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Film

Warum junge Frauen so anfällig für religiöse Radikalisierung sind

"Der Himmel wird warten" zeigt die Geschichte zweier Mädchen, die sich dem IS anschließen. Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar erklärt, mit welchen perfiden Tricks Terrororganisationen im Netz nach Nachwuchs suchen.
Szene aus "Der Himmel wird warten"| Foto: Neue Visionen Filmverleih

Verloren, unverstanden, alleingelassen. Wer sich von seinem Umfeld und der Gesellschaft ausgegrenzt fühlt, muss sich nicht mehr seinem Tagebuch anvertrauen. Im Internet findet sich immer jemand, der zuhört – oft sind es nur eben die Falschen. Die französische Journalistin und Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar zeigt in ihrem neuen Film Der Himmel wird warten, wie zwei junge Frauen über das Internet radikalisiert werden. So unterschiedlich auch die Beweggründe der beiden Protagonistinnen sein mögen, eine Sache haben sie gemein: Ihnen wurde zum richtigen Zeitpunkt die richtige Lüge erzählt.

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Dass der Film, der am 23. März in die deutschen Kinos kommt, so erschreckend realistisch wirkt, hat einen Grund: Während ihrer Recherche sprach Mention-Schaar mit Hilfsorganisationen, Expert_innen und jungen Frauen, die selbst Opfer der Online-Indoktrinierung wurden. Wir haben uns mit der Französin, die mit Cercle Féminin du Cinéma Français ganz nebenbei auch einen Verein zur Stärkung von Frauen in der Filmbranche gegründet hat, in Berlin getroffen. Herausgekommen ist dabei ein Gespräch über die Macht von Worten, die verführerische Seite des Märtyrertodes und eine verlorene Jugend auf der Suche nach einer Aufgabe.

Mehr lesen: Missbrauch, Schmerz, Demütigung – die Geschichte einer IS-Sklavin

Broadly: Ein Weg, Frauen in der Filmbranche präsenter zu machen, ist natürlich, Filme über sie und ihre Erfahrungen zu schreiben. Fokussieren Sie sich in Der Himmel wird warten deswegen auf zwei junge Frauen?
Marie-Castille Mention-Schaar: Das ist auf jeden Fall nicht der Hauptgrund. Wenn du dir meine letzten drei Filme anguckst, sind Frauen in jedem einzelnen sehr präsent. Ich werde von dem engen Kreis an Leuten, die das Drehbuch als erstes lesen, auch oft darauf angesprochen, dass Männer bei mir immer nur kleine Rollen haben, dabei mache ich das gar nicht mit Absicht. Das sind einfach die Geschichten, die ich interessant finde. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich als Frau mit der Geschichte von zwei Teenager-Mädchen besser identifizieren kann, ich war ja schließlich auch mal eins. Es stand für mich auf jeden Fall nicht zur Debatte, welches Geschlecht meine Hauptcharaktere haben – es war von Anfang an klar, dass es zwei Mädchen sein werden.

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Wir hatten mal einen Artikel darüber, dass die Indoktrination durch Social Media bei Frauen besser funktioniert und der IS ganz bewusst Frauen dazu einsetzt, andere Frauen über die sozialen Medien zu rekrutieren.
Das stimmt. Junge Männer werden auch ganz anders rekrutiert. Da spielt es beispielsweise eine Rolle, ein besserer Mensch zu werden. Wenn junge Männer zum Beispiel angefangen haben, sehr viele Drogen zu konsumieren oder sexuell so freizügig sind, dass sie selbst glauben, dass es nicht "normal" sein kann. Da lässt sich leicht mit Religion ansetzen und sagen, dass sie einen garantiert von dieser "Sucht" befreien kann.

Uns fehlt es heutzutage an einem Dialog zwischen den Generationen. Vielleicht ist das Teil des Problems.

Bei Mädchen habe ich oft das Gefühl, dass es auch etwas ganz anderes hätte sein können, wofür man sie begeistert. Die Leute, die sie rekrutieren, wissen natürlich ganz genau, wann und wie sie Empathie zeigen und was sie ihnen erzählen müssen, aber unterm Strich zählt nur, wie mit ihnen gesprochen wurde; ob ihnen das gesagt wurde, was sie in dem Moment hören wollten. Die Meisten denken am Anfang auch, dass es um eine gute Sache geht. Dass sie Leute retten, dass sie Kinder verteidigen und für die kämpfen können, für die sich sonst niemand interessiert. Die Mädchen sind oft in einem Alter, in dem sie tatsächlich glauben, etwas bewegen zu können.

Man wirft der jungen Generation ja gerne vor, dass sie sich nur noch für Oberflächlichkeiten interessieren und lieber Selfies posten, als sich mit gesellschaftspolitischen Themen auseinanderzusetzen. Ich glaube aber, dass das ziemlich unfair ist. Die Leute fühlen sich einfach verloren, weil sich um sie herum so viel verändert. Die machen Ausbildungen in Berufen, von denen sie nicht wissen, ob es die in 20 Jahren noch gibt.
Oder in zwei Jahren!

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Marie-Castille Mention-Schaar | Foto: Neue Visionen Filmverleih

Genau. Deswegen ist es womöglich einfacher, diese Leute davon zu überzeugen, sich dem Kampf für einen großen vermeintlich guten Zweck anzuschließen, als jemanden, der viel mehr Stabilität in seinem Leben hat.
Ich glaube außerdem, dass die Pubertät, die Teenager-Zeit per Definition eine sehr fragile Zeit voller widersprüchlicher Emotionen zu deinen Freunden, deiner Familie, der Gesellschaft an sich ist. An einem Tag bist du in eine Person verliebt, am darauffolgenden Tag hasst du sie – weißt du, was ich meine? Alles ändert sich so schnell, das ist wie eine Explosion. In diesen Jahren passiert so viel und die beiden Mädchen in meinem Film befinden sich gerade mittendrin. Die sind noch keine 22 und haben ein politisches Gewissen, sie basieren ihre Entscheidungen auf Emotionen. Ich gebe dir Recht: Natürlich gibt es diese Fassade, die sehr materialistisch und gleichzeitig auch sehr virtuell ist, für die Marken wichtig ist und das äußere Erscheinungsbild, die sehr oberflächlich ist. Das ändert aber nicht, was in uns steckt und was jeder Mensch in diesem Alter durchmacht.

Wenn ich mich da an meine Jugend zurückerinnere, habe ich mir natürlich Gedanken darüber gemacht, was in der Welt passiert, aber ich hatte keine Angst davor, was mit mir in zwei, drei Jahren passieren würde. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, ob die Welt untergeht, weil wir sie klimatisch so kaputt gemacht haben. Wir hatten damals nicht diese apokalyptischen Befürchtungen, die wir jetzt haben. Ich glaube, wir als Erwachsene versetzen uns in junge Menschen diesbezüglich nicht so sehr hinein, wie wir es tun sollten. Wir glauben, dass die junge Generation genau dasselbe umtreibt wie uns damals. Ich glaube, uns fehlt es heutzutage an einem Dialog zwischen den Generationen. Vielleicht ist das Teil des Problems, vielleicht müssen wir daran arbeiten.

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Mehr lesen: Wie die Boko Haram aus Mädchen Terroristen macht

Sie haben im Vorfeld des Drehs mit vielen jungen Frauen gesprochen, die über soziale Medien radikalisiert wurden. Was haben die ihnen erzählt? Was waren die Punkte, die sie überzeugt haben?
Ihnen wird da eine Fantasie verkauft—was sie mittlerweile auch verstanden haben—, deswegen ist es auch so schwierig, da raus zu kommen. Es ist eine Lüge, gleichzeitig spricht diese Lüge aber etwas in ihnen an. Deswegen ist es so schwierig, diese Lüge zu töten und eine neue Wahrheit zu finden. Sie brauchen etwas, was sie erfüllt, damit sie das Gefühl haben, dass ihr Leben einen gewissen Sinn hat. Egal ob das jetzt bedeutet, dass sie jemand Besonderes sind und etwas Besonderes, Gutes tun, oder Teil einer Gruppe sind, in der sie sich aufgehoben fühlen. Es ist sehr schwierig, das aus jemandem rauszukriegen.

Da kommt dann vielleicht ein Junge, der dir erzählt, dass du hübsch bist und besonders und dass er sich gerne mit dir unterhält – und du fängst einfach an, ihm zuzuhören. Wir alle brauchen an bestimmten Punkten jemanden, der uns so etwas sagt. Virtuelle Beziehungen sind heutzutage sehr stark, für mich eigentlich sogar stärker als echte Beziehungen. Wenn man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt, spielen noch ganz viele andere Faktoren mit rein: der Tonfall der Stimme, die Umgebung … Wenn es virtuell ist, hast du dagegen nur Worte und Worte haben sehr viel Kraft. Das wissen wir ja als Erwachsene auch, wir beginnen Beziehungen mit Textnachrichten. Warum sonst sind Dating-Webseiten so beliebt? Wir haben vielleicht noch nie ihre Stimme gehört und kennen nur ihre Fotos, aber es sind die Worte, die uns fesseln. Und junge Menschen sind dafür besonders empfänglich.

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Warum würde dich der Tod mehr ansprechen als das Leben – insbesondere, wenn du 18, 19 Jahre alt bist?

In dem Alter hast du vielleicht Probleme mit deiner Haut, du magst deine Augenfarbe nicht, dein Hintern und deine Brüste sind zu groß oder zu klein. Wenn dir dann jemand sagt, dass er dich schön findet, haben diese Worte etwas magisches und bringen dich dazu, dir auch andere Dinge anzuhören, die du dir sonst nicht angehört hättest. Es beginnt also mit dem Gefühl, dass da jemand ist, der dich mag und plötzlich glaubst du dieser Person mehr als einen Eltern oder deinen Freunden, weil sie dir Dinge sagt, die du hören willst.

interessant war, wie der religiöse Aspekt, die Vorstellung von Himmel und Paradies, Leben und Tod, sie angesprochen hat. Warum würde dich der Tod mehr ansprechen als das Leben – insbesondere, wenn du 18, 19 Jahre alt bist? Du hast noch dein ganzes Leben vor dir und glaubst trotzdem, dass der glücklichste Ort für dich das Paradies wäre, was bedeutet, dass du sterben musst. Wieso ist das keine gruselige Vorstellung?

Ich glaube, dass die Art von Geschichte, die sie in dem Film erzählen, für viele auch deswegen so schockierend ist, weil sie sich nicht vorstellen können, dass ein weißes Mädchen aus der gehobenen Mittelschicht so radikalisiert werden könnte. Große Teile unserer Gesellschaft haben ja ein relativ klares Bild davon, wie ein Terrorist auszusehen hat, was natürlich auch wieder etwas mit Rassismus zu tun hat.
Wir machen es uns einfach. Es fängt ja nie so an, dass jemand vor die Wahl gestellt wird, ob er jetzt Terrorist werden möchte oder nicht. Es ist viel subtiler und abgründiger als das. Es stimmt aber absolut, dass viele Leute – und zu denen habe ich auch gehört – denken, dass so etwas nur bestimmte Bevölkerungsgruppen betrifft. Nur Menschen mit muslimischem Hintergrund, nur Leute aus den Vorstädten, nur Kinder aus unterprivilegierten Familien … das ist ja auch, was man immer über die Medien mitbekommt. Ich war so überrascht, als ich diese Mädchen getroffen habe, die Töchter von Anwälten, Ärzten und Lehrern aus christlichen oder atheistischen Familien sind.

Wirklich viele kamen aus atheistischen Familien, was ich zusätzlich noch einmal interessant finde. Gibt es eine Verbindung zwischen einem Aufwachsen, in dem es keinen Raum für Spiritualität oder Religion gibt und dem Umschwingen zu einem Glauben, der sehr extrem praktiziert wird? Das ist für mich eine interessante Frage, die man sich auch noch mal genauer angucken sollte.

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