Was passiert, wenn virtuelle Gewalt fotorealistisch wird?
Foto: Lovis Ostenrik

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Was passiert, wenn virtuelle Gewalt fotorealistisch wird?

Adina Popescu entwirft virtuelle Welten und träumt von einem begehbaren Internet. Wir haben mit der deutschen Visionärin über die Chancen und Gefahren von Virtual Reality gesprochen.

Wenn Adina Popescu anfängt, von ihrem beruflichen Alltag zu erzählen, kommt man sich stellenweise vor wie in einer Folge von Star Trek. Kameras, die Räume als Datenpunkte erfassen und begehbar machen? Programme, in denen man Musik mit speziellen Handschuhen anfassen und Töne dadurch verändern kann? Ein Internet, in dem man herumlaufen kann? Ich dachte schon beim erstmaligen Tragen einer VR-Brille, jetzt endlich in dieser fantastischen technischen Zukunft angekommen zu sein, von der ich als Kind immer geträumt habe.

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Mit SnowblackVR hat Popescu ihre eigene Agentur für virtuelle Inhalte in Berlin gegründet. Große Teile ihrer Zeit verbringt die studierte Philosophin, Künstlerin, Regisseurin und Aktivistin allerdings in den USA. Dort ist sie Teil des Think Tanks Virtuosity, berät Unternehmen bei immersiven Werbekampagnen, entwickelt VR-Filmskripte und arbeitet stetig daran, durch virtuelle Realität neue Perspektiven auf ganz reale Probleme zu eröffnen. Wir haben die deutsche Visionärin getroffen und uns erklären lassen, wie moderne Technologie unser Verständnis von Gender und Identität verändern kann und was auch in der virtuellen Realität verboten bleiben sollte.

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Broadly: Was ich an VR wahnsinnig spannend finde, ist, dass es eine Möglichkeit ist, sich in Situationen zu begeben, in die man real nicht kommen würde. Damit hat das natürlich das Potential, Grenzen in Köpfen einzureißen.
Adina Popescu: Ich arbeite gerade an einem großen Klimawandelprojekt, bei dem wir uns auch die ganze Zeit die Frage gestellt haben, wie wir VR dazu verwenden können, um etwas bei Personen, die wirklich Einfluss haben, "zu bewegen". Es überfordert Menschen oft, wenn man sie mit Daten und Fakten konfrontiert. In VR arbeitet man weniger mit Sprache, sondern mit Visualisierung und Erfahrungen. Das gilt zum Beispiel auch für die dreidimensionale Visualisierung abstrakter Daten. Ich glaube, VR kann einen unglaublichen Impact auf Leute haben, weil es ein emotionales und sinnliches Medium ist. Ich möchte diese Realität nicht verdoppeln, sondern ausweiten. Wie kann ich mein Bewusstsein oder meine sinnliche Wahrnehmung, die ich hier habe, erweitern? Wie kann ich Erfahrungen machen, die ich hier nicht machen kann? Kann ich Daten fühlen? Infra-und Ultrasound hören? Kann ich Musik als Daten visualisieren und mit ihr interagieren? Kann ich Energie anfassen?

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Virtual Reality wird immer als ein neues Entertainment-Format gesehen, aber Fakt ist, dass Virtual Reality nur ein Teil von etwas Größerem ist und nur eine Seite einer Trias ist, deren andere Seite Augmented Reality und AI ist. Unsere gesamte digitale Welt erfährt gerade eine Revolution. Die Art und Weise, wie wir Daten darstellen, wird nicht mehr länger in 2D passieren, sondern in 3D. Das heißt, dass unser zweitdimensionales Internet zum räumlichen Metaverse wird, in dem man mit einem Headset herumspazieren kann. AR und VR wird dann natürlich auch an AI angeschlossen und somit haben wir dann ein neues multidimensionales, in Echtzeit operierendes, interaktives digitales Ökosystem, in welchem wir Daten erfahren, transferieren, Content kreieren und arbeiten können. Das muss erst mal in den Köpfen ankommen!

Jungs freuen sich immer über VR-Porn, aber wenn ich sage 'Du könntest natürlich auch einfach mal im Körper von Sasha Grey sein!', sind sie ganz schnell alle still.

Ich glaube auch, dass VR eine Welt sein kann, in der man ganz andere Seiten von sich kennenlernt. Wo man einfach mal ausprobieren kann, wie man sich in einem Raum verhält, in dem man keine Angst haben muss, dass einen Freunde oder Kollegen sehen und bewerten.
Ich kenne verschiedene Leute, die aktuell daran arbeiten, das Metaverse zu bauen. Der Begriff wurde ursprünglich von Neal Stephenson in Snow Crash geprägt und beschreibt die Idee eines multidimensionalen Internets. Das heißt, du hast einen virtuellen Raum, in dem du einen Avatar hast – das kann dann auch ein Taco mit Beinen sein oder ein Meme. Stell dir vor, du bist in einem Raum, in dem es keine physikalischen Limitationen gibt. Es gibt keinen Grund, sich an die Regeln der Schwerkraft zu halten. Das kann eine völlig andere Form von Architektur und Design mit sich bringen: eine nicht-euklidische Skulptur zum Beispiel, die man in unserer Realität nie bauen könnte – also alles von M.C. Escher über Penrose Triangles zu Tesseract. Es ist eine andere Mathematik, die im Hyperspace herrscht. Da will ich durchlaufen. Das finde ich besser, als in der virtellen Welt diese Realität nachzuahmen und sie dadurch zu limitieren. Ich finde es viel spannender, in eine Welt reinzugehen, die komplett neu gesetzt werden muss.

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Unendliche Möglichkeiten und neue Formen machen Menschen allerdings auch Angst und vor allem wird Ihnen schwindlig. Das heißt, es sind eher kommerzielle Metaverses wie High Fidelity im Kommen; eine VR-Version von Second Life, die sich an die Regeln dieser Welt hält: männlich – weiblich, Architektur, Schwerkraft und so weiter.

Was hier noch als lustiger Skit auf YouTube veröffentlicht wurde, dürfte in nicht all zu ferner Zukunft tatsächlich im Bereich des technisch Möglichen liegen

Gleichzeitig sind Silicon Valley und die Tech-Branche im Allgemeinen immer noch sehr männerdominiert. Was hast du da für Erfahrungen gemacht?
Ich war ehrlich gesagt komplett schockiert über das Geschlechterverhältnis und die Geschlechterbilder, die da herrschen. Ich musste richtig kämpfen und muss es immer noch. Das war am Anfang wirklich schwierig. Ich kann aber Deutschland da auch nicht wirklich in Schutz nehmen.

Ich finde das total verrückt. Wie will man denn Technologie für die Zukunft einer Gesellschaft entwickeln, wenn man große Teile der Gesellschaft dadurch ausschließt, dass man sie nicht ernst nimmt oder ihnen gar keine Möglichkeit gibt, mitzugestalten?
Das sieht man ja auch in der Gaming-Welt. Die ist hauptsächlich männlich dominiert und so sind dann auch die Spiele. Deswegen betone ich immer, dass VR etwas anderes ist und weit über Gaming hinausgeht. Da hast du wirklich die Möglichkeit, komplett alternative Körper und Realitäten zu erfahren. Im Virtuellen lösen sich diese starken Schwarz-Weiß-Unterschiede komplett auf. Jungs freuen sich immer über VR-Porn, aber wenn ich sage "Du könntest natürlich auch einfach mal im Körper von Sasha Grey sein!", sind sie ganz schnell alle still.

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Wenn du in dieser Welt kein Pädophiler sein darfst, darfst du es in der anderen auch nicht.

Wenn alles immersiver ist, dann greift es mich natürlich auch viel mehr an, in einem virtuellen Raum auf blöde Leute zu treffen. Denkt man demzufolge in diesem Entwicklungsprozess auch darüber nach, wie man eine gewisse Art von Schutz vor solchen Situationen bieten kann?
Absolut. Deswegen habe ich auch immer die Sorge, dass – wenn wir diese Welt einfach nur verdoppeln – die ganzen Creeps kommen, die sich einfach nur an ihrer Anonymität erfreuen. Ich denke mir im Fall des Metaverse: Wenn ich irgendwo fliegen kann, dann mache ich das vielleicht eher, als jemanden an der Bar zu belästigen. Aber grundsätzlich finde ich auch, dass man sich damit auseinandersetzen muss. Auch, wie man mit Gewalt im virtuellen Raum umgeht.

Wir haben technisch die Möglichkeit, GTA in VR komplett fotorealistisch zu rekreieren. Das ist natürlich scary. Während mein Alias in GTA als neugeborener Massenmörder Leute abknallen kann und es in der Game Engine für mich auch so in Ordnung ist, stellt sich nun die Frage wie es ist, einen Menschen, der komplett fotorealistisch ist und mir in VR oder AR in die Augen schaut, umzubringen. Wir wollen ja keine Generation von Psychopathen aufziehen. Wenn VR also fotorealistisch wird, wie gehen wir dann mit Gewalt um?

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Heute ist das noch nicht der Fall, aber sehr bald ist die Technologie wirklich so gut, dass man eigentlich nicht mehr zwischen Simulation und Realität unterscheiden kann. Wenn ich sechs, sieben Stunden in VR war und dann rauskomme, wundere ich mich teilweise, dass ich nicht durch Wände laufen kann. Es verändert also auch meine Wahrnehmung von dieser Realität.

Ein Berliner Anwalt, mit dem ich schon oft über VR gesprochen habe, meinte mal: "Eigentlich müsste man in der virtuellen Realität den gleichen Gesetzesapparat einführen. Eigentlich müsste man sagen: Wenn du in dieser Welt kein Pädophiler sein darfst, darfst du es in der anderen auch nicht." Es stellt sich halt immer die Frage, wie sich diese beiden Realitäten gegenseitig beeinflussen. Ich denke schon, dass man sich da fragen muss, ob es in der virtuellen Realität nicht auch ein Regelwerk geben sollte – so wie es ja auch im Internet Dinge gibt, die gesetzeswidrig sind. Das Gleiche gilt dann eben auch für deinen Avatar. Ich persönlich habe aber komischerweise mehr Angst vor Marketing und Metadaten innerhalb einer von VR/AR&AI gepowerten Welt, als vor Gewalt im virtuellen Raum.

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