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Fetisch

Für Tränen-Fetischisten ist "Cry me a River" ein Anmachspruch

Dacryphilie ist einer der wenig erforschten Bereiche unter den abnormen Sexualpräferenzen—und deckt die komplexe Machtbeziehung zwischen Männern und Frauen auf.
Screengrab via YouTube

Machen dich Tränen feucht—und zwar nicht im Gesicht? Wenn dich wässrige Augen und lautes Schluchzen anmachen, dann bist du damit nicht allein: Auf dem Online-Forum Crying Lovers haben Leute mit einem Tränen-Fetisch die Möglichkeit, sich zu treffen und sich über ihre Leidenschaft für tränenreiche Ereignisse auszutauschen. Die Seite brüstet sich mit hunderten von Nutzern, die nicht-pornografische Videos und Fotos von verheulten Gesichtern und echte voyeuristische Observationen, sogenannte „obs", mit der Gruppe teilen.

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„Truffle", eine 24-jährige Studentin aus den USA, schrieb auf Crying Lovers: „Eine der Krankenschwestern bei mir auf der Arbeit saß im Bereitschaftsdienstzimmer und las etwas auf ihrem Computer. Als ich vorbei kam, konnte ich nur einen kurzen Blick erhaschen. Sie ist Chinesin, Ende 30 mit kurzen Haaren und Brille. Sie verzog den Mund ganz leicht und genau in dem Moment, als ich an der Tür vorbei ging, hörte ich ein leises Schluchzen."

„Reptongeek" aus dem englischen North Yorkshire antwortete: „Ich brauche ganz dringend auch so ein Erlebnis! Ich habe schon Kolleginnen zu einem Wettstarren herausgefordert, um zu sehen, ob sie weinen, aber es hat nie funktioniert."

Truffle gibt zu, dass sie Leute absichtlich zum Heulen bringt. „Aber nur, wenn sie sowieso schon kurz davor sind zu weinen. Ich gebe mir einfach nur keine allzu große Mühe, sie vom Weinen abzuhalten. Hast du schon mal jemanden umarmt, der drauf und dran war zu weinen? Das gibt ihnen meistens den Rest", sagt sie mir per Mail. „Aber wenn ich das tue, stelle ich trotzdem immer sicher, dass ich sie danach trotzdem zum Lachen bringe oder zumindest wieder tröste. Andernfalls würde ich sie nur ausnutzen, oder?"

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Der Großteil der Heulszenen, die die Nutzer beobachten, schwanken in ihrer Beschreibung zwischen irgendwie süß und gruselig. „Ich denke, manche Leute sehen im echten Leben nicht so viele Menschen weinen—oder freuen sich zumindest nicht, wenn sie andere darüber sprechen hören", sagt Truffle. „Ich kriege viele solche Szenen zu sehen, weil ich—genau wie viele meiner Freunde und meine Familie—nah am Wasser gebaut bin. Einige Leute, besonders die Typen aus dem Forum, scheint es sexuell zu erregen, wenn sie nur davon lesen, dass andere Leute weinen. Mir hat mal jemand gesagt, dass er lieber liest, wie jemand Leute beim Weinen beobachtet hat, als sich Pornos anzusehen."

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Die Vorliebe für Tränen (oder Dacryphilie) ist einer der wenig erforschten Bereiche unter den abnormen Sexualpräferenzen. Die erste empirische Studie zum Thema wurde im März 2015 von den Psychologen Richard Greenhill und Mark D. Griffiths von der Nottingham Trent University publiziert. Sie haben herausgefunden, dass sich die Beweggründe hinter diesem Fetisch in drei Kategorien einteilen lassen: Mitgefühl, zum Weinen verzogene Lippen und Dominanz/Unterwerfung.

Die Hälfte der Studienteilnehmer hat Mitgefühl als Quelle ihrer Dacryphilie angegeben. Alle von ihnen (ausschließlich Frauen) gaben an, dass es sie „erregt, den Weinenden durch ihr Mitgefühl zu trösten." Sie sprachen alle von derselben Fantasie: Jemanden zu treffen, der ein „hartes Leben" hat und den sie trösten können.

Hast du schon mal jemanden umarmt, der drauf und dran war zu weinen? Das gibt ihnen meistens den Rest.

Die Studie von Greenhill und Griffith hat auch gezeigt, dass viele der Teilnehmerinnen dadurch erregt werden, dass sich ihnen der Mann „unterwirft", wenn er sich vor ihnen derart schwach zeigt. In Filmen und Fernsehsendungen werden Tränen oft dazu benutzt, die verletzliche Seite des männlichen Protagonisten darzustellen. Von Tim Riggins Heulkrampf, weil sein bester Freund wegzieht, bis hin zu Marlon Brandos „Hey, Stella"—weinende Männer, die in den Armen mitfühlender Frauen dahinschmelzen, sind zu einem romantischen Klischee geworden.

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Das wiederum wirft natürlich die Frage auf, ob Dacryphilie die Geschlechterrollen eher bestärkt oder sie durchbricht: Wenn Frauen weinen, sind sie hysterisch; wenn Männer weinen, dann sind sie Helden. Tatsächlich hat eine 2011 veröffentlichte Studie über die chemischen Signale menschlicher Tränen ergeben, dass Männer rein biologisch durch die Tränen von Frauen abgetörnt werden. Nachdem die Versuchspersonen an geruchslosen weiblichen Tränen gerochen hatten, fühlten sie sich von Fotos von Frauengesichtern weniger angezogen. Darüber hinaus waren sowohl ihre sexuelle Erregung, als auch ihr Testosteronlevel deutlich vermindert.

Foto: imago | Westend61

Der Psychologe Ad Vingerhoets von der Tilburg University—der nicht an dieser Studie beteiligt war, aber ebenfalls menschliche Tränen erforscht—sagte gegenüber dem National Public Radio, dass er glaubt, dass der primäre Effekt, den weinende Frauen auf Männer haben, nicht die Reduktion des Testosteronlevels ist. Vielmehr, betont er, steigt der Oxytocinspiegel an, also „das Hormon, das soziale Bindungen und Fürsorge fördert."

Wenn Frauen weinen, sind Männer biologisch darauf programmiert mit Fürsorge statt mit sexueller Aggression zu reagieren, argumentiert er. Einfühlungsvermögen spielt eine essenzielle Rolle beim Aufbau intimer Beziehungen und hochfunktionaler sozialer Systeme. Jesse Bering, Direktor des Instituts für Kognitionswissenschaften und Kultur an der Universität in Belfast, sagte gegenüber dem National Public Radio, dass Weinen nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch Paare stärkt. In der soziokulturellen Entwicklungsgeschichte des Menschen besaßen diejenigen, die gut weinen konnten, besonders viel Macht.

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Die Männer auf Crying Lovers scheinen sich allerdings eher von der physischen Manifestation des Weinens angezogen zu fühlen, als von der emotionalen Komponente. Truffle schreibt: „Eines der [männlichen] Mitglieder ist fixiert auf die Lippen von weinenden Frauen. Ein anderer steht darauf, wie sich der Nacken einer Frau bewegt, wenn sie schluchzt. Einige stehen darauf zu sehen, wie die Tränen fließen."

Unser Lehrer las der Klasse Wo der rote Farn wächst vor und alle Mädchen haben geweint. Ich war total fasziniert.

Einer der Studienteilnehmer, der unter dem Namen „TorNorth" zugleich auch als Admin auf Crying Lovers aktiv ist, hat den Forschern gesagt, dass er vor allem erregt wird, wenn er zum Weinen verzogene Lippen sieht. In einem Interview für die Studie sagt er, dass er „die vorstehende, gekrümmte oder bebende Unterlippe von weinenden Frauen" mag.

Für TorNorth hängt die Erregung aber nicht direkt mit Tränen zusammen. Obwohl es sich bei seiner Art der Fixierung laut der Studie eher um eine Seltenheit handelt (die Mehrheit der Teilnehmer waren Frauen, die durch Mitgefühl angetörnt wurden), macht seine Aussage Sinn—insbesondere im Hinblick auf den biologischen Effekt, den weibliche Tränen auf Männer haben: Wenn die Erregung eines Mannes nicht abnimmt, sondern die weinende Frauen zum Fetisch erhoben wird, wäre das wider die Natur.

Generell sollte bei Männern Oxytocin ausgestoßen werden, wenn sie eine Frau weinen sehen, so die Forschungsergebnisse von Vingerhoet. Sie sollten das Bedürfnis haben, ihr zu helfen und nicht das Bedürfnis nach sexueller Befriedigung. Bedeutet das also, dass Dacryphilie bei Männern eine andere Form von Sadismus ist?

Anderseits gibt es auch noch ein alternatives Szenario, in welchen die weinende Frau anziehend auf den männlichen Partner wirkt, weil sie mit Sex getröstet werden möchte—und schon sind wir wieder in der Themenkategorie „Dominanz/Unterwerfung" von Greenhill und Griffith.

In dieser Kategorie wurden die Teilnehmer entweder dadurch erregt, dass „sie das Weinen bei einem mündigen untergebenen Individuum provozierten oder durch ein mündiges dominantes Individuum zum Weinen gebracht wurden." Im Gegensatz zur mitfühlenden Dacryphilie unterscheidet diese Form des Fetischs weniger zwischen emotionalen und physischen Gründen für das Weinen. „Ulrlshtar", eine 24 Jahre alte Belgierin, die an einer Studie von collarchat.com teilnahm, sagt, dass sie es genießt, dominiert zu werden, bis sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken kann—egal ob mental/emotional oder körperlich/masochistisch. Tränen wurden für sie zu einem festen Bestandteil ihrer BDSM-Neigung.

Truffle hat zum ersten Mal in der vierten Klasse gemerkt, dass sie Tränen antörnen. „Unser Lehrer las der Klasse Wo der rote Farn wächst vor und alle Mädchen haben geweint. Ich war total fasziniert. Dem Mädchen, das neben mir saß, liefen die ganze Zeit riesige, glänzende Tränen über die Wangen und ich konnte meinen Blick einfach nicht von ihr lösen", erinnert sie sich. „Mein erster Schwarm."

Egal ob es dabei um Mitgefühl, Mimik oder das klassische BDSM geht, Dacryphilie deckt die komplexen Beziehungen zwischen Tränen, Sex, Männern und Frauen auf. Biologisch betrachtet, soll Weinen die Sicherheit und Funktionalität unserer Gesellschaft sicherstellen. Wir brauchen Tränen. Weinen fördert die Empathie in unserer Gesellschaft. Und wer wirklich richtig gut weinen kann, kann seine Geschichten auf Crying Lovers präsentieren, dem wohl tränenreichsten Fetischforum im Netz.