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Dating

Von Schamkapseln bis Dick Pics: Die Geschichte der modernen Dating-Kultur

In "The Curious History of Dating" beschreibt die Autorin Nichi Hodgson genauso ungewöhnliche wie seltsamen Wege, wie Menschen im Verlauf der Geschichte die große Liebe gefunden haben.
Photo by Simone Becchetti via Stocksy

Schon seit Anbeginn der Zeit gibt es gewisse Regeln und Tradtionen, an denen sich ein Mensch auf der Suche nach Liebe beteiligen muss. Daran hat sich auch über Jahrhunderte hinweg nichts verändert. Nur in der Frage, wer entscheidet, ob jemand nach rechts oder nach links gewischt wird, hat sich mit Zeit etwas getan. Das sagt zumindest Nichi Hodgons, die Autorin von The Curious History of Dating: From Jane Austen to Tinder.

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Bei ihrem ersten Buch Bound to You nutzte Hodgons den Hype um Fifty Shades of Grey und erzählte von ihrem Leben als professionelle Domina. Mit ihrem zweiten Buch, The Curious History of Dating, möchte sie nun ihre thematische Bandbreite erweitern. Zeigen, dass sie auch eine intellektuellere Seite hat und gleichzeitig dem Trend entgegenwirken, dass Sex, Liebe und Beziehung nur als Frauen- oder Lifestyle-Themen gelten. Wir haben mit der Autorin gesprochen, um etwas Licht in den Dating-Dschungel zu bringen.

Broadly: Gibt es ein viktorianisches Äquivalent zum Dick Pic?
Nichi Hodgson: Ausgepolsterte Schamkapseln kommen nah ran. Man hat sich aber auch schon früher kleine vulgäre Zeichnungen zugeschickt – auch wenn das eher unüblich war. Dick Pics verdanken wir nicht nur der Tatsache, dass wir überhaupt Bilder machen können. Das hat auch mit dem Erfolg des Phänomens zu tun, sich selbst zu fotografieren.

Mehr lesen: "Forever alone" und glücklich – Warum junge Menschen das Daten aufgeben

Du hast dir hunderte Kontaktanzeigen angesehen. Gab es welche, die in deinen Augen hervorgestochen sind?
Nach dem Krimkrieg haben immer mehr Männer angefangen, über ihre verlorenen Gliedmaßen zu sprechen. In einer Anzeige hieß es: "Ich habe nur ein Bein." Eine Frau hat ihm dann geantwortet, dass das für sie total OK ist. Das war ziemlich süß. Es zeugt von Charakterstärke, wenn man über so etwas einfach komplett hinwegsieht.

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Frauen mussten bei Verabredungen schon immer einen strengen Regelkatalog einzuhalten. Viktorianische Frauen mussten immer eine Anstandsdame dabei haben.
Ja, aber das liegt auch an dem vorherrschenden Sexismus, der nach wie vor in unserer Gesellschaft existiert. Vor 1850 hatten Frauen noch nicht einmal das Recht auf Besitz. Sie konnten nichts erben. Was sie bekamen, ging direkt an ihren Ehemann. Selbst die Kinder gehörten theoretisch dem Mann. Deswegen war es auch so wichtig sicherzustellen, dass der zukünftige Gatte kein Prolet war, der das ganze Vermögen verpulvert. Die Anstandsdame war also nicht nur zum Schutz vor ungeplanten Nachkommen da, sondern auch zum Schutz des Vermögens.

Nichi Hodgson. Foto: Little Brown

Das betrifft natürlich nur die Oberschicht. Was war mit Frauen, deren Familien kein Vermögen zu verteidigen hatten?
Die Sache mit den Nachkommen galt natürlich für alle Gesellschaftsschichten. Wer ganz oben stand, wollte das adlige Geblüt schützen und wer ganz unten stand, konnte es sich ein weiters Kind einfach nicht leisten, weil die Frauen arbeiten mussten. Deswegen hat sich die Dating-Kultur mit der Einführung von Verhütungsmitteln auch so stark verändert.

Würdest du sagen, dass die Pille zum radikalsten Umbruch in der Dating-Kultur geführt hat?
Zuvor gab es in Großbritannien noch den Married Women's Property Act von 1882. Das Gesetz wurde zu der Zeit verabschiedet, als Queen Victoria um die Hand von Prince Albert anhielt. Das war auch die Geburtsstunde der romantischen Liebe. Im Zuge der industriellen Revolution gingen immer mehr Frauen arbeiten und es zogen immer mehr Menschen in die Städte. Das hat auch zu einem Umbruch in der Gesellschaft geführt. Es gab ganz andere Wege, Menschen kennenzulernen und sich zu treffen. Romantik war ein wirksames Gegenmittel gegen die damalige Kultur. Denn für die meisten Menschen war das viktorianische England ein schrecklicher Ort. Mit der Zeit verbreitete sich das Konzept von der romantischen Liebe immer weiter – von der Kunst bis hin zu den Karikaturen in den Zeitungen. Gleichzeitig hat sich damit die gesamte Stimmung in der Bevölkerung verändert. Die nächste signifikante Veränderung kam mit Ende des Ersten Weltkriegs. Die Anstandsdamen verschwanden einfach über Nacht, weil plötzlich alle arbeiten gehen mussten und es einfach weniger Männer gab.

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Romantische Liebe stellte schon immer ein Ideal dar. Es wurde nur nicht immer mit der Ehe in Verbindung gebracht.

Das Konzept von romantischer Liebe hat unsere Gesellschaft so durchdrungen, dass man den Eindruck hat, es wäre nie anders gewesen.
Ich glaube, die Vorstellung gab es schon vor der Aufklärung. Damals nahm der Einfluss der Kirche ab und Frauen wurden immer mehr als Menschen mit Rechten betrachtet. Zuvor waren sie nicht mehr als Gebärmaschinen. Romantische Liebe stellte schon immer ein Ideal dar. Es wurde nur nicht immer mit der Ehe in Verbindung gebracht. Die Menschen im viktorianischen Zeitalter haben das gemacht.

Die Dating-Kultur hat sich immer dann verändert, wenn Frauen oder Minderheiten mehr Rechte bekommen haben. Inwiefern hat sich die Dating-Kultur der LGBTQ-Community verändert?
Vom Gesetz her war es immer schwierig, sich zu verabreden. Trotzdem haben die Leute immer Mittel und Wege gefunden, um sich treffen zu können. In den 1850er-Jahren gab es in London zahlreiche Bälle für Drag Queens. In den 20er-Jahren, nach dem Ersten Weltkrieg, zogen dann die ganzen jungen Frauen aus der Arbeiter- und Mittelschicht in die Städte, um dort zu arbeiten. Sie lebten in gemeinsamen Unterbringungen und hatten öfter mal was miteinander. Sie genossen damals gewisse Freiheiten: Sie verdienten ihr eigenes Geld und gingen abends gemeinsam essen. Außerdem haben sie jede Menge Kokain genommen und die ganze Nacht lang zu Jazz getanzt.

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Als homosexueller Mann wurde man im viktorianischen Zeitalter noch mit dem Tod bestraft und auch später wurde man deswegen noch immer verhaftet. Das Gesetz wurde erst 1967 vollständig aufgehoben. Als lesbische Frau bekam man rechtlich einfach keine Beachtung. In den 1920er-Jahren dachte man in England kurze Zeit darüber nach, auch homosexuelle Frauen mit in das Gesetz aufzunehmen und sexuelle Handlungen zwischen ihnen zu verbieten. Allerdings entschied man sich dann doch dagegen, um andere Frauen nicht auf dumme Ideen zu bringen.

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Letztendlich hat man immer eine Lösung gefunden. In den 1930er-Jahren gab es einen Fremdenführer namens For Your Convenience, der einem den Weg zu allen Toiletten in London zeigte, wo man als homosexueller Mann eine Nummer schieben konnte.

Gab es Momente in der Geschichte der Dating-Kultur, in denen sich etwas im Umgang mit verschiedenen Ethnien verändert hat? Rassismus war sicherlich auch hier ein Problem, oder?
Während dem Zweiten Weltkrieg waren viele schwarze Soldaten aus den USA in Großbritannien stationiert. Allerdings waren sie wegen der Rassentrennung in den USA separat untergebracht. Viele schwarze Soldaten wurden in ländlichen Gegenden in England geschickt und die Frauen flogen total auf sie. Nach Kriegsende wurde es den Frauen von der amerikanischen Regierung offiziell verboten, diese Männer zu heiraten. Sie haben sogar ein Gesetz verabschiedet, das sie davon abhalten sollte. Ihre Kinder kamen ins Heim.

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In den 50er-Jahren kamen dann Einwanderer aus der Karibik nach England. Im Jahr 1950 erschien eine wissenschaftliche Untersuchung, die zum dem Ergebnis kam, dass es kein biologisches Risiko darstellt, wenn Menschen verschiedener ethnischer Herkunft heiraten und Kinder bekommen. Großbritannien lockerte infolgedessen seine Einreisebestimmungen für Mitglieder des Commonwealth, aber sie brauchten erst ein wissenschaftliches Urteil, um zu dem Schluss zu kommen, dass es OK war …

Wir sind noch ganz am Anfang der Evolution einer Dating-Kultur, in der auch Frauen mehr zu sagen haben.

Du hast selbst in der Sexindustrie gearbeitet – glaubst du, dass es Parallelen zur Dating-Kultur gibt? Sind Beziehung nicht auch nur Transaktionen?
Männer verfügen nach wie vor über das größte Vermögen und den meisten Besitz. Deswegen scheint es unvermeidlich, dass sie Geld gegen Sex und Zuneigung tauschen, während Frauen Sex und Zuneigung gegen Geld tauschen. Auch wenn es sich im Westen immer mehr die Waage hält – die Gewohnheiten, die sich jahrhundertelang gehalten haben, werden mit Sicherheit nur langsam aussterben. Wir sind noch ganz am Anfang der Evolution einer Dating-Kultur, in der auch Frauen mehr zu sagen haben. Allerdings glaube ich, ist uns selbst noch gar nicht bewusst, was wir alles können.

Die Wissenschaftlerin Catherine Hakim von der Universität von London hat den Begriff "erotisches Kapital" geprägt: Sie beschreibt damit den Charme, den Sexappeal oder die Andeutungen von Sex und Liebe, die wir sowohl gegen Geld als auch gegen andere Freiheiten und Schutz tauschen. Wir bewegen uns auf einer gleitenden Skala zwischen monogamer Ehe und Sexarbeit. Dieser Begriff könnte uns dabei helfen, das zu erkennen.

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Du sprichst auch von Anstandsbücher, auf die sich Menschen seit jeher verlassen haben. Was würdest du zu der heutigen Dating-Etikette sagen?
Ich möchte nicht spießig wirken oder seltsam klingen, aber um ehrlich zu sein, bin ich der Meinung, dass wir viel mehr Regeln bräuchten, was Manieren und Höflichkeit betrifft. Auch wenn es darum geht, Anrufe zu beantworten und auf Nachrichten zu reagieren. Es geht einfach darum, Menschen von Anfang an mit einem gewissen Maß an Respekt zu behandeln.

Es geht also nur darum, nett zu sein?
Ja, es geht darum, kein Arsch zu sein – zu daten und dabei kein Arsch zu sein. Ich glaube, so etwas bräuchten wir dringend.


Foto: Pixabay | Pexels | CC0