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Kultur

Die Berliner Clubszene hat ein Frauenproblem

Die deutsche Hauptstadt gilt als weltoffene Partymetropole, in der alles möglich ist. Trotzdem stehen hinter den Reglern vor allem Männer. Wir haben mit den Frauen gesprochen, die das ändern wollen.
Berlin Disaster bei einem ihrer Gigs | Foto: Danilo Sierra

„Musik hat kein Geschlecht" heißt es. Wer sich aber das DJ-Lineup von Berliner Clubs und Festivals anschaut, stellt fest: Musik hat eben doch ein Geschlecht – sie ist männlich. Das gilt nicht nur für Deutschland. Das britische DJ Mag packte zu seinem 25. Geburtstag im April 2016 nur Männer aufs Cover. Später rechtfertigte sich das Magazin, man habe bei der Auswahl für die „bahnbrechendsten DJing-Momente der letzten 25 Jahre" sehr strikte Kriterien gehabt. Eines der Kriterium: Um es auf das Cover der Jubiläumsausgabe zu schaffen, musste der entsprechende Künstler vorher schon einmal auf dem Cover des DJ Mag gewesen sein. Das war nur für sehr wenige Frauen der Fall—unter anderem für „DJ" Paris Hilton.

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In Berlin will man eigentlich anders sein. Hier gilt die Clubszene als alternativ und weltoffen. Aber: Frauen hinter den Plattenspielern, das ist auch in Berlin eher eine Seltenheit. Laut einer Erhebung des internationalen Künstlerinnen-Kollektivs Female Pressure, kommt im Bereich Electronic Dance Music auf neun männliche DJs gerade mal ein weiblicher. Die Zahlen allerdings schwanken von Club zu Club: Während bei der Berghain Klubnacht im November 2015 neun von 61 DJs weiblich waren, kamen im ://about blank auf 79 männliche DJs 15 weibliche. Die Erhebung ist nicht repräsentativ, aber die Stichproben zeigen: Auflegen ist was für Jungs. Warum eigentlich?

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„Es gibt eine gläserne Decke", sagt Zoe Rasch bei Apfelschorle und Espresso in einem Kreuzberger Café. Sie gründete 2012 Mint, eine Plattform für Frauen-DJs und Produzentinnen in der elektronischen Musik. Mint vernetzt, schult und präsentiert Künstlerinnen. Auf einem Festival in Italien lernte Zoe damals DJ Ena Lind kennen. Die beiden verstanden sich auf Anhieb und Zoe übernahm Enas Booking. Schnell merkte sie, wie schwierig das Booking für weibliche DJs ist—weil in den Entscheiderpositionen meistens Männer sitzen. Zoe stellt fest: „Manche Promoter und Booker sehen dich nicht, wollen dich nicht sehen, antworten nicht."

Booker wollen eine sichere Nummer und buchen den klassischen bekannten männlichen Act.

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Die gläserne Decke ist für Zoe der Punkt, an dem viele weibliche DJs große Schwierigkeiten haben, Bookings, also Auftritte zu bekommen, um sichtbar zu werden. Sie betont, dass die Clubszene generell ein hartes Pflaster sei, für Männer und Frauen: „Das Nachtleben hat ja keine übliche Firmenstruktur. Du bewirbst dich ja nicht mit deinem Lebenslauf, sondern musst präsent sein, ein Netzwerk und ein Standing haben." Dieses Standing zu bekommen, ist für Männer dann aber doch etwas leichter, denn die Szene wird von einer Art „Kumpelwirtschaft" bestimmt. Und da sind Frauen raus: Weibliche DJs werden öfter als männliche einfach ignoriert und nicht gebucht.

Eine Zeit lang schauten Zoe Rasch und Ena Lind sich das Ganze an. Dann reichte es ihnen—sie riefen eine eigene Veranstaltungsreihe ins Leben. Quasi ein weiblicher Gegenentwurf zur „Kumpelwirtschaft": Seit 2012 gibt es die monatliche „Mint Klubnacht" mit rein weiblichem Lineup in wechselnden Berliner Clubs. Die Klubnacht will Frauen in der elektronischen Musik sichtbarer machen, weibliche Rolemodels und Newcomerinnen präsentieren. Männer sind als Gäste explizit willkommen, schließlich soll ein breites Publikum erreicht werden. Trotzdem sollen die Parties auch einen geschützten Raum für Frauen bieten, die Türpolitik ist deshalb streng: „Prolls, die baggern, lassen wir nicht rein", macht Zoe klar. Das Party-Konzept mit eigener Türpolitik funktioniert auch deshalb so gut, weil Mint sich die Clubs gut aussucht. Ob ://about blank, Farbfernseher, Prince Charles oder Else: Diese Clubs ziehen ein alternatives, teilweise auch politisches Publikum an, das sich mit dem feministisch inspirierten Konzept von Mint besser anfreunden kann als in anderen Clubs.

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Zoe Rasch, ganz links, und der Rest der „Mint-Familie" | Foto: Joie Iacono

Die Parties waren von Anfang an ein großer Erfolg, aber Zoe und Ena fanden, man müsse noch weiter gehen. „Die Sache konsequent weiter denken", wie Zoe es nennt. 2015 gründeten die beiden Frauen die Mint Booking Agentur. Mittlerweile betreut die Agentur acht Künstlerinnen aus dem Bereich House und Techno. Zoe ist zufrieden: „Wir wachsen und stoßen mehr und mehr auf offene Ohren."

Clubs sind das eine, Festivals das andere. Vielleicht sind beide aber auch nur zwei Seiten derselben Medaille, denn: Es geht um Besucherzahlen, um Einnahmen. Und da setzt man lieber auf das vermeintlich sichere Erfolgskonzept Mann. Das weiß auch Daniela Seitz. Zusammen mit Anja Weigl hat sie vor fünf Jahren Creamcake gegründet. Creamcake fördert innovative Musik, stellt auf verschiedenen Veranstaltungen und einer eigenen Partyreihe unbekannte Künstlerinnen und Künstler vor und operiert an der Schnittstelle zwischen Musik, Kunst und digitaler Kultur. Daniela sagt: „Bei den großen Festivals geht es natürlich darum, möglichst viele Besucher zu haben und Tickets zu verkaufen. Deshalb wollen Booker eine sichere Nummer und buchen den klassischen bekannten männlichen Act."

Die erfolgreichen Künstlerinnen müssen den Newcomerinnen noch mehr die Türen öffnen.

So entsteht eine Art Teufelskreis. Weil Frauen gar nicht erst gebucht werden, bekommen sie auch keine Sichtbarkeit und damit keine Gelegenheit, sich als „sichere Nummer" zu etablieren. Das Ergebnis sieht dann so aus bei wie beim diesjährigen Berliner Atonal Festival, wo nur ein Bruchteil der 90 Künstler weiblich ist. Letztes Jahr waren nur zwei von 62 Acts weiblich—eine schwache Zahl für ein Festival, das sich als experimentell und unkonventionell versteht. „‚Innovative' festivals that book largely male, largely white line-ups. Congrats @BerlinAtonal you're one of them!" twitterte der anonyme Account @malelineups. (Zu Deutsch: „‚Innovative Festivals, die vor allem ein männliches, weißes Lineup buchen. Herzlichen Glückwunsch, @BerlinAtonal, du gehörst dazu!")

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Das Argument, dass es eben weniger weibliche DJs gebe und es schwieriger sei, diese zu finden, lässt Daniela Seitz nicht gelten: „Klar spielen in der Top-Liga immer noch Männer. Aber es gibt glücklicherweise Listen und Verzeichnisse mit weiblichen DJs, die man sich anschauen kann." Female Pressure zum Beispiel bietet eine komplette Datenbank mit Künstlerinnen. Die Tatsache, dass für elektronische Festivals noch so wenige Frauen gebucht werden, ist für Daniela eine Mischung aus Mutlosigkeit und Vetternwirtschaft in der Szene. Männer fördern hauptsächlich Männer und verlassen sich dabei meistens auf ihr bereits bestehenden Netzwerk—das wiederum zum großen Teil aus Männern besteht. Dass weibliche DJs es schwer haben, wird seit Jahren branchenintern und medial diskutiert, das Bewusstsein ist an vielen Stellen da—aber wenn es um das konkrete Booking geht, hapert es dann doch.

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So ist im Jahr 2016 Berliner Clubbetreibern, Festivalkuratoren und Bookern sehr wohl bewusst, dass rein männliche Lineups nicht mehr dem Zeitgeist entsprechen. Engagement für Geschlechtergerechtigkeit und Diversity ist quasi Pflicht. Theoretisch. In der Realität sieht es etwas anders aus. Hier kommt die Quotenfrau ins Spiel. Das Motto lautet: Wir haben doch eine Frau! Wir geben uns doch Mühe! Aber genauso wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, macht eine Frau auf dem Lineup eben noch keine Diversity. „In jeder Clubfamilie gibt es meist ein, zwei Frauen", sagt Zoe Rasch. „Dass es überhaupt eine Frau auf dem Lineup gibt, ist toll, aber einfach noch nicht genug." Sie findet: „Die erfolgreichen Künstlerinnen müssen den Newcomerinnen noch mehr die Türen öffnen." Schon allein deshalb, damit Frauen andere Frauen in der Rolle des DJ sehen.

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Männer haben in dem Bereich jede Menge Vorbilder. Ob David Guetta, Avicii, Skrillex, Diplo oder Calvin Harris: Männer an den Turntables sind der Standard und verdienen damit in manchen Fällen auch noch überdurchschnittlich viel Geld. Natürlich gibt es auch sehr gute weibliche DJs—die kriegen in der Regel aber weder so viel Aufmerksamkeit wie die männlichen Kollegen, noch so viel Geld. Kein Wunder, dass Frauen Hemmungen haben, es überhaupt mal als DJ zu versuchen.

Es heißt oft: Ah, sucht dein Freund für dich die Songs aus? Dabei bin ich es, die ihm ständig neue Sachen zeigt!

Auch deswegen ist Camille Darroux eine Ausnahmeerscheinung. Bei ihr fing alles mit einer CD an. Selbstgebrannt, mit viel Liebe und Indierock. Camille, damals Studentin im westfälischen Münster, drückte sie dem DJ ihres Stammclubs in die Hand. „Ich sagte: Das sind Songs, die du noch nie gespielt hast—die du aber spielen solltest", erinnert sich Camille und nimmt noch einen Schluck Weißwein. Sechs Jahre sind seitdem vergangen und für die Französin hat sich ihre Dreistigkeit gelohnt. Der DJ war beeindruckt, er verschaffte Camille wenige Wochen später einen Gast-Gig als DJ. Eine Premiere, denn Ahnung vom Auflegen hatte Camille nicht. Sie machte es trotzdem, brachte sich das Handwerk nach und nach selber bei—und steht heute in ihrer Wahlheimat Berlin regelmäßig als Berlin Disaster am Mischpult. Statt mit Indierock bringt sie die Massen nun mit Hip Hop, Reggeaton und Dancehall zum Tanzen.

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Nun ist Hip Hop, Reggeaton und Dancehall etwas anderes als House und Techno—und tatsächlich glaubt Camille, dass es im Bereich Hip Hop einfacher für Frauen ist, als DJs gebucht zu werden. Liegt vielleicht am Publikum. Trotzdem sind weibliche DJs auch hier unterrepräsentiert. Also nahm Camille die Dinge selbst in die Hand. Über Twitter lernte sie die ebenfalls in Berlin lebende Schwedin Emma Isabella Karlsson alias White Lie kennen. Die beiden fanden, dass Emmas Vorliebe für jazzigen Rap mit einer Prise Neo-Soul gut zu Camilles musikalischem Repertoire passte—und fingen an, gemeinsam Parties zu organisieren. Das Prinzip ist ähnlich wie bei Mint: Ein rein weibliches Lineup trifft auf ein gemischtes Publikum. Momentan planen die beiden eine Reihe von DJ-Workshops. Die Location steht noch nicht fest, der Name schon: „No Men Behind The Decks".

Emma (links) und Camille | Foto: weareunlikeyou

Woanders ist der Name schon Programm. „Okay, wer von euch kann auf CDJ spielen?" fragt Emma Burgess-Olson und diverse Hände heben sich. Emma hat 2014 in New York das Kollektiv Discwoman mitgegründet. Discwoman fungiert als Booking Agentur und Plattform, die Cis- und Transfrauen sowie genderqueere Künstlerinnen und Künstler vorstellt und vertritt. An diesem Samstagabend im August gibt Emma den ersten Creamcake-DJ-Workshop für Frauen und LGBT im OHM. Draußen scheint die Sonne, drinnen herrscht schummerige Clubatmosphäre. Der Raum ist gut gefüllt, die Gäste sitzen auf Holzbänken und umgedrehten Getränkekisten. Zu Beginn gibt es ein paar technische Grundlagen zum digitalen Musikspieler CDJ sowie Tipps für den Einstieg: Am besten mit Platten üben, Techno ist wegen seines simplen Beats gut geeignet. Das Gehör trainieren, nicht nur darauf verlassen, dass die Maschine alles macht. Danach dürfen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Workshops selber ran. Jeder gelungene Übergang zwischen zwei Tracks wird mit Applaus aus der Menge belohnt. Erst ertönt harter Techno, dann Sisqos „Thong Song". Gelächter und Jubel. „Es kann sehr nützlich und ermächtigend sein, als Frau all diese technischen Dinge zu können", sagt Emma. „Wenn jemand von oben herab mit dir spricht, weißt du sofort, ob er nur Mist erzählt oder wirklich Ahnung hat."

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Neben der mangelnden Repräsentation ist dies das zweite große Problem weiblicher DJs: Sie werden nicht ernstgenommen. „Häufig hören unsere Produzentinnen: Wer produziert denn deine Tracks?", erzählt Zoe Rasch. „Allein die Frage ist doch schon fehl am Platz." Camille Darroux berichtet: „Mein Freund ist Südamerikaner und da ich viel Reggaeton spiele, heißt es oft: Ah, sucht dein Freund für dich die Songs aus? Dabei bin ich es, die ihm ständig neue Sachen zeigt!" Manchmal bekommt sie auch zu hören: „Die haben dich ja nur gebucht, weil du eine Frau bist."

Ein weiblicher DJ zu sein ist eine Art offene Tür für all die Mansplainer da draußen.

Außerdem würden die Leute bei weiblichen DJs mehr auf das technische Können achten als bei männlichen. „Ein weiblicher DJ zu sein ist eine Art offene Tür für all die Mansplainer da draußen", findet Emma Isabella Karlsson. „Ich weiß nicht, wie oft Typen zu mir kamen, während ich spielte, und mich darüber ausfragten, wie viel ich über Musik weiß, mir ungebeten Ratschläge gaben, wissen wollten, wer mein Mixing macht und ob ich nur dastehe, um hübsch auszusehen." Viele Männer hätten sogar an den Reglern gedreht—Emmas Reglern. Was nach selbstgerechten, männlichen Klischees klingt, entspricht viel zu oft der Realität. „Leider ist alles wahr", sagt Emma.

Camille betont, dass es in der Szene auch viele Männer gibt, die sich aktiv für Frauen einsetzen. Emma sieht das etwas kritischer: „Ehrlich gesagt bin ich jedes Mal ein bisschen überrascht, wenn ein Mann aufrichtig unterstützend ist, egal ob Booker oder nicht." Eigentlich machen Camille und Emma bei ihren Veranstaltungen lieber alles selbst, ohne Booker oder Event-Kuratoren. Aber, wie Emma feststellt: „Die Booker, mit denen wir arbeiten, unterstützen uns wirklich. Es ist so, als würden wir eine bestimmte Art von Leuten anziehen, wenn wir unsere Projekte vorstellen. Entweder sind sie angepisst oder sie kapieren es." Ähnlich wie Mint oder Creamcake arbeiten Camille und Emma mit ausgewählten, eher kleineren Clubs zusammen—solche, deren Verantwortliche und Publikum offener für Frauen hinterm Mischpult sind.

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Sexistische Bemerkungen aus dem Publikum sind das eine. In einer Stadt wie Berlin werden solche Bemerkungen zumindest von Männern in Entscheiderpositionen aber nicht mehr laut ausgesprochen. „Das kann sich hier kein Promoter mehr leisten", sagt Zoe Rasch. Die sozialen Medien würden es sehr einfach machen, Fehlverhalten öffentlich zu kritisieren. Offene Diskriminierung habe deshalb keinen Platz mehr in Berlins Clubszene. Das ändert aber nichts daran, dass Männer dort das Sagen haben. Die Berliner Clubszene mag alternativ sein, trotzdem finden sich hier diverse typische Probleme der Mainstream-Gesellschaft: mangelnde Vielfalt und Repräsentation und Sexismus.

Menschen wie Zoe Rasch, Daniela Seitz, Camille Darroux und Emma Karlsson haben keine Lust zu warten, bis sich die Dinge von selber ändern. Denn das könnte unter Umständen sehr lange dauern. Sie wissen: Macht ist etwas, das man nicht gerne und vor allem nicht freiwillig hergibt. Deshalb nehmen sie die Dinge selber in die Hand, vernetzen sich, machen weibliche DJs sichtbar—damit es in Zukunft Frauen in Entscheiderpositionen gibt und Lineups, die zur Hälfte mit Frauen besetzt sind. Letztendlich geht es darum, Kuratoren und Promotern zu zeigen, was alles möglich ist, wenn man nur etwas mehr Vorstellungskraft hat. Darum, dass Risikobereitschaft sich lohnt. Und darum, dass Musik eben nicht nur männlich ist.