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Beruf

Was Frauen mit Autismus im Berufsleben durchmachen

Smalltalk an der Kaffeemaschine, das Einhalten eines Dresscodes: Für Frauen im Autismus-Spektrum sind es oft die kleinen Dinge, die ihren Arbeitsalltag unerträglich machen.
Photo by Bonninstudio via Stocksy

Rachel Lucas hat im Verlauf ihrer Karriere "immer wieder gekündigt, obwohl meine Position sehr gut war". Das Ganze begann kurz nach ihrem Abschluss an der University of Ulster. Damals war sie Anfang 20. Seither hat sie schon als Pferdetrainerin, Erzieherin, Ausbilderin und Anzeigenverkäuferin gearbeitet. Doch die sozialen Aspekte des Berufslebens haben sie nach kurzer Zeit immer wieder überfordert.

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"Ich habe immer gute Arbeit geleistet", sagt sie, "trotzdem habe ich regelmäßig nach sechs Monaten alles hingeworfen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe." Schließlich suchte sie sich nur noch Stellen in der Zeitarbeit: "Ich begann, mich schnell einzuarbeiten und regelmäßig drei oder vier Monate intensiv zu arbeiten, damit ich anschließend wieder Zeit hatte, um mich zu erholen."

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Mit 44 Jahren und nach mehr als zwanzig Jahren im Berufsleben, erhielt Lucas die Diagnose Autismus. Inzwischen ist ihr klar, warum sie solche Schwierigkeiten hatte, einer langfristigen Beschäftigung nachzugehen: Sie wurde aufgrund ihrer Störung regelmäßig von Stress und Erschöpfung überwältigt – ein Phänomen, das umgangssprachlich auch Autismus-Burnout genannt wird. Ihre Entscheidung, nur noch in unregelmäßigen Abständen arbeiten zu gehen, stellt für sie „die einzige Möglichkeit dar, um die Autismus-Spektrum-Störung unter Kontrolle zu halten."

Das deutsche Start-up Auticon will das ändern. Der IT-Dienstleister sucht ganz gezielt nach Programmierer_innen im Austismus-Spektrum und unterstützt sie dabei, ihre Stärken optimal zu nutzen.

Das Unternehmen hat inzwischen mehrere Niederlassungen in ganz Deutschland sowie in Paris und London. Von den über 100 Mitarbeitern sind rund vier Fünftel autistisch, erklärt Viola Sommer, die Geschäftsführerin der Londoner Niederlassung. Durch Investoren wie den Unternehmer Richard Branson und die britische Esmée Fairbain Foundation, hat das junge Unternehmen schon nach weniger als fünf Jahren Gewinn mit ihrem sozialen Unternehmensmodell gemacht.

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Mehr als ein Prozent der Bevölkerung haben eine Autismus-Spektrum-Störung. Allerdings werden Frauen noch immer nicht ausreichend diagnostiziert. Aktuell gehen verschiedene Studien davon aus, dass Frauen zwei- bis dreimal seltener diagnostiziert werden als Männer – mit schwerwiegenden Folgen für ihre psychische Gesundheit und ihre Karriere.

Zwei Mitarbeiter von Auticon. Foto: Auticon

"Ich habe schon von vielen Frauen aus dem Autismus-Spektrum gehört, dass ihnen ihre Hausärzte und Psychiater immer wieder gesagt hätten, dass sie keine Autismus-Spektrum-Störung haben können, weil sie weiblich sind", erklärt Sommer. "Wenn schon Hausärzte und Psychiater so denken, wie ist es dann mit Arbeitgebern?"

Der britische Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen vertritt die Ansicht, dass Autismus durch einen zu hohen Testosteronspiegel im Mutterleib verursacht wird und die Betroffenen ein "extrem männlich ausgeprägtes Gehirn" hätten. Seine Theorie fußt auf der Annahme, dass das männliche Gehirn systematischer denkt und somit Muster und Systeme schneller erkennen und analysieren kann. Das weibliche Gehirn hingegen sei eher darauf ausgelegt, Empathie zu empfinden. Eine Annahme, die von anderen Wissenschaftlern bereits des Öfteren als „neurosexistisch" kritisiert wurde.

"Die diagnostischen Kriterien des Autismus-Spektrums orientieren sich immer nur an Männern", kritisiert auch Sommer. "Inwieweit lassen sie sich also überhaupt auf Frauen anwenden? Es gibt erschreckend viele Frauen, die Probleme haben, aber weder die entsprechende Diagnose noch die Unterstützung bekommen, die sie bräuchten."

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Die meisten Frauen im Autismus-Spektrum werden als "neorotypisch" eingestuft. Das heißt, dass ihr neurologischer Status hinsichtlich ihrer sprachlichen und sozialen Fähigkeiten als normal betrachtet wird. Das ist beunruhigend, sagt Sommer, schließlich seien Frauen „in der Regel nur besser darin, ihre Symptome zu verschleiern." Tatsächlich verbringen die meisten von ihnen Jahre damit, das Verhalten ihrer "neurotypischen" Kollegen akribisch zu studieren und zu imitieren – mit verheerenden psychologischen Folgen.


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"Es zehrt an den Kräften, wenn man einen Großteil seiner kognitiven Energie darauf verwenden muss, sich 'normal' zu verhalten", erklärt Sommer. "Wenn alle wüssten, dass man autistisch ist, müsste man sich keine Sorgen mehr darüber machen und könnte sich endlich auf sich selbst und seine Arbeit konzentrieren."

Emily Swiatek hat zehn Jahre lang mit autistischen Menschen gearbeitet, bevor sie selbst die Diagnose bekam. Die 30-Jährige hat sich zuvor immer größte Mühe gegeben, neurotypisch zu wirken. "Autistische Frauen können ihre Symptome sehr erfolgreich überspielen und konzentrieren meist all ihre Energie auf ihren beruflichen Erfolg. Die psychischen Folgen werden meist erst sehr später sichtbar. Das kann soweit gehen, dass die vollkommen unerwartet zusammenbrechen, obwohl sie von ihrem Arbeitgeber immer als besonders erfolgreich und leistungsstark betrachtet wurden."

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Auch Swiateks psychische Gesundheit verschlechterte sich, nachdem sie jahrelang versucht hatte, ihre soziale Überforderung zu verstecken. Genau wie Lucas musste auch sie immer wieder "drei oder vier Monate freimachen". Sie glaubt, dass es Frauen leichter fällt, ihre Symptome zu verschleiern. Schließlich seien sie „schon von kleinauf mit geschlechtsspezifische Erwartungen konfrontiert: Sie sollen nett sein und sozial, eine angenehme Ausstrahlung haben und ihren Mitmenschen ein gutes Gefühl geben."

Derartige Erwartungen halten Betroffene meist auch davon ab, ihren "besonderen Begabungen" nachzugehen. "Autistische Menschen haben in der Regel spezielle Begabungen und Interessen, denen sie den Großteil ihrer Zeit widmen", erklärt Sommer. "Eltern und Erzieher sollten diese Fähigkeiten fördern und in eine produktive Richtung lenken. Allerdings neigen noch immer viel zu viele Eltern dazu, das Ganze eher zu unterbinden. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass die Begabungen ihrer Kinder nicht immer mit ihrer Geschlechterrolle übereinstimmt."

Emily Swiatek. Foto: National Autistic Society

Bedauerlicherweise zeigen auch Statistiken, dass die besonderen Fähigkeiten von autistischen Menschen nur selten zum Einsatz kommen. In Deutschland sind laut Angaben der Caritas 80 Prozent aller autistischen Menschen arbeitslos oder nicht adäquat beschäftigt. "Die Qualität der Bewerbungen von Frauen ist extrem hoch und die meisten von ihnen bringen auch exzellente Leistungen. Doch vielen fehlt es an sozialen Fähigkeiten", sagt Sommer. "Sie scheitern an dem Bewerbungsprozess, weil es nur darum geht, sich selbst darzustellen. Dabei haben sie aller Wahrscheinlichkeit nach herausragende Fähigkeiten, die den Unternehmen vollkommen entgehen."

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Wenn Betroffene sich im Arbeitsmarkt halten, sind sie oft in Beschäftigungsverhältnissen, die sie intellektuell unterfordern. "Einer unserer Programmierer hat bis vor Kurzem noch Regale im Supermarkt eingeräumt", erklärt Sommer.

Swiatek musste ebenfalls feststellen, dass ihre Arbeit im PA-Marketing nicht mit ihren Begabungen übereinstimmte. Auch die Gespräche im Büro interessierten sie nicht. "Mit der Zeit wird es immer schwieriger, sich um den Small-Talk über Serien, Klamotten und Kollegen zu drücken. Wenn man Schwierigkeiten hat, die gängigen Gesprächsregeln und zwischenmenschliche Grenzen zu verstehen, möchte man man erst gar nicht an solchen Unterhaltungen teilnehmen."

Das Problem, sich nur schwer an die Kollegen anpassen zu können, kann sich auf verschiedene Arten zeigen. Autistische Frauen, die ein besonderes Interesse an Mode und Kosmetik haben, haben weniger Probleme damit, sich dem Dresscode im Büro anzupassen. Anderen hingegen "fällt es hingegen schon schwer, Strumpfhosen, körperbetonte Blusen oder hohe Schuhe zu tragen", sagt Swiatek.

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Das kann einerseits damit zusammenhängen, dass die Frauen die ungeschriebenen Gesetze zum Dresscode im Büro einfach nicht wahrnehmen. Andererseits gibt es aber auch Frauen, die nicht damit umgehen können, wie sich körperbetonte Kleidung anfühlt. "Es gibt sehr viele Frauen im Autismus-Spektrum, die sensorische Schwierigkeiten damit haben, bestimmten äußerlichen Maßstäben zu entsprechen – zum Beispiel, weil sie extrem sensibel auf taktile Reize reagieren", erklärt Sommer. "Viele von ihnen fühlen sich nur in weiter Kleidung wohl. Allein das kann im Arbeitsalltag zu einer echten Herausforderung werden."

Auticon konzentriert sich momentan vor allem darauf, noch mehr Arbeitsplätze für autistische Menschen zu schaffen. Sie hoffen allerdings, dass solche Initiativen irgendwann überhaupt nicht mehr notwendig sind.

"Wir sehen immer wieder, dass die Bereitschaft fehlt, sich mit verschiedenen Charakteren und Denkmodellen auseinanderzusetzen. Unsere Gesellschaft orientiert sich vor allem an extrovertierten Menschen", sagt Sommer. "Die meisten Frauen im Autismus-Spektrum, die ich bisher kennengelernt habe, eignen sich deshalb unvorstellbare Bewältigungsstrategien an. Das sollte aber eigentlich überhaupt nicht notwendig sein."

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