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Fotos

Oktoberfest und Kuckucksuhren: der bayerischste Ort der USA

Lederhosen und Kuckucksuhren in den Bergen von Georgia und ein Wild-West-Themenpark mitten in Frankreich—Naomi Harris Fotoserie „EUSA” beschäftigt sich mit entwurzelten Kulturen und antiquierten Stereotypen.
All photos courtesy of Circuit Gallery

Naomi Harris Fotoserie EUSA ist eine Reise in die Vergangenheit. Seit 2008 ist die Fotografin aus Toronto mehrmals durch die USA und Europa gereist, um Städte und Festivals zu besuchen, die sich thematisch um vollkommen fremde Kulturen drehen. Das Ergebnis ihrer fotografischen Reise ist überaus irreführend: Mädchen in Dirndl und Männer in Lederhosen mitten in den USA und Schweden, die unter der umstrittenen Konföderiertenflagge den amerikanischen Bürgerkrieg nachstellen. Harris Fotos zeigen, dass auch angesichts der Globalisierung noch überall auf der Welt antiquierte Stereotypen existieren.

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Die Cantina-Show im OK Corral im französischen Cuges Les Pin.

Broadly: Wie bist du auf das Konzept von EUSA gekommen?
Naomi Harris: Ich habe gerade die letzten Aufnahmen für mein Buch America Swings gemacht, in dem es um Swingerpartys geht. Hierfür war ich irgendwo in den Bergen von Georgia unterwegs und weil ich noch ein wenig Zeit übrig hatte, hat mir jemand empfohlen, mir noch eine kleine Stadt namens Helen anzusehen, die nur ungefähr 45 Minuten entfernt lag. Also bin ich dort hingefahren und habe festgestellt, dass der ganze Ort wie eine Stadt in Bayern aussah. Es war voller touristischer Läden, die Kuckucksuhren und T-Shirts mit der Aufschrift „It's a southern thing, ya'll!" verkauft haben. Der ganze Ort war eine wirklich seltsame Mischung aus Bayern und den amerikanischen Südstaaten. Was ich aber am Eigenartigsten daran fand, war, dass die Gründerväter der Stadt noch nicht einmal Deutsche waren. Anscheinend entstand diese Idee aus einer finanziellen Krise heraus.

Nachdem die Silbermine der Stadt geschlossen worden war, erlebte Helen eine schlimme Rezession. Bei einer Gemeindeversammlung haben die Leute dann entschieden, Lebkuchen an die Häuser zu hängen und die ganze Ort in eine Art Themenpark zu verwandeln. Die Stadt liegt an einem wunderschönen Fluss und es ist tatsächlich ein ziemlich schöner Ort, deswegen macht das Ganze auch irgendwie Sinn. Außerdem rühmt sich Helen mit dem längsten Oktoberfest in ganz Nordamerika. Es fängt im September an und dauert bis Ende November

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Jedenfalls bin ich an diesem Abend zurück in mein Hotel gegangen und habe mir gedacht: Wenn es eine solche Stadt mitten ins Georgia gibt, was für Städte gibt es dann wohl noch? Das war 2008. Ich habe angefangen zu recherchieren, wobei ich auf einen Ort namens Frankenmuth im US-Bundesstaat Michigan—auch eine bayerisch inspirierte Stadt—sowie ein paar holländische Städtchen in Iowa gestoßen bin. Nachdem ich gesehen habe, dass es genug europäisch angehauchte Orte in den USA gibt, habe ich mich gefragt, ob es auch irgendetwas Amerikanisches in Europa gibt. Ich habe schnell festgestellt, das man so etwas überall in Europa findet—in Frankreich, Spanien … Im Grunde hat jedes Land in Europa irgendeinen schrulligen Freizeitpark im Wild-West-Stil. Europäer scheinen total auf die amerikanische Kultur aus der Zeit der Pioniere zu stehen. Sie sind aus irgendeinem Grund total fasziniert von den amerikanischen Ureinwohnern und Cowboys.

Es wirkt irgendwie verrückt, dass die deutsch angehauchte Stadt in Georgia gar keine wirkliche Verbindung zu Deutschland hat. In einem Vorwort zu deiner Fotoserie sagst du selbst, dass du dich bei deiner Arbeit auch mit dem Thema Nostalgie beschäftigt hast. Ich finde, das wird in dem Foto von den Mädchen im Dirndl besonders deutlich. Sie sehen aus wie früher, schreiben aber SMS und sehen genauso gelangweilt aus wie jeder andere moderne Teenager. Gleichzeitig wirken sie aber auch irgendwie in der Zeit zurückversetzt. Das Bild ist wirklich faszinierend.
Das ist in Frankenmuth in Michigan. Ich habe die Mädchen gesehen und gedacht, dass es ein witziges Bild wäre. Europäer nehmen ihre Adaptionen aber definitiv sehr viel ernster als die Amerikaner. In der Regel sind all ihre Kostüme handgenäht. Sie legen sehr viel Wert auf Detailtreue. In den Staaten geht es dagegen nicht so ernst zu. Selbst wenn jemand nur ein T-Shirt mit einem Lederhosen-Print anhat, tut es das auch.

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Deutsche „Indianer" in der Pullman City Westernstadt, Eging am See

Als du deine Reise geplant hast, hast du da auch Zeit eingeplant, um Orte einfach zufällig zu entdecken oder hattest du jeden Ort, den du fotografiert hast, auch schon vorher auf deiner Liste?
Viele dieser Veranstaltungen finden nur im Sommer statt—vor allem wegen dem Wetter und weil die Kinder Ferien haben. Ich habe fast jeden Ort, an dem ich war, schon vorher gekannt. Das Projekt hat sich aber über mehrere Jahre entwickelt. Ich habe 2008 damit begonnen und habe 2009 wieder weiter fotografiert. Alle Aufnahmen, die ich 2010 geschossen habe (das waren fast 60 Filme) habe ich in die Gefriertruhe gelegt, weil ich nicht das Geld hatte, um sie entwickeln zu lassen. 2011 bin ich dann durch Kanada gereist und 2013 durch die USA. Mein Freund, der in einem Fotolabor gearbeitet hat, hat dann irgendwann seinen Job gekündigt und bot an, die Filme kostenlos zu entwickeln. Im Frühjahr 2014 habe ich das Projekt dann wieder aufgenommen.

Als ich in Europa war—genau genommen bin ich innerhalb von sechs Wochen nach Europa, dann wieder zurück nach Kanada und wieder zurück nach Europa geflogen—, bin ich eigentlich einfach so drauf los gefahren. Ich habe ein Auto gemietet und wollte einfach die Gegend erkunden. Unterwegs bin ich entweder bei Freunden geblieben oder habe in meinem Wagen geschlafen. Mittlerweile habe ich einen Honda Element, also so eine Art Kombi, in dem ich immer schlafe. Außerdem habe ich eine großartige Luftmatratze, die ich überall hin mitnehme. Wenn ich keine Lust habe, 60 Euro für eine Übernachtung zu zahlen, blase ich einfach meine Luftmatratze auf und werfe sie in mein Auto. In Frankreich habe ich mal ein Tipi reserviert. Das war in einem Park namens OK Corral und war ziemlich teuer: 250 Euro für zwei Nächte. Als ich dort ankam, haben sie mein Tipi aber schon jemand anderem gegeben. Am Ende habe ich die Nacht dann doch in meinem Auto verbracht.

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Das Monument Valley im Cowboyland in Voghera, Italien

Ich bin auch neugierig, was du über deine Reise durch Amerika erzählst, weil dein erstes Buch America Swings sich auch in gewisser Weise mit der amerikanischen Kultur beschäftigt hat: Das Leben von mittelständischen Swingerpärchen in den Vororten amerikanischer Städte. Was fasziniert dich als Kanadierin so an Amerika?
Zum Teil liegt das auch daran, dass ich selbst die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen habe. Ich habe ursprünglich mit einer Greencard in New York gelebt, wollte aber wieder zurück nach Toronto, obwohl ich wusste, dass ich meine Greencard verlieren würde, wenn ich nicht sechs Monate lang in den Staaten bleibe. Also beschloss ich, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Da ich einen Einbürgerungstest machen musste, bin ich einfach quer durch das ganze Land gefahren, um zu lernen, was es heißt, ein US-amerikanischer Staatsbürger zu sein. Das ist ein weiteres Projekt von mir. Ich nenne es „U S of Eh", weil ich Kanadierin bin. Ich habe noch nicht weiter daran gearbeitet, aber ich hoffe, dass bald mal dazu komme. Oft denken die Leute aber, dass du dich nur über sie und ihr Land lustig machen willst, wenn du dich einem Projekt widmest, in dem es um die USA geht, du selbst aber gar nicht aus den USA kommst.

Französische Mädchen am Eiffelturm in Las Vegas, Nevada

Eine Sache, die ich in deiner Fotoserie EUSA bemerkt habe, ist, dass es nur sehr wenige Bilder von farbigen Menschen gibt. Ich persönlich denke, dass sagt viel über die Natur und die Faszination von Nostalgie aus. Das kommt in deinen Fotos sehr stark zum Ausdruck. Haben an den Orte, an denen du fotografiert hast, vorwiegend weiße Menschen gelebt?
Als ich in Helen im US-Bundesstaat Georgia war, saß ich neben zwei farbigen Männern in Lederhosen und ihren beiden weißen Freundinnen im Dirndl—aber es stimmt schon: Farbige Menschen stechen in diesem Kontext in gewisser Weise hervor. Fast jeder von ihnen ist weiß. In Europa habe ich überwiegend weiße Menschen getroffen. In Deutschland ist die Wild-West-Kultur beispielsweise ja auch nur so beliebt, weil die meisten als Kinder Winnetou gelesen haben. Ingesamt hat Karl May 27 Bücher über den Apachen Winnetou und seinen Freund Old Shatterhand geschrieben. [Anmerkung der Autorin: In der Filmadaption aus den 60er-Jahren wurde Winnetou von dem weißen, französischen Schauspieler Pierre Brice gespielt. Der Charakter von Winnetou hat darüber hinaus auch dazu beigetragen, den Stereotyp vom „edlen Wilden" zu fördern, das unseren verklärten Blick auf nicht-europäische Minderheiten nach wie vor prägt.]

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Die beiden sind gemeinsam durch Amerika gereist und sind immer wieder auf irgendwelche böse Gestalten gestoßen. Bei Karl May geht es immer nur um Gut gegen Böse und das Gute gewinnt am Ende immer. Die Abenteuer der beiden sind seit den 1920er-Jahren bei Kindern sehr beliebt—selbst Hitler mochte die Bücher angeblich ziemlich gerne. Viele der Festivals und Themenparks gehen deshalb auch zurück auf die Popularität dieser Bücher, die vor 40 Jahren von einer vorwiegend homogen weißen Bevölkerung gelesen wurden.

Ein deutscher „Indianer" schaut sich die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg an

Kannst du uns etwas über die Aufnahme von dem schwedischen Pärchen erzählen, das vor der Konföderiertenflagge steht und angezogen ist wie zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs?
Die beiden sind eigentlich Vater und Tochter. Die Tochter ist angezogen wie eine Cancan-Tänzerin aus einem Bordell im Wilden Westen. Das war eine der allerersten Veranstaltungen, die ich fotografiert habe—ungefähr drei Stunden außerhalb von Stockholm. Manche Leute waren angezogen wie Soldaten, andere wie Pelzjäger. Das war alles ziemlich durchgemischt. Von diesem Mann habe noch ein Foto gemacht, in dem er angezogen ist wie ein Pelzjäger. Viele der Leute dort haben ihre Kostümen mehrfach gewechselt. Ich habe auch noch einen anderen Mann fotografiert, der zuerst angezogen war wie ein Soldat aus dem Unionsheer, dann sah er plötzlich wie ein Pelzjäger aus und einmal hatte er sogar ein Mexikaner-Kostüm an. Das hat wirklich überhaupt keinen Sinn gemacht. Er hatte eine Sombrero auf.

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Ein Soldat des Unionsheers mit seiner Tochter in Hillerstorp, Schweden

Warum hat er sich denn wie ein Mexikaner angezogen? Ich glaube nicht, dass es beim amerikanischen Bürgerkrieg irgendwelche Mexikaner gab.
Ich weiß nicht! Ich schätze, weil die Amerikaner irgendwann mal gegen die Mexikaner in Texas gekämpft haben? Sie haben wahrscheinlich einfach alle Kriege ineinander gemischt. Doch dafür, dass dieser Typ aus Schweden höchstwahrscheinlich weder Verwandte hatte, die im amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft haben, noch sonst irgendwelche Verbindungen zu Pelzjägern oder der mexikanischen Kultur hatte, hat er das Ganze definitiv ziemlich ernst genommen. Mir war es bei meinem Projekt auch sehr wichtig, die Homogenisierung unserer Kulturen darzustellen. Mittlerweile könnte man mich wahrscheinlich in irgendein Flugzeug setzen und irgendwo mit verbundenen Augen abwerfen und ich hätte wirklich Schwierigkeiten, allein anhand der Kleidung der Leute zu erkennen, wo ich bin.