Von Madonna bis Lady Gaga: Warum lieben schwule Männer Popmusik von Frauen?
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LGBTQ

Von Madonna bis Lady Gaga: Warum lieben schwule Männer Popmusik von Frauen?

Habt ihr euch schon immer mal gefragt, warum auf Schwulenpartys so häufig Britney läuft? Wir sind dem Phänomen der „Gay Icon“ auf den Grund gegangen.

Ich habe mich in meinen Kinder- und Jugendtagen immer für meinen Musikgeschmack geschämt. Selbst als 13-Jährige war mir von Natur aus klar, dass niemand Atomic Kitten als gute Musik bezeichnen, geschweige denn mögen oder cool finden würde, obwohl ich der Zielgruppe dieser „Kleinen-Mädchen-Musik" entsprach. Ich hatte zu keiner anderen Musikrichtung einen vergleichbaren Bezug, aber dennoch immer das Gefühl, dass Pop als kommerziell und billig wahrgenommen und jeder anderen Musikrichtung mehr Anspruch zugesprochen wird—bis ich einen schwulen Mann kennenlernte, der Pop so liebte wie ich. Mit ihm lernte ich eine Welt kennen, in der es legitim war, stundenlang Britney-Alben zu analysieren oder zu diskutieren, wie empowernd eine bestimmte Robyn-Textzeile ist. Eine Welt, in der ein altes Samantha-Mumba-Lied als interessanter Fund betitelt wird und in der das Wort „Guilty Pleasure" nicht existiert, weil der Gedanke absurd ist, sich schuldig zu fühlen, weil man gerne zu Taylor Swift tanzt.

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Die Geschichte der Liebe schwuler Männer zu weiblichen Künstlerinnen geht weit zurück: Judy Garland etwa wird oft als Inbegriff einer Schwulenikone gefeiert. Unter anderem auch deshalb, weil die Stonewall-Riots, gewalttätige Proteste, die 1969 als Reaktion auf eine Razzia in einem Schwulenclub entstanden, geschichtlich stark mit ihrem Tod verwoben sind. Weil ihr Begräbnis eine Woche vorher stattfand, hielten sich zu diesem Zeitpunkt nämlich viele schwule Männer in New York auf. Die Stonewall Riots kennzeichneten einen Wendepunkt im Kampf um LGBTQ-Rechte und der Christopher Street Day und weltweit stattfindende Gay Pride Events erinnern jährlich an dieses Vermächtnis. Auf der ganzen Welt werden zu diesen Events Hits von Lady Gaga, Britney Spears, Cher, Madonna, Gloria Gaynor oder Kylie Minogue gespielt, da diese Frauen eine besondere Bedeutung für die Gay-Community haben.

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Aber woher kommt diese inbrünstige Liebe vieler schwuler Männer zur Popmusik und ihrer Diven? Obwohl ich mir darüber bewusst bin, dass meine Sozialisation als heterosexuelles, weißes Mittelschichtsmädchen meine Sichtweise beeinflusst und ich nie die Lebenserfahrung schwuler Männer oder anderer Vertreter der LGBTQ-Community nachempfinden werde können, begebe ich mich auf die Suche nach einer Antwort.

Wenn man Begriffe wie „gay pop music" googelt, findet man zahllose Foreneinträge, in denen sich User fragen, warum Schwule so einen „abscheulichen" Musikgeschmack haben. Teils werden diese Fragen mit einem Vorwurf der Verallgemeinerung und Stereotypisierung beantwortet, es gebe immerhin ja auch genug Schwule, die Britney Spears nicht mögen. Auch die Frage nach Schwulenikonen wurde schon öfter aufgegriffen, etwa 2015 im britischen Schwulenmagazin Attitude oder 2012 in der Huffington Post. Denn dass sich eine kollektive schwule Identität rund um Pop und gewisse Diven gebildet hat, lässt sich auch jenseits von Stereotypen festhalten.

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Marco Schreuder zum Beispiel, ehemaliger Sprecher der Grünen Andersrum und selbsternannter Song-Contest-Experte, erzählt im Gespräch mit Broadly, dass er sich auch selbst schon öfter gefragt hat, warum er schon als kleiner Junge in Bad Gastein Liza Minelli liebte, lang bevor er überhaupt selbst realisierte, dass er schwul ist. Schon damals stellt sich eine gewisse Liebe zu starken Frauen ein: In der Schule war er der einzige, der Ingeborg Bachmann verehrte und Hesse langweilig fand.

In seinem Buch Madonna as a Postmodern Myth ordnete Autor George Claude Guilbert Schwulenikonen in zwei Kategorien ein: Sie sind entweder sehr verletzlich wie Judy Garland, oder unantastbar stark, wie Madonna oder Cher. In den meisten Fällen geht es wahrscheinlich um eine Stärke und einen besonderen Überlebenswillen, der sich aus einer Position der Unterdrückung heraus entwickelt hat.

„Schwule können sich mit der sozialen Rolle der Frau mehr identifizieren", sagt auch Andreas Brunner, Leiter von Qwien, dem Zentrum für schwule und lesbische Kultur und Geschichte in Wien. „Frauen können mit ihrem Begehren nicht so frei umgehen wie heterosexuelle Männer. Da können Schwule besser andocken". Aufgrund dieser Rolle kann ein und dieselbe Textzeile aus dem Mund einer Frau authentischer klingen als aus dem eines Mannes, so Brunner: „Die Zeile ‚You ain't nothing but a hound dog' wirkte Ende der 1950er Jahre im Lied ‚Hound Dog' bei Big Mamma Thornton authentisch, weil man ihr glaubte, dass sie von ihrer direkten Erfahrung sang. Elvis Presley hat das Lied erfolgreich gecovert, aber es entspricht einfach nicht seiner Rolle als heterosexueller, umschwärmter Mann, davon zu singen, ständig betrogen zu werden und sich davon zu emanzipieren. Die Erfahrung kauft man ihm nicht ab."

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Die Bühne wird in dieser unterdrückten Rolle als Ort gesehen, an dem man sich—im Gegenteil zur politischen und wirtschaftlichen Realität—frei ausdrücken kann. Dafür wird auch oft der von der amerikanischen Autorin Susan Sontag etablierte Begriff „Camp" verwendet. Mit „Camp" meint man eine künstlerische Ausdrucksweise, die bewusst theatralisch, übertrieben und glamourös ist und stark mit Diven- und Schwulenkultur einhergeht.

Die Bühne wird in dieser unterdrückten Rolle als Ort gesehen, an dem man sich frei ausdrücken kann.

Es geht also oft um Liebes- und Lebensleid, und eben gerade auch, weil Frauen im Pop-Mainstream zumeist über ihre Liebe zu Männern singen, können sich schwule Männer einfühlen. Hinzu kommen oft eine persönliche Nähe zur Schwulen-Community sowie textliche Annäherungen, die im Laufe der geschichtlichen Emanzipation von LGBTQ-Menschen immer expliziter wurden. Was der Soundtrack zu Der Zauberer von Oz mit dem Song „Somewhere over the Rainbow", der signifikant zu Judy Garlands Status als Schwulenikone beigetragen hat, noch der Interpretation einer bunteren Welt bedurfte, in der verschiedene Lebensformen Platz haben, war mit Madonnas „Express yourself" schon wesentlich klarer. Gloria Gainors „I will survive" zeigt einmal mehr, wie stark die feministische Bewegung mit der sexuellen Befreiung queerer Menschen Hand in Hand geht: Das Lied gilt nicht nur als Hymne der weiblichen Emanzipation, sondern auch als Schwulenhymne. In diese Phase fallen auch Cyndi Laupers „True Colors" oder „I'm coming out" von Diana Ross. Mit Beginn des neuen Jahrtausends war das gesellschaftliche Klima dann an einem Punkt, an dem man wesentlich direkter über die Lebenserfahrung Homosexueller sprechen konnte: „Beautiful" von Christina Aguilera und „Born this way" von Lady Gaga sind Zeugen dieser Entwicklung.

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Diese Frauen haben gemein, dass sie nicht nur in ihren Liedern die Lebenserfahrung von LGBTQ-Menschen thematisieren und Individualität und Anderssein hochhalten, sondern auch in ihrem persönlichen Leben keine Berührungsängste hatten, und sich—in unterschiedlichen Ausprägungen—auch öffentlich für deren Rechte aussprachen. Madonna hat sich im Laufe ihrer Karriere regelmäßig gegen die Diskriminierung und für die Gleichstellung Homosexueller ausgesprochen, wobei einer der erinnerungsträchtigsten Momente war, als sie 2012 während eines Konzerts in St. Petersburg das russische „Homosexuellen-Propaganda"-Gesetz kritisierte—wofür sie von der russischen Regierung scharf angeprangert und von einer Gruppe konservativer Vereinigungen sogar angeklagt wurde. Cyndi Lauper tritt regelmäßig bei Gay-Pride-Events auf und ist Mitbegründerin der True Colors World Tour, deren Erlöse LGBTQ-Vereinigungen zugutekommen.

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Solch eindeutige Bekenntnisse konnte man männlichen Popstars wie Robbie Williams zum Beispiel nie abringen. Das Boyband-Milieu aus dem er kam, ist ja meistens ein wenig homoerotisch aufgeladen und spielt auch mit diesem Image—ein Muster, das sich bis heute durchzieht. Während seiner Solo-Karriere spielte Robbie Williams jedenfalls immer wieder mit der öffentlichen Darstellung seiner Sexualität und ließ die Klatschpresse rätseln, ob er nicht doch schwul sein könnte. 2013 ließ er sich zu der Aussage hinreißen, er sei zu 49 Prozent schwul, weil er Musicals mag. Abgesehen davon, dass man 2013 Homosexuelle sicher nicht durch das Reduzieren auf Stereotype ansprechen konnte, würde man das heute Gaybaiting nennen: Das Kokettieren mit Homosexualität, vermeintlich aus dem Grund, weil man damit eine zahlungskräftige Zielgruppe anspricht, deren Geschmack später oft auch Mainstream-Pop-Erfolg voraussagt.

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Heute wird genau das manchmal Nick Jonas vorgeworfen: Er tritt regelmäßig in Schwulenclubs auf, schreibt in einer Kolumne, dass er einmal in der Woche ein Mariah Carey Homeshopping-Video anschaut, baut einen Großteil seiner Album-Promo auf seinen Bauchmuskeln auf und spielt schwule Rollen in den Serien „Scream Queens" und „Kingdom". Aufgrund dieser Rollen meint er, er müsste lügen, wenn er sagen würde, er hätte noch nie schwulen Sex gehabt.—weil er vor der Kamera so getan hat, als hätte er Sex. Tut mir leid, Nick Jonas, aber so funktioniert Sex nicht.

Kritische Medien verurteilten dieses Verhalten als anbiedernd und heuchlerisch, Schreuder und Brunner hingegen sehen das beide nicht so tragisch: „Mir gefällt es, dass ein Popstar in der Lage ist, beide Optionen als völlig legitim darzustellen", sagt Schreuder gegenüber Broadly. Auch Andreas Brunner von Qwien wirft männlichen Popstars ein Nichtfestlegen in keinster Weise vor: „Ich mag es, wenn eine brüchige Form von Männlichkeit repräsentiert wird. Eine, die mehr Spielraum lässt als diese geradlinige, heteronormative Männlichkeit". Andreas Brunner glaubt aber, dass die Community ein ganz gutes Gespür für Authentizität hat, und erinnert sich an die Neunziger: „Als mit der ersten Regenbogenparade und dem Life Ball so ein gewisser Hype in der Techno-Clubszene entstand, dachten viele Clubs, sie können sich da jetzt draufsetzen und machen Dienstag einfach auch eine Gay Night. Das hat aber überhaupt nicht funktioniert und kaum hat jemand aus der Community ein Event ins Leben gerufen, sind die Leute gekommen."

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Ist die Schwulenikone der Zukunft also genau das: schwul?

Der Guardian-Kolumnist Paul Philip Flynn schrieb schon 2006, dass das Konzept der Gay Icon verwässert und durch den Kapitalismus zu einer billigen Marketing-Maßnahme weichgespült wurde. Vielleicht passt das Konzept der Ikonenhaftigkeit und der großen, glamourösen Inszenierung auch einfach nicht mehr ins Jahr 2016, wo wir uns alle im Internet vermarkten und uns inszenieren, als wären wir ein Star. Seit Lady Gagas Durchbruch 2009 gab es eigentlich kein großes Pop-Phänomen mehr, stattdessen sorgen Plattformen wie YouTube für eine Demokratisierung der Musikindustrie—und geben Künstlern wie dem 21-jährigen Troye Sivan eine Plattform. Der offen schwule Künstler hatte sich auf YouTube schon eine riesige Fanbase aufgebaut, bevor er einen Plattenvertrag bekam und bietet eine Identifikationsfläche für junge Schwule. „Troye Sivan ist die Antwort auf viele Fragen, die ich als 13-Jähriger hatte", findet zumindest mein schwuler Freund, von dem ich in der Einleitung erzählt habe. Obwohl Britney und Madonna sich wahrscheinlich noch lange keine Sorgen machen müssen, vergessen zu werden, sehen die neuen Idole in diesem gesellschaftlichen Klima vielleicht ein bisschen anders aus.

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Ist die Schwulenikone der Zukunft also genau das: schwul?

Frauen, die ihre Liebe zu Männern besangen und sich im Laufe der feministischen Bewegung seit den 1960er Jahren aus ihrer unterdrückten Rolle emanzipierten, boten der Gay Community über lange Zeit hinweg Identifikationspotenzial, gerade weil Homosexuelle noch mehr unterdrückt wurden. In den 1960er Jahren waren Razzien und Festnahmen in Schwulenclubs in den USA zum Beispiel noch Gang und Gäbe und erst im Laufe der 1980er Jahre kam es überhaupt zu öffentlichen Coming-Outs von schwulen Popstars. Holly Johnson und Paul Rutherford von Frankie goes to Hollywood waren unter den Ersten, die offen zu ihrer Homosexualität standen. Im Gegenteil zur realen Welt bot dabei die Bühne einen Ort, an dem man seine Gefühle umso emotionaler und ausdrucksstärker präsentieren konnte, und so wurde aus Leid Stärke und Glamour. Diese theatralische Art, sich auszudrücken und diese Frauen, die sich so oft auch als Verbündete im Kampf für Homosexuellen-Rechte herausstellten, wurden dabei zu einem Element im Selbstverständnis der Gay Community, weil das alles eine Welt repräsentierte, die den vermeintlich „anderen" Zugehörigkeit versprach.

Vielleicht werden die schwulen Jungs, die 2016 geboren werden, eine Auswahl an männlichen, weiblichen und ganz-viel-dazwischen Identifikationsfiguren haben, die sie alle auf irgendeiner irren Musikplattform gefunden haben, die wir nicht kennen, weil wir dann zu alt für diesen hippen Scheiß sind. Und den lesbischen und Trans-Teenagern geht es hoffentlich genauso.


Titelfoto: Christina Aguilera: YayA Lee | flickr | CC BY 2.0 | Britney Spears: Jennifer | flickr | CC BY 2.0 | Lady Gaga: nikotransmission | flickr | CC BY 2.0 | Madonna: chrisweger | flickr | CC BY-SA 2.0