Zum Kaffeetrinken mit russisch-jüdischen Veteranen in Berlin

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Zum Kaffeetrinken mit russisch-jüdischen Veteranen in Berlin

Am 9. Mai ist in Russland Tag des Sieges, der Feiertag zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir haben mit jüdischen Veteranen der Roten Armee in Berlin angestoßen—im ehemaligen Herzen des Feindeslandes.

Am 9. Mai ist in Russland Tag des Sieges, der Feiertag zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir haben mit jüdischen Veteranen der Roten Armee in Berlin angestoßen—im ehemaligen Herzen des Feindeslandes.

Wir sind zu einem Kaffeekränzchen eingeladen—flankiert von bewaffneten Polizeibeamten. Ein Security leert meine Tragetasche aus und heißt den Inhalt trotz der vielen Krümel gut. Er nickt mich durch den Metalldetektor.

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Alle Fotos: Grey Hutton

Ich bin in einem jüdischen Gemeindezentrum in der Fasanenstraße, einer tadellosen Charlottenburger Adresse. Der weiße Originalstuck der Gebäude in dieser Straße wurde während des Kriegs unter schwarzer Farbe versteckt und überstand den Krieg intakt. Gleich werde ich einer Gruppe jüdischer Kriegsveteranen begegnen, deren Überleben einem Wunder gleichkommt.

Die Lichter in der Seniorenstube sind grell und die Heizung ist trotz des fortgeschrittenen Frühlings vorsichtshalber noch an. Ich drehe mich weg, um meine Jacke an die Garderobe zu hängen, und fühle, wie sich die Augen der 90-Jährigen in meinen Hinterkopf bohren. Es gibt die spöttische Reihe ganz hinten, dann ein Trio von Damen, die sich über die Probleme der Welt unterhalten, die große Runde in der Mitte und noch über den Raum verteilte Einzelgänger. Die Kleidung ist schrill, die Brillen auch. Auf den Tischen stehen Teller, Servietten, Teetassen und Zuckerpäckchen.

Zenia Smuskevic, die mit zerzaustem, pflaumenfarbenem Haar vorne am Haupttisch sitzt, winkt mich herüber. Sie klopft auf einen Stuhl und bedeutet einer Freundin, mir eine Tasse schwarzen Kaffee aus der Thermoskanne einzuschenken. Teller mit Berlinern, Käsekuchen und Apfelstrudel kommen von einer kleinen Einbauküche in der hinteren Ecke. Das Gebäck mag zwar deutsch sein, doch alles andere—von der Musik im Hintergrund über die Zettel am Schwarzen Brett bis hin zur Sprache—ist russisch.

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Zenia, 90, zeigt mir eine frisch geprägte Medaille, die jüdischen Veteranen anlässlich des 70. Jahrestags des Kriegsendes überreicht wird. Sie war Krankenschwester in der litauischen Division der Roten Armee, erzählt sie stolz, und studierte später an zwei Universitäten Wirtschaft.

Der Verein begann 1994 mit etwa hundert Veteranen. Heute sind nur 30 Mitglieder anwesend. Sie sind Relikte einer verlorenen Generation. Geschätzte 10 Millionen sowjetische Soldaten starben im „Großen Vaterländischen Krieg", die meisten davon unter 35. Dennoch herrscht bei den Seniorinnen und Senioren heute eine ausgelassene Stimmung.

Zenia zog 1990 nach Berlin—„das Nest der faschistischen Bestie", wie die stalinistische Propagandamaschine dazu sagte. Sie wurde Teil der am schnellsten anwachsenden jüdischen Bevölkerungsgruppe in Europa. Seit der Auflösung der Sowjetunion sind mehr als 200.000 Juden und Jüdinnen nach Deutschland eingewandert. Das Kontingentflüchtlingsgesetz von Kanzler Helmut Kohl räumte ihnen 1991 einen speziellen Flüchtlingsstatus ein. Sie waren Flüchtlinge vor dem Antisemitismus, der ihnen Bildung und Beruf erschwert oder versperrt hatte, doch sie flohen auch vor einer Umgebung, die sich wenig um alte und kranke Menschen kümmerte. Trotz der Wichtigkeit, die dem sowjetischen Sieg von 1945 beigemessen wird, sehen seine Veteranen einem trostlosen Lebensabend entgegen.

Doch die Dominanz „der Russen", die zwei Drittel der 12.000 Juden und Jüdinnen in Berlin ausmachen, hat Ressentiments mit sich gezogen. Viele der Kontingentflüchtlinge fanden sich in der Isolation wieder. Vielleicht waren sie wie Zenia zu alt, um zu arbeiten, hatten Schwierigkeiten beim Deutschlernen oder waren für die ihnen zugänglichen Stellen überqualifiziert.

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Zenias Freundin lehnt sich vor und stellt sich als Elizabet vor. „Wir haben die Ukraine verlassen, um unserem Sohn nach Deutschland zu folgen", sagt sie, „doch ich war vorher bereits einmal hier, im Jahr 1941." Sie hält inne und sieht den schnurrbärtigen Mann zu ihrer Linken an, der ihre Hand hält. „Ich bin dem Massaker von Babyn Jar entkommen", sagt sie. „Sie haben meine Mutter getötet. Ich war als nächstes dran, in das Loch gestoßen zu werden. Ich stand auf und bekreuzigte mich. Ich sagte: ‚Seht mich an, ich bin blond—ich bin keine Jüdin, sondern Christin!'"

Elizabet hat es auf einen Zug nach Deutschland geschafft und arbeitete dann unter neuem Namen in einem Kinderheim. „Als ich nach dem Krieg zurück in die Ukraine ging, wollte ich nicht nach Kiew, weil ich Angst hatte, dass sie mich wie eine Deserteurin behandeln würden. Also ging ich zu meiner Tante, meiner einzigen Verwandten, in Odessa. Dort haben wir uns kennengelernt." Arkady und Elisabet sind seit 67 Jahren verheiratet. „Ich spreche für ihn", zwinkert Elisabet Arkady zu und tätschelt ihm das Knie. „Er hört sehr schlecht."

Arkady meldete sich mit 16 Jahren freiwillig. „Er war am Verhungern", sagt Elizabet, während ich mein Kinn vom Puderzucker eines Berliners befreie. „Er hatte davor immer Brot von den Soldaten stibitzt. Sie hätten ihn dort noch umgebracht, wenn er nicht in den Krieg gezogen wäre." Arkady diente 1943 im Westkaukasus und erlitt bei einer Bombendetonation eine schwere Gehirnerschütterung. „Das war Glück im Unglück: Sie schickten ihn in ein usbekisches Krankenhaus und er ging nicht mehr zurück."

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Elizabet wird unterbrochen, als der Vorsitzende des Veteranenvereins, Jacob Resnick, das Mikrofon antippt. „Aha! Sie hat heute Geburtstag!", sagt er und ein Strauß rosafarbener und gelber Rosen erscheint von hinter ihr. Die 86-jährige Elizabet kichert.

Jacob raschelt mit Papier und wartet, bis alle still sind. Dann fängt er an, eine Liste von Veranstaltungen für den kommenden Monat vorzulesen—Treffen, Konzerte und Ausflüge—, wobei er jedes Wort genießt. „Warum liest er denn alles?", grummelt Zenia. „Wieso kann er den Zettel nicht einfach am Ende verteilen?" „Ja, Dummkopf, wieso verteilst du den Zettel nicht?", lacht jemand aus der letzten Reihe. Jacob macht stur mit der Liste weiter, bis er ganz unten angekommen ist. Dann hebt er eine Augenbraue und winkt mich heran, in die Ecke. Ich befürchte schon, dass ich eine Auszeit bekomme—doch wie sich herausstellt, sieht Jacob dem Treiben einfach gerne aus einem gewissen herrschaftlichen Abstand zu.

„Alle haben ihre eigenen Gründe, warum sie nach Deutschland gekommen sind", sagt der demokratisch gewählte Vertreter mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck.

Jacob, 89, lebt seit 17 Jahren hier und kam durch Frankfurt an der Oder ins Land. „Wir sind zur Schwester meiner Frau gestoßen. Sie wollten zusammen sein." Heute ist Steglitz sein Zuhause. „Es ist sehr schön dort für alte Leute. Es gibt Tiere, den Park, den Kanal und es ist ruhig."

Seine Kindheit in Schepetowka, einer kleinen Stadt in der Westukraine, war ebenfalls sehr ruhig—bis zu Hitlers Invasion am 22. Juni 1941, als Jacob und seine Familie nach Sibirien evakuiert wurden. „Es gab im Zug Öfen, aber kein Wasser. Er hielt an einem Bahnhof und meine Mutter schickte mich los, um Wasser zu holen. Als ich mich umdrehte um zurückzugehen, war der Zug weg. Ich kauerte in Unterwäsche auf dem Eimer. Es ist ein großes Land", sagt Jacob und hält inne. „Ich habe nicht damit gerechnet, sie wiederzusehen."

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Doch wundersamerweise fand er sie, und zwar in der nächsten Stadt. Zusammen wurden sie 3000 Kilometer von der Front verfrachtet. „Es hatte -40 Grad und wir hatten keine Winterkleidung. Trotzdem war das erste Jahr OK. Doch im nächsten Jahr … mobilisierten sie mich." Jacob wurde den ganzen Weg in die Ukraine zurückgeschickt. Doch an diesem Punkt versiegt sein Redefluss.

Auch die Thermoskanne ist leer, und ich selbst überhitze langsam. Unser Fotograf, Grey, lehnt sich rüber, um ein Fenster zu öffnen, und eine Dame mit einem festen Helm aus rosafarbenem Haar huscht herüber und stupst ihn an. „Warum redet ihr nicht mit mir?", sagt sie. „Ich habe auch Medaillen!" Hinter ihr wartet ein stämmiger Mann mit einer Kippa ungeduldig auf eine Gelegenheit, seine Geschichte zu erzählen. Und ich merke, dass ich strenge Blicke aus der letzten Reihe ernte. Doch da wird auch schon eine Leinwand heruntergezogen und der musikalische Teil des Programms beginnt: Ein Konzert mit patriotischen Liedern verkündet das Ende des Kaffeekränzchens.