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HIV

Viele Heterosexuelle merken erst viel zu spät, dass sie AIDS haben

Experten warnen, dass heterosexuellen Männern und Frauen oft nicht klar ist, dass sie gefährdet sind. Aus diesem Grund erhalten die meisten von ihnen die Diagnose erst, wenn das Virus bereits bleibende Schäden angerichtet hat.
Photo by David Smart via Stocksy

Experten warnen vor einer alarmierenden Zahl von heterosexuellen Männern und Frauen, die erst merken, dass sie sich mit HIV infiziert haben, wenn das Virus bereits bleibende Schänden hinterlassen hat.

Knapp die Hälfte aller Frauen (49 Prozent), die im Jahr 2015 die Diagnose HIV erhalten haben, haben erst in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium festgestellt, dass sie das Virus in sich tragen. Auch bei 55 Prozent der Männer, die im vergangenen Jahr die Diagnose erhalten haben, wurde die Krankheit erst sehr spät diagnostiziert. Ingesamt erhielten 40 Prozent der Betroffenen, die im vergangenen Jahr mit HIV diagnostiziert wurden, ihre Diagnose erst sehr spät. Diese Zahlen beziehen sich auf England, tatsächlich handelt es sich dabei aber um ein Problem, das auch hierzulande greift.

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In Deutschland ist die Zahl der Neuansteckungen nach Angaben des deutschen Robert-Koch-Instituts seit einigen Jahren unverändert. Allerdings haben die Experten auch hierzulande bereits im vergangenen Jahr davor gewarnt, dass die Zahl der heterosexuellen, mit HIV infizierten Menschen im Jahr 2014 leicht gestiegen ist und die Erkrankung in dieser Gruppe meist erst sehr viel später diagnostiziert wird. Schätzungen zufolge lebt ein Viertel der auf heterosexuellem Weg mit HIV infizierten Menschen in Deutschland ohne Diagnose. In der Gruppe der HIV-infizierten Männer, die mit Männern Sex haben, sind es dagegen nur 17 Prozent.

Es scheint also international ein hoher Aufklärungsbedarf zu bestehen, um das öffentliche Bewusstsein für die Übertragung und das Leben mit HIV zu fördern.

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Ärzte sprechen bei HIV dann von einer späten Diagnose, wenn das Virus angefangen hat, das Immunsystem des Betroffenen anzugreifen. Technisch gesehen bedeutet das, dass die CD4-Zahl (die Zahl der weißen Blutkörperchen zur Bekämpfung von Infektionen) unter 350 gefallen ist. Bei einem gesunden Erwachsenen sollte diese Zahl zwischen 500 und 1.500 liegen. Wenn sie unter 200 fällt besteht die Gefahr, schwer krank zu werden und sogar zu sterben. Es kann drei Jahre dauern, bis der Körper diesen Punkt erreicht hat, was das Risiko, die Infektion an andere weiterzugeben, enorm erhöht.

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Diese Daten stammen vom Terrence Higgins Trust. Die britische Wohltätigkeitsorganisation hat hierfür Statistiken britischer Gesundheitsbehörden ausgewertet und stellte dabei unter anderem fest, dass heterosexuelle Männer oft nicht davon ausgehen, dass sie AIDS bekommen könnten und sich deshalb nicht testen lassen. Das hat zur Folge, dass 55 Prozent der späten Diagnosen bei heterosexuellen Männern gestellt werden. Bei afrikanischen Menschen, die südlich der Sahara leben, ist das Risiko, dass sie die Diagnose erst sehr spät erhalten, am zweihöchsten (49 Prozent), gefolgt von heterosexuellen Frauen.

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Es ist wichtig zu betonen, dass das Risiko, sich mit HIV zu infizieren oder bereits infiziert zu sein, bei homosexuellen und bisexuellen Männern nach wie vor am höchsten ist. Im Jahr 2015 wurden 3.320 der 6.095 neuen Diagnosen in England bei schwulen oder bisexuellen Männern gestellt, womit sie rund die Hälfte der Fälle ausmachen. Auch in Deutschland stellen Männer, die Sex mit Männern haben, noch immer die am stärksten von HIV betroffene Gruppe dar. Von 3.200 Neuinfektionen wurden 2.200 bei homosexuellen Männern diagnostiziert. Diese Zahl sinkt allerdings seit einigen Jahren und die weiterverbreitete Annahme, dass es sich um eine „Schwulenkrankheit" handle, ist nicht nur falsch, sondern auch ziemlich homophob.

Foto: Victor | Flickr | CC BY 2.0

Dieser Trugschluss könnte allerdings auch ein Faktor sein, der dazu beiträgt, dass viele Diagnosen erst in einem späten Stadium gestellt werden. „Wir erleben immer wieder, dass infizierte Leute, bei denen die Diagnose sehr spät gestellt wurde, dachten, dass ihnen das nicht passieren könnte", erklärt Simone Howard vom Terrence Higgins Trust. „Heterosexuelle Menschen fühlen sich nicht so gefährdet wie andere Menschen. Sie denken, sie bekämen eher Chlamydien oder Herpes, weil darüber auch sehr viel öfter gesprochen wird."

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Die falsche Wahrnehmung, dass AIDS nur schwule Männer trifft, schadet uns allen. In Großbritannien haben sich Aktivisten dafür eingesetzt, das potenziell lebensrettende HIV-Präventionsmedikament PrEP Hochrisikogruppen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Hierzu zählen unter anderem Sexarbeiter, Mitglieder der afrikanischen Gemeinschaft sowie homosexuelle und bisexuelle Männer. Allerdings hat die homophobe Stigmatisierung des Medikaments in den Medien dazu beigetragen, dass entschieden wurde, das Medikament nicht durch den Nationalen Gesundheitsdienst Englands (NHS) bereitzustellen—trotz unzähliger Beweise, die die Wirksamkeit des Medikaments bestätigen.

In Deutschland ist das Medikament Truvada seit Oktober 2016 zur Prävention von HIV zugelassen, kann von Ärzten bisher allerdings nur auf Privatrezept verschrieben werden. Das heißt, dass auch in Deutschland die Medikamentenkosten von mehr als 800 Euro im Monat selbst getragen werden müssen. Ob das Medikament auch irgendwann von den Kassen bezahlt wird, ist laut Angaben der Deutschen AIDS-Hilfe bisher noch offen, da generell nur wenige Medikamente zur Vorbeugung von den Kassen finanziert werden.

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Rund ein Viertel der in England lebenden Menschen, die derzeit unter HIV leiden, wissen nicht, dass sie das Virus in sich tragen, so die NHS. In Deutschland geht man von rund 15 Prozent aus: Das Robert-Koch-Institut schätzt, dass von 84.700 HIV-Infizierten 12.600 nichts von ihrer Infektion wissen. Diese Leute könnten—ohne es zu wollen—andere Menschen, mit denen sie in Kontakt kommen, infizieren. Außerdem merken sie lange Zeit nicht, dass ihr Immunsystem potenziell bleibende Schäden erleidet. Dank der Fortschritte in der modernen Medizin können Menschen zwar auch mit HIV ein langes und gesundes Leben führen, entscheidend ist dabei allerdings, dass die Erkrankung in einem frühen Stadium diagnostiziert wird, damit die Behandlung Wirkung zeigt. „Wenn das Virus nicht früh genug behandelt wird, läuft man Gefahr, ernsthaft krank zu werden", sagt Howard.

Die aktuellen Zahlen legen nahe, dass die Arbeit zur Aufklärung von HIV verdoppelt werden müsste. „Fehlendes Wissen und ein mangelndes Verständnis für die Übertragung des Virus sind die Hauptursache für eine späte Diagnose", erklärt Howard. Sie betont, dass man bereits an Schulen und Universitäten aufklären sollte, weil die meisten jungen Menschen in dieser Zeit sexuell aktiv werden.

„Es geht darum, Leute in jungen Jahren aufzuklären und sicherzugehen, dass in Schulen und Hochschulen darüber gesprochen wird."


Foto: pixabay.com | Pexels | CC0