen zu zittern, als wäre sie ein Jungfrau, als wäre dies ihr erstes Mal." Sie spürt die stürmisch pochende Brust ihres Liebhabers und stellt fest, dass sein Herz „genauso wild schlägt wie ihres." Brinkleys sarkastisches Urteil hierzu lautet nur: „Es scheint, als hätte sich die Autorin von der ganzen Szene ein bisschen zu sehr mitreißen lassen."

Review verleiht den „Bad Sex in Fiction Award" seit 1993. Ursprünglich wurde der Preis von der Literaturkritikerin Rhoda Koenig und der ehemaligen Herausgeberin von Literary Review, Auberon Waugh, ins Leben gerufen, weil sie den Eindruck hatten, dass Sexszenen in der Belletristik zunehmend redundant geworden sind. „Es schien fast so, als würden die Autoren von ihren Verlagen gesagt bekommen, dass sie noch eine Sexszene einfügen sollten, damit das Buch eine bessere Schlagzeile abgibt, in der es dann heißt: ‚Haben Sie den neuen Roman von so-und-so gelesen? Da gibt es eine pikante Sexszene'", sagt Brinkley. „Sie wollten einen eigenen Preis ins Leben rufen, um sich über Preisverleihungen und den beunruhigenden Trend in der Belletristik lustig zu machen."

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Der erste Autor, der den prestigeträchtigen Preis gewonnen hat, war Melvyn Bragg. Er wurde wegen folgender Passage ausgewählt: „Mit geschlossenen Augen, meine Finger in dir, greife ich hinein in die schmelzende Flüssigkeit aus gummierter Seide—eine Reliefkarte voller Geheimnisse. Die begierige Klitoris riecht nach dir. Unsere Zungen imitieren unsere Finger. Deine Hände greifen nach mir, streicheln mich—ganz vorsichtig, um mich nicht zu sehr zu erregen." Die Liste der nominierten Autoren sowie der unterschiedlichen Genre und Kritikpunkte ist seit damals Jahr für Jahr gewachsen: Der Preis ging unter anderem an Tom Wolfe, Norman Mailer und Manil Suri, aber auch an unbekanntere Autoren wie Wendy Perriam. Perriam hat den Preis 2002 aufgrund ihrer Fixierung auf die Erotik von Nadelstreifen in einer Szene in Speak Softly bekommen: „Merkwürdigerweise trug er auch Nadelstreifen, wenn er nackt war. Nadelstreifen waren erotisch, die Uniform der Väter, zweidimensionaler Väter. Selbst Mr. Hughes Penis hatte eine verführerische Vorhaut mit Nadelstreifen."

Selbstverständlich stößt der Preis auch regelmäßig auf Ablehnung von Autoren und Kritikern, die der Meinung sind, dass es fies und gemein ist, schlechte Romane vorzuführen. Im Hinblick auf die Verleihung des Bad Sex Awards 2016 hat der irische Autor Rob Doyle einen Artikel für die Irish Times geschrieben. Der Titel: „Zu Ehren des schmutzigen Romans: Lasst uns mehr über Sex lesen und schreiben." Unter anderem bezeichnet er den Bad Sex Award darin als „Schampolizei."

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„Jedes Jahr machen die Engländer—dieses kichernde, feindselige und von Selbsthass erfüllte Volk—einen Sport daraus, sich über einen Roman lustig zu machen, der ihrer Meinung nach schlecht geschriebene und redundante Sexszenen enthält", schreibt er. „Ich finde den Bad Sex Award ziemlich albern und habe mir daher immer vorgestellt, was für eine große Ehre es wäre, einen zu bekommen. (Falls ich jemals einen gewinne, möchte ich nämlich mit einem Reiterzug durch die Straßen Londons ziehen und dazu einen Umhang tragen, so wie Mussolini.)"

Von all den Autoren, die den Preis gewonnen haben, hat Morrissey es wohl am schlechtesten aufgenommen. Er meinte gegenüber der uruguayischen Zeitung El Observador, dass „es zu viele gute Dinge im Leben gibt, um sich von solchen widerwärtigen Abscheulichkeiten runterziehen zu lassen." Die meisten Autoren stecken es allerdings deutlich besser weg. „Morrissey war kein guter Verlierer. Die meisten nehmen das Ganze sehr viel sportlicher und normalerweise sind die Kommentare der nominierten Autoren ziemlich lustig. Sie wissen, dass der Preis nicht ernst gemeint ist und dass sie dadurch vielleicht sogar noch ein paar Bücher mehr verkaufen werden", sagt Brinkley.

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The Erotic Review, ein anderes britisches Literaturmagazin, hat 2016 verkündet, dass sie einen Award für gut geschriebene Sexszenen ins Leben rufen werden—ein Vorschlag, der alle paar Jahre immer wieder von anderen Kritikern kommt. „Wir haben genug gelacht", sagte Lisa Moylett, Herausgeberin von The Erotic Review, im Oktober gegenüber der Times. „Wir geben auf. Keine schlechten Sexszenen mehr in Büchern. Das sollten wir feiern."

Brinkley sieht allerdings keinen Reiz darin, gut geschriebene Sexszenen auszuzeichnen. „Ich habe den Eindruck, dass eine Auszeichnung für eine gute Sexszene ein bisschen so wäre, als würde man einen Preis für eine gelungene Beschreibung eines Sonnenuntergangs verleihen oder ein gutes Einleitungskapitel", sagt er. „Dabei sollte das doch in jedem Roman so sein. Das Ganze noch extra hervorzuheben, wirkt in meinen Augen ein wenig eigenartig. Es gibt unzählige Bücher mit guten Sexszenen. Es ist nicht so, dass der beschriebene Sex wunderschön, athletisch oder für alle Beteiligten befriedigend sein muss—es muss einfach nur gut geschrieben sein. Bei der Auszeichnung schlechter Sexszenen in Büchern geht es darum, dass es schlecht geschrieben ist—nicht darum, dass der Sex schlecht ist."

Der diesjährige Sieger des zweifelhaften Literaturpreises ist übrigens der italienische Autor Erri De Luca. Sein Buch The Day Before Happiness enthält nämlich Perlen wie „Mein Schwanz war eine Planke, die an ihrem Bauch klebte" und „Unsere Geschlechtsteile waren bereit, beherrscht von der Erwartung, sich gegenseitig kaum berührend: zwei Balletttänzer, die auf ihren Spitzen schweben."