Wenn die Vorstellung, deinen Freund zu töten, zwanghaft wird
Illustration by Julia Kuo

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Psychologie

Wenn die Vorstellung, deinen Freund zu töten, zwanghaft wird

0,6 Prozent aller Menschen leiden an intrusiven Gedanken, der Großteil davon sind Frauen. Insbesondere für Menschen mit Angst- oder Zwangsstörungen können die Symptome dramatische Folgen haben.

Violet* sagt, sie könne sich genau an den Moment erinnern, als sie angefangen hat, darüber nachzudenken, ihren Freund umzubringen.

„Ich habe mir gerade A Clockwork Orange angesehen und war ungefähr bei der Hälfte, als ich plötzlich dachte: Wie wird man eigentlich zum Serienmörder?"

„Und dann kam mir noch eine andere Frage: Woher weiß ich, dass ich kein Serienkiller bin? Dann, unmittelbar danach hatte ich—als ob ich mich selbst testen wollte—das Bild im Kopf, wie ich meinen Freund direkt hier auf dem Bett erwürge."

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Violet litt an extremen Episoden intrusiver Gedanken. Also unerwünschte Impulse, die unsere Urteilsfähigkeit und allgemeine geistige Klarheit trüben können. 0,6 Prozent aller Menschen leiden an intrusiven Gedanken, der Großteil davon sind Frauen.

Viele Menschen erleben solche Episode im Laufe ihres Lebens—sei es, dass man sich vorstellt, wie man einen Hund von der Leine lässt oder einen Zeh auf die Zuggleise stellt. Normalerweise kommen solche Gedanken jedoch nicht regelmäßig vor und sind kontrollierbar. Für Menschen, die an extremen Angsstörungen leiden, können sie zerstörerisch sein.

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„Intrusive Gedanken können lähmend sein", sagt Professor Dinesh Bhugra von der World Psychiatric Association (WPA). „Sie kehren immer wieder und wiederholen sich."

Violet leidet an Zwangsstörungen. Für sie waren die schwer wegzuschiebenden Fantasien so paralysierend, dass die Welt außerhalb ihrer Gedanken einfach stehen blieb. Violet litt ihr Leben lang unter wiederkehrenden Episoden aus Angst und Depressionen. Nachdem ihr die Idee gekommen war, ihren Freund zu verletzen, fing sie auch an darüber nachzudenken, ihre Familie oder sogar ihre Lehrer zu verletzen.

„Eines Tages beschloss ich, dass ich jemanden erzählen musste, was in mir vorging. Nicht weil ich dachte, dass ich Hilfe brauche oder an einer psychischen Krankheit leide, sondern weil ich mich selbst davon überzeugt hatte, dass ich ein Serienmöder war—oder vielmehr hat mich meine Angst überzeugt", sagt sie.

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„Ich konnte mich selbst nicht davon überzeugen, dass ich keine potentielle Mörderin bin."

„In den folgenden Wochen und Monaten wurde die Angst immer schlimmer und schlimmer und schlimmer. Je mehr ich versucht habe, nicht an die Bilder zu denken, desto mehr kamen sie mir in den Kopf. Ich hatte auch körperliche Symptome: Herzrasen, Schwindel und Übelkeit."

Als die Attacken schlimmer wurde, erkannte Violet, dass die Visionen ein Eigenleben entwickelten und am Höhepunkt ihrer Episoden flehte sie ihre Eltern an, sie zur Polizei zu bringen.

„Ich wollte diese Dinge, die ich mir vorstellte, absolut nicht tun. Im Gegenteil! Aber ich konnte mich selbst nicht davon überzeugen, dass ich keine potentielle Mörderin bin."

Während viele Betroffene unter der Angst um die Leute in ihrer Umgebung leiden, gibt es genauso auch Menschen, deren Visionen sich um extrem tabuisierte Themen drehen. So wie im Fall von Georgia*, die unter einer generalisierten Angststörung litt und verstörende Visionen davon hatte, wie sie mit ihrem Vater Sex hatte.

„Ich hatte einen Traum, einen wirklich lebhaften Traum und mir wird schlecht, wenn ich es nur laut ausspreche: Ich hatte einen Traum, in dem ich mit meinen Vater Sex hatte. Das schlimmste daran war, dass ich im Traum das Gefühl hatte, dass ich es genossen habe", sagt sie.

„Ich weiß, dass es nur ein Traum war, aber allein die Tatsache, dass ich mir so etwas auch nur ausdenken konnte, hat mich total fertig gemacht. Der Traum hat meinen Kopf verlassen und wurde Teil meiner Realität. Ich war erst 13, um Himmels Willen. Welche 13-Jährige denkt so etwas?"

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Vor lauter Ekel vor sich selbst und der Angst vor den Urteilen der Menschen in ihrer Umgebung, spürte Georgia—wie viele andere Betroffene auch–,wie die Angst immer größer wurde. Diese psychischen Episoden kamen in alarmierend kurzen Abständen und schon bald konnte sie sich nicht mehr in der Nähe ihres Vaters aufhalten.

„Ich bin meinem Vater aus dem Weg gegangen. Zuvor standen wir uns wirklich nahe, aber was sollte ich tun? So oder so waren die Konsequenzen meiner Gedanken schrecklich für uns beide. Ich habe mich so schmutzig gefühlt. Erst als ich vor ein paar Jahren ausgezogen bin, sind wir uns wieder etwas näher gekommen."

Nachdem sie versucht hatte, die Auslöser dieser Fantasien zu vermeiden, entwickelte Georgia zunehmend nervöse Ticks, wenn ihr die Gedanken mit ihrem Vater in den Kopf kamen, oder versuchte, das Ganze durch andere extreme Bilder zu verdrängen.

„Ich hab das getan, was zu erwarten war: Ich habe ungerade Zahlen ausgelassen, habe vermieden auf die Risse im Gehweg zu treten und wurde ziemlich abergläubisch. Ich habe angefangen, über Sex mit immer mehr Leuten nachzudenken—mit Familienfreunden, Leuten auf der Straße und irgendwann auch mit Tieren."

„Je mehr man sich auf ein bestimmtes Thema einstellt und wenn die Gedanken schlimm oder erschütternd sind und einen negativen Einfluss auf einen haben, desto wahrscheinlich ist es, dass sie die Betroffenen treffen", sagt Dr. Shamila Moodley vom Nightingale Hospital in London. „Intrusive Gedanken können einen Menschen so beeinflussen, dass er über selbstzerstörerisches Verhalten oder Suizid nachdenkt und dann ist es extrem wichtig, die Krankheit zu behandeln."

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Während Violet bald erfahren hat, dass auch ihre Eltern bereits unter intrusiven Gedanken gelitten haben, möchte Gerogia auf keinen Fall jemals mit ihrer Familie über ihre Erfahrungen sprechen.

„Es gibt keinen passenden Zeitpunkt dafür, Leuten zu sagen, dass du die letzten zehn Jahre damit verbracht hast, Bilder davon, wie du Sex mit deinem Vater hast, zu unterdrücken", sagt Georgia. „Ich kann es weder meinen Eltern, noch meinen Freunden und schon gar nicht meiner Familie erzählen. Sie würden nicht verstehen, dass ich an einer generalisierten Angststörung leide. Vor allem nicht mit solchen Symptomen. Ich habe erst vor Kurzem begriffen, dass diese Vorstellungen eine legitime Sache sind und allein das Wissen, dass ich nicht allein bin, ist eine immense Erleichterung."

Obwohl Violet heute nur noch selten unter dranghaften Gedanken leidet, ist ihr doch bewusst, welche Schwierigkeiten sie überwinden musste, um wieder Herr ihrer eigenen Vorstellung zu werden.

„Auch wenn ich ziemlich erleichtert war, als ich realisiert habe, dass diese Gedanken sehr viel ‚normaler' sind als wir denken, habe ich mir selbst nicht vertraut. Es hat weitere sechs Monate intensiver therapeutischer Behandlung meiner Zwangsstörung gebraucht, um wieder auf die richtige Spur zu kommen und die Kontrolle wiederzuerlangen—womit ich meine, dass ich mir selbst wieder vertraut habe."


* Namen wurden geändert.