Abstrakte Illustration einer Person, die vor einem Laptop sitzt
Illustrations by Shawna X

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Menschen

Wer sieht zu, wenn sich jemand im Livestream das Leben nimmt?

Es gibt immer mehr Menschen, die Live-Streaming-Dienste wie Periscope oder Facebook Live dazu missbrauchen, ihre Gewalttaten oder den eigenen Tod zu inszenieren. Einschreiten tun die Wenigsten, manche stacheln derartiges Verhalten sogar noch an.

Im Jahr 2008 loggte sich ein 19-jähriger Schüler namens Abraham Biggs auf der mittlerweile stillgelegten Live-Streaming-Plattform Justin.tv ein und nahm eine tödliche Überdosis Opium und Benzodiazepin. Zwölf Stunden später stieß jemand auf den Livestream—welcher noch immer weiterlief und von Nutzern kommentiert wurde—, identifizierte Biggs Standort und rief die Polizei. Man sieht noch, wie sie in Biggs Zimmer kommen, bevor das Video schließlich endet.

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Die Verbreitung von Live-Streaming-Diensten wie Facebook Live und Periscope hat es Menschen auf der ganzen Welt ermöglicht, noch einfacher das tägliche Leben fremder Menschen zu teilen und zu verfolgen. Über die Portale flimmert aber nicht nur Leben über unsere Computerbildschirm, sondern auch Tod und Gewalt. Seit ihren Anfängen wurde die Technologie dazu missbraucht, um andere Leute im Livestream zu vergewaltigen oder zu ermorden—oder sich selbst das Leben zu nehmen. Im Mai dieses Jahres hat eine 19-jährige Französin über Periscope ihren Tod angekündigt, bevor sie sich außerhalb von Paris vor einen Zug warf. Als wäre das nicht schlimm genug, scheinen derartige Streams die Zuschauer ähnlich gleichgültig vor ihren Bildschirmen sitzen zu lassen wie Tiervideos. Nutzer sehen sich die Streams an, tun jedoch nichts, um zu helfen—oder noch schlimmer, stacheln die Person vor der Kamera sogar noch an.

Biggs Selbstmord ist eines von erschreckend vielen Beispielen dafür, wie die Live-Streaming-Technologie genutzt wird, um menschliches Leid zu dokumentieren—und eben auch zu konsumieren. Viele der Leute, die Biggs in den letzten Stunden seines Lebens anonym beobachtet haben, stachelten ihn dazu an, weiterzumachen. Wendy Crane, eine Forscherin vom Broward County Medical Examiner's Office (BCMEO), sagte damals gegenüber ABC News: „Die Leute sagten Sachen wie: ‚Mach schon! Tu es, du Versager.'" Laut einem Vertreter des BCMEO konnte uns Crane hierzu kein persönliches Statement abgeben.

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Acht Jahre später scheinen sich derartige Vorfälle zu häufigen. Die zunehmende Berichterstattung in den Medien führt unter anderem auch dazu, dass die Forderung nach strengeren Sicherheitsvorkehrungen bei den Anbietern immer lauter wird. Im April wurde die 18-jährige Marina Lonina wegen Kidnapping, Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch und Begünstigung sexuellen Materials mit Minderjährigen verurteilt, nachdem sie über Periscope live gezeigt hatte, wie der 29-jährige Raymond Boyd Gates ihre 17-jährige Freundin missbrauchte. Laut der New York Times sind diese Anklagepunkte „fast so schwerwiegend" wie die, für die sich Gates verantworten muss. „Die meiste Zeit über streamt sie [die Geschehnisse] über ihre Periscope-App und kichert", beschrieb der Staatsanwalt das Verhalten der Angeklagten. Periscope hat auf die Anfrage von Broadly nicht reagiert.

Vergleicht man die tragischen Geschichten aus den letzten Jahren, scheinen Selbstmorde besonders apathisch aufgenommen zu werden. Im Jahr 2007 erhängte sich der 42-jährige Kevon Whitrick vor den Augen von rund 60 Zuschauern, von denen ihn einige sogar noch dazu anfeuerten, wie die BBC berichtet. Ein 24-jähriger Japaner erhängte sich 2010 und übertrug das Ganze über den Anbieter Ustream. Laut CNN wurde er ebenfalls von der Online-Meute angestachelt.

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Unter dem Nutzernamen „Candyjunkie" war Biggs ein regelmäßiger Besucher von „Miscellaneous" (kurz Misc.; zu Deutsch „Verschiedenes"), einem Unterforum der Internetseite bodybuilding.com. Bevor er starb, thematisierte er dort seine suizidalen Gedanken und sprach über „Probleme und Zweifel". Der Forum-Manager der Seite sagte gegenüber Broadly, dass bodybuilding.com zu dieser Geschichte keinen Kommentar abgeben wolle. Die Nutzer auf Misc. haben seit seinem Tod vor einigen Jahren allerdings regelmäßig über Biggs geschrieben. „Ich habe Leuten erzählt, dass ich es gesehen habe und sie haben mich gefragt, warum ich nichts getan habe", schrieb SDFlip im Dezember 2008. „Was hätte ich denn tun sollen?" SDFlip sagte, dass er damals in England gelebt hatte. „Ich habe ihn in dieser Nacht über die Kamera gesehen und als die Polizei kam, ist mir regelrecht der Atem gestockt", schrieb ein anderer Nutzer drei Jahre später. „Das war das ABSOLUT Abartigste, was ich jemals gesehen habe."

Ich hoffe, ihr behaltet das für lange Zeit im Hinterkopf: Jemand, der sehr krank war, hat sich umgebracht, nachdem er eure Kommentare gelesen hat.

Dr. Becky Lois hat sich auf Suizidprävention spezialisiert und arbeitet als betreuende Psychologin im Verhaltensberatungsteam der Kinderklinik des Montefiore Medical Centers. Im Gespräch mit Broadly erklärt Lois, dass jeder, der virtuell in Kontakt mit suizidalem Verhalten kommt, die Verantwortung hat, der gefährdeten Person zu helfen. „Man muss diese Dinge ernst nehmen, selbst wenn man glaubt, die Person mache das nur wegen der dramatischen Wirkung, würde es nicht ernst meinen oder würde nur ein Ventil für ihre Unzufriedenheit suchen, sich aber nicht wirklich das Leben nehmen", sagt sie.

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Wie die New York Times berichtete, postete Biggs ein Jahr vor seinem Tod, dass die bodybuilding.com-Nutzer zu einer Art „Familie [für ihn] geworden sind". Laut Lois ist es allerdings falsch zu glauben, dass sich Menschen, die man online trifft, auch wirklich um einen sorgen oder eine „‚entsprechende' Verbindung zu einem haben".

„Viele Menschen neigen dazu, sich zu sehr auf solche Beziehungen zu verlassen, was gefährlich werden kann", sagt sie mir. „Man kennt diese Leute ja nicht."

Viele Nutzer auf bodybuilding.com sagten, sie hätten nicht gedacht, dass Biggs, der zum Zeitpunkt seines Todes unter Depressionen litt und sich wegen einer bipolaren Störung behandeln ließ, es ernst meinen könnte. Er habe zuvor schon öfter darüber gesprochen, es allerdings nie getan. Ein Screenshot des Nutzers socalsocal zeigt, dass ein Moderator des Forums wegen Biggs Livestream und seinen Selbstmorddrohungen benachrichtigt wurde. Der Nutzer forderte den Moderator dazu auf, die IP-Adresse herauszufinden und die Polizei zu alarmieren. Der antwortete allerdings nur: „Der ist eine Aufmerksamkeitshure. Du solltest all die Threads sehen, die er anfängt und dann wieder löscht." Einem solchen Mangel an Anteilnahme begegnet man bei vielen Nutzern auf Misc., die der Meinung zu sein scheinen, dass Biggs nicht ernst zu nehmen war, weil er immer wieder nach Hilfe gerufen hatte.

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Aus Sicht eines Psychologen ist das einfach nur falsch. Die American Association of Suicidology betrachtet Gespräche über Suizid als ein Zeichen für ein „akutes Risiko". Das National Institute of Mental Health bezeichnet „die Drohung, sich selbst zu verletzen oder umzubringen oder davon zu sprechen, sich verletzen oder umbringen zu wollen" als ein erstes Warnsignal für suizidgefährdete Menschen. Lois sagt, dass jeder, der davon spricht, sich selbst umzubringen, „hochgradig" gefährdet ist. „Wir müssen solche Kommentare äußerst ernst nehmen und sicherstellen, dass die Person Hilfe bekommt", sagt sie.

Andere Nutzer auf Misc. haben sich eingeloggt und die Menschen verurteilt, die Biggs schikaniert haben. „Sie sollten sich dafür schämen, dass sie eine psychisch labile Person angestachelt haben, obwohl er damals ganz offensichtlich ernsthaft verzweifelt war", schrieb der User swoleplaya nach dem Vorfall im Jahr 2008. „Ich hoffe, ihr behaltet das für lange Zeit im Hinterkopf: Jemand, der sehr krank war, hat sich umgebracht, nachdem er eure Kommentare gelesen hat."

Illustration: Shawna X

Wir reden uns zwar gerne ein, dass Menschen soziale Wesen sind, doch Gruppenapathie gegenüber persönlichem Leid ist ein gut dokumentiertes Phänomen. Als einer jungen Frau namens Kitty Genovese 1964 aufgelauert und sie vor ihrem Wohnhaus in New York City brutal niedergestochen wurde, berichtete die New York Times, dass 37 oder 38 „respektable, gesetzestreue Bürger" Zeugen dieses schrecklichen Vorfalls wurden. Als sie um ihr Leben schrie—„Er ersticht mich"—, öffneten die Menschen im Nachbarhaus ihre Fenster, berichtet die Times. Dahinter standen anonyme Zeugen und beobachteten die Tat. Ein Mann rief von oben hinunter, was den Mörder kurze Zeit stoppte. Aber dann schlossen sich die Fenster wieder und der Mörder kehrte zurück, um Genovese noch einmal niederzustechen. Sie schrie immer und immer wieder vor den stummen Zuschauern: „Ich sterbe." Ihr Mörder kam und ging, während sie kämpfte, schrie und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Irgendwann missbrauchte er sie und tötete sie anschließend.

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Zumindest ist die schockierende Geschichte so überliefert. In den Jahren nach dem Mord an Genovese wurde der Ablauf infrage gestellt. Als der Mörder Winston Moseley im März dieses Jahres im Gefängnis starb, korrigierte die Times ihre damalige Berichterstattung: „Der Artikel [der vom Mord an Kitty Genovese berichtet] übertreibt hinsichtlich der Zeugenanzahl und dessen, was sie mitbekommen haben, grob. Niemand hat den Angriff in seiner Gänze miterlebt." Nur wenigen von denen, die „einen flüchtigen Blick" auf den Übergriff geworfen hatten, wurde der wahre Grund für Genoveses Schreie klar, notiert die Times—viele sagten, dass sie glaubten, dass die beiden ein streitendes oder betrunkenes Liebespaar wären.

Dennoch hatte die Geschichte in ihrer ursprünglichen Überlieferung einen massiven kulturellen Einfluss. Fünf Jahre nach dem Tod von Genovese haben Forscher den Begriff „Zuschauereffekt" definiert—ein psychologisches Phänomen, nach dem die Wahrscheinlichkeit, dass Leute einem Menschen in Not helfen, geringer ist, wenn noch andere Personen anwesend sind. Dr. Vincent Hendricks von der Universität in Kopenhagen hat erforscht, wie sich der Zuschauereffekt im Verlauf des 21. Jahrhunderts entwickelt hat. Im Interview mit Broadly erklärt Hendricks, dass das Internet Menschen die Möglichkeit bietet, ihre Meinung in scheinbar vollkommener Anonymität zum Ausdruck zu bringen—was es traurigerweise zu einem exzellenten Rahmen für die Weiterentwicklung des Zuschauereffekts macht.

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Ich habe Leuten erzählt, dass ich es gesehen habe und sie haben mich gefragt, warum ich nichts getan habe.

Das hat auch damit zu tun, wie soziale Normen innerhalb verschiedener Umgebungen etabliert werden, sagt er. „Persönliche Kommentare oder Likes sind zwar unbedeutend", jedoch schaffen sie, indem sie sie anhäufen, Werte und Verhaltensweisen, an denen sich die Gruppe orientiert. Das kann bei einem Livestream, in dem jemand sagt, dass er sich umbringen möchte, zu einem passiven Klick auf „Like" führen, zu Schweigen oder dazu, dass „Personen dazu ermutigt werden, mit ihren selbstzerstörerischen Handlungen fortzufahren", sagt Hendricks. 2003 nahm der 21-jährige Brandon Vedas vor der Webcam eine Überdosis verschiedener Medikamente. Obwohl er schon vorher über seinen Plan, eine große Menge Antidepressiva und Alkohol zu schlucken, gesprochen hatte, beauftragte er andere Mitglieder des Chatrooms, auf seinem Handy anzurufen, wenn er so aussehen sollte, als würde er „sterben". Stattdessen sagten die Nutzer zu Vegas, er solle „mehr essen" und dass sie sehen wollten, ob er „überlebt oder einfach nur ohnmächtig wird". Vedas letzte Nachricht vor seinem Tod am frühen Morgen des 12. Januars 2003 lautete: „Ich hab euch doch gesagt, dass ich hardcore bin." Er ist seitdem zu einem äußerst verstörenden Meme geworden.

Die Anonymität im Netz verstärkt diese Effekte, erklärt Hendricks. Es ist so ähnlich, als würde man mitten in der Nacht ein Fenster öffnen, um jemandem unten auf der Straße beim Sterben zu beobachten—nur dass man noch weiter davon entfernt ist, weil das Fenster zur Tragödie eines anderes Menschen anders ist als ein Bildschirm, auf dem man sich sonst auch fiktionale Gewalt in Filmen oder Fernsehsendungen ansieht. Zudem ist es weit entfernt von der Realität dessen, was passiert. „Zuzusehen [ohne zu Handeln] hat nahezu keinerlei Konsequenzen und wird schon bald zur bedauerlichen Normalität", sagt Hendricks.

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Doch es ist nicht so, als würde das gesamte Wertesystem einer Person durch das Verhalten der Gruppe ausradiert. Man kann sich auch dabei erwischen, wie man Gewalt innerhalb einer Gruppe passiv beobachtet, obwohl man als Einzelperson die passive Beobachtung von Gewalt ablehnen würde: Wenn du glaubst, dass etwas falsch ist, aber denkst, dass die meisten anderen in deiner Gruppe es für richtig halten, dann ist die Wahrscheinlichkeit umso größer, dass du ebenfalls mitziehst. In Wirklichkeit denken die Leute in der Gruppe vermutlich auch, dass es falsch ist, aber das ist in der jeweiligen Situation nicht unbedingt von Bedeutung. „Dieser kollektive Tatbestand, sich gemeinsam einer Norm zu verschreiben, die man persönlich ablehnt, ist in der Literatur als Pluralistische Ignoranz bekannt", erklärt Hendricks. Das ist einfach ein Teil der menschlichen Natur.

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„Zum Teil gehen sie wahrscheinlich nicht nur online, um ihr Leid zum Ausdruck zu bringen, sondern auch, weil sie versuchen, Feedback zu bekommen", sagt Lois. „Unter Umständen versuchen sie auch herauszufinden, ob sich jemand genug um sie sorgt, um sie aufzuhalten oder einzugreifen."

Tatsächlich ist der „Hilfeschrei" sowohl unter Küchen- als auch unter professionellen Psychologen anerkannt. 2010 schrieb der Nutzer paulx002 über Biggs: „Dieser arme Typ ist ganz offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf und hat das Gefühl, er hätte niemanden in der Welt—niemanden, der sich um ihn kümmert. Er wollte wahrscheinlich, dass sich einer von den Tausenden, die ihm beim Sterben zusahen, genug um ihn sorgen würde, um die Polizei zu rufen."

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Nach mehr als zehn Jahren, in denen Selbstmorde live gestreamt wurden, glauben viele, dass es die Verantwortung des Betreibers sei, schädliches oder gewalttätiges Verhalten, das über solche Dienste übertragen wird, zu kontrollieren. Nach dem Tod seines Sohnes, sprach der Vater von Biggs mit ABC News und zeigte mit dem Finger auf die Dienstleister, die es seinem Sohn ermöglichten, sich selbst zu schaden. „Es gibt jede Menge Dreck da draußen, den es nicht geben sollte", sagt er. „Leider durfte so etwas passieren."

Justin.tv existiert mittlerweile nicht mehr. Wenn man auf die Seite geht, findet man einen Post, der die Besucher auf ein neues Projekt umleitet: die vor allem für Gaming-Übertragungen genutzte Plattform Twitch. 2008 veröffentlichte Justin.tv ein Statement zu Biggs Tod. Darin stand unter anderem: „Wir bedauern, was passiert ist und wollen die Privatsphäre des Opfers und seiner Familie in dieser Zeit respektieren."

Er wollte wahrscheinlich, dass sich einer von den Tausenden, die ihm beim Sterben zusahen, genug um ihn sorgen würde, um die Polizei zu rufen.

Lois glaubt ebenfalls, dass Live-Streaming-Plattformen wie Periscope und Facebook Live verantwortlich dafür sind, ihre Inhalte zu überwachen. „Die Technologie ist immer einen Schritt weiter als die Moral", sagt sie und weist darauf hin, dass es schon oft zu solchen Tragödien gekommen ist, bevor Sicherheitsbestimmungen implementiert wurden. Facebook hat soeben neue Selbstmordpräventionstools veröffentlicht. Wie berichtet wird, arbeitet der Social-Media-Unternehmen auch mit den französischen Behörden zusammen, nachdem ein Mann einen Polizisten und seine Frau in Paris vor Facebook Live hingerichtet hat.

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Auf die Bitte um einen Kommentar zum Thema Livestream-Suizid, -Vergewaltigungen und -Mord antwortete Facebook mit demselben Statement, das sie auch anderen Publikationen nach solchen Vorfällen zukommen ließen:

Wir glauben, dass der Großteil der Leute Facebook Live dazu nutzt, um zusammenzukommen und seine Erfahrungen in diesem Moment mit Freunden und der Familie zu teilen. Wenn jedoch jemand unsere Gemeinschaftsstandards verletzt, während er Live nutzt, versuchen wir, diese Streams so schnell wie möglich zu unterbrechen, wenn uns davon berichtet wird. Deswegen haben wir Menschen die Möglichkeit eingerichtet, uns über mögliche Verstöße während eines Livestream in Kenntnis zu setzen. Es ist uns bewusst, dass es besondere Herausforderungen in Bezug auf die Inhalte und die Sicherheit von Live-Videos gibt. Wir nehmen diese Verantwortung ernst und arbeiten hart daran, das richtige Gleichgewicht zwischen dem verfügbar machen neuer Ausdrucksformen und einem sicheren und respektvollen Umgang herzustellen. Wir fühlen uns zutiefst verpflichtet, die Effektivität im Umgang mit Meldungen in Bezug auf Live-Content, der gegen unsere Gemeinschaftsstandards verstößt, zu verbessern.

2010 schrieb der Misc.-Nutzer Illriginalized, dass er vor Kurzem von Biggs Selbstmord gehört hätte und sich für die Kaltherzigkeit seiner bodybuilding.com-Kameraden schäme. Darüber hinaus meinte er, dass jeder, der Biggs sagte, er sollte sich selbst umbringen, strafrechtlich verfolgt werden sollte: „Wenn ich jetzt jemanden sehe, der eine andere Person in diesem Forum dazu anstachelt, sich selbst umzubringen, werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um diese Person ausfindig zu machen und die entsprechenden Behörden zu verständigen—vorzugsweise das FBI."

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Jeff Banglid ist Kriminalbeamter bei dem Dezernat für Cyber-Kriminalität des Toronto Police Service. Im Gespräch mit Broadly sagt Banglid, dass es in Kanada eine Straftat ist, „eine andere Person dazu zu überreden oder anzustiften, Suizid zu begehen. Das Gleiche gilt für die Beratung zum Suizid. Wenn also jemand eine andere Person dazu ermutigt mit dem, was sie tut, weiterzumachen, machen sie sich strafrechtlich verantwortlich für diese Tat." Ähnlich ist es auch in Deutschland: Hier können Personen, die mit einem Selbstmord in Zusammenhang stehen, unter anderem wegen Anstiftung oder Beihilfe zur Selbsttötung verantwortlich gemacht werden.

In Deutschland ist „assistierter Suizid"—ebenso wie Selbstmord an sich—nicht strafbar. 2015 wurde lediglich ein Gesetz verabschiedet, dass „geschäftsmäßige" Sterbehilfe (wie beispielsweise von Sterbehilfevereinen) unter Strafe stellt. Möglich ist es allerdings, beispielsweise wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt zu werden, außer es liegt eine „eindeutige Willensbekundung des Suizidenten" vor.

In den USA stellt sich die Situation etwas komplizierter dar. Laut dem Patient Rights Council gibt es in 40 Staaten Gesetze, die die Beihilfe, Aufforderung oder die physische Beihilfe zum Selbstmord in unterschiedlichen Graden verbieten. 2015 berichtete VICE von dem Selbstmord des 18-jährigen Conrad Roy III in Massachusetts, dessen 17-jährige Freundin Michelle Carter ihn durch hunderte von Textnachrichten dazu angestachelt hatte, sich selbst umzubringen. (Ihre Beziehung bestand hauptsächlich aus Anrufen und Nachrichten.) Laut einem Bericht über den Fall im New York Magazine ging Carter dazu über, Roy über potenzielle Methoden zur Kohlenmonoxidvergiftung zu beraten und sagte Sachen wie: „Wenn du vom Strand zurückkommst, musst du es tun. Du bist bereit. Du bist entschlossen. Jetzt ist die beste Zeit, es zu tun." Carter wurde später vor einer Grand Jury wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Im April 2016 berichtete MassLive, dass der Oberste Gerichtshof von Massachusetts die Anklagepunkte gegen Carter noch einmal prüfen wird.

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Es gibt keinen Unfall, ohne dass sich eine Menge darum herum versammelt und auf Zehenspitzen steht, um zu sehen, was mit der Person, die am Boden liegt, passiert.

Momentan ist Massachusetts einer der wenigen US-Bundesstaaten, in denen es keine spezifischen Gesetze gibt, die Beihilfe oder Anstiftung zum Suizid praktisch verbieten. Laut der Gerichtsdokumente, auf die sich MassLive stützt, betonten die Staatsanwälte Carters Beteiligung an Roys Selbstmord: „Carter spielte eine entscheidende Rolle: Sie redete ihm seine Zweifel Punkt für Punkt aus, versicherte ihm, dass seine Familie verstehen würde, warum er es tat, recherchierte, versicherte ihm, dass er es schaffen würde und drohte ihm damit, ihm ‚Hilfe' zu holen, wenn er seine Pläne nicht durchführen würde." Dennoch betonte die Verteidigung, dass es keine Grundlage für das Urteil gegen Carter gab, weil es in Massachusetts nicht verboten ist, jemandem zu sagen, dass er sich umbringen soll. „Das Urteil wegen fahrlässiger Tötung war ein offensichtlicher Versuch, die Tatsache zu umgehen, dass die Anstiftung zum Suizid in der Legislatur mit keinem Wort kriminalisiert wird", lautet das kurze Urteil der Verteidigung.

Überall sonst gilt ein Präzedenzfall für die Kriminalisierung von Online- und virtueller Anstiftung zum Selbstmord. VICE verweist auf William F. Melchert-Dinkel, einen Krankenpfleger aus Minnesota, der unter verschiedenen weiblichen Pseudonymen suizidale Menschen dazu anstiftete, sich selbst zu erhängen und das Ganze live zu streamen. 2011 wurde er wegen Beihilfe zum Suizid verurteilt. Das Oberste Gerichte von Minnesota kehrte diese Regelung 2014 um und erachtete das Gesetz gegen die Anstiftung zum Suizid als verfassungswidrigen Verstoß gegen den ersten Verfassungszusatz über die Meinungs- und Redefreiheit. Doch Melchert-Dinkel versuchte es im selben Jahr nochmal und das Gesetz wegen Beihilfe zum Suizid wurde beibehalten.

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Die Schwierigkeiten bei der Prävention und im Umgang mit aktiver, live dokumentierter Gewalt schafft darüber hinaus noch weitere Probleme. Banglid wurde bisher noch nie wegen einem Livestream-Suizid alarmiert, aber er hat an anderen Fällen von Gewalt gearbeitet, die online live stattgefunden haben. Solchen Fällen muss energisch begegnet werden, erklärt er. „Das ist dasselbe, als würde man eine Straftat direkt vor sich beobachten", sagt er und fügt an, dass live übertragene Suizidversuche oder Gewaltverbrechen schwieriger aufzuhalten sein können, weil „man durch die Internetverbindung getrennt ist." Fahnder ermitteln, wenn möglich, die IP-Adresse und achten genau darauf, welche Details auf dem Bildschirm sichtbar sind und Rückschlüsse auf die Identität und den Aufenthaltsort der Person zulassen. Banglid erklärt, dass sein Team aus Cyber-Kriminologen fast täglich mit Social-Media-Plattformen zusammenarbeiten. „Erst dieses Wochenende hatten wir wieder eine Situation, in der wir tatsächlich einen Suizid durch die Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen verhindern konnten", sagt er.

Das Team aus Cyber-Kriminologen für das Banglid tätig ist, gibt es erst seit 2014. Obwohl fragwürdige Online-Aktivitäten oftmals mit dem Dark Web in Verbindung gebracht werden, sagt Banglid, dass der Großteil ihrer Arbeit „darauf beruht, was die Öffentlichkeit auch sonst sieht." Es ist zu früh, um zu sagen, ob Livestream-Suizid oder -Gewalttaten ein Trend sind oder nicht, aber Banglid findet die merkliche Zunahme von Fällen alarmierend. „Für solche Gewalttaten und andere derartige Dinge müssen die wenigsten Zeugnis ablegen", sagt er.

Zugleich haben diejenigen, die ihre Webcams in den dunkelsten und verzweifeltsten Momenten ihres Lebens anschalten, anscheinend das Bedürfnis nach Zeugen. „Suizid ist immer eine zwischenmenschliche Handlung", sagt Dr. Henry Seiden, ein klinischer Psychologe, der sich auf Suizid und seine zerstörerischen Auswirkungen auf die Freunde und die Familie der Opfer spezialisiert hat. „Das ist eine Erzählung, eine Geschichte", sagt er gegenüber Broadly. Seiden erklärt, dass die Dokumentation des Tods über Livestream-Videos nicht nur ein neuer technologischer Fortschritt ist, sondern auch einfach der menschlichen Natur entspricht. „Der Mann auf dem Gipfel des Bergs stellt sich vor, Gott sei sein Zeuge", sagt er. „Diese Technologie ist einfach nur ein moderneres Mittel."

Trotzdem ist es unmöglich, die Handlungen oder Motive von suizidalen Menschen zu verallgemeinern. „Unter den zwischenmenschlich Motive gibt es genauso viele Motive wie es Geschichten gibt", sagt Seinden und erklärt, dass bei öffentlichen Fällen von Suizid meist nur das Opfer selbst weiß „warum". „Aber was auch immer es für die Person, die die Tat begeht, bedeutet und wer auch immer ihrer Meinung nach Zeuge davon wird—gesehen zu werden ist sicherlich eines [dieser Motive]."

„Vielleicht soll es heißen: ‚Rette mich'", sagt er weiter. „Vielleicht ist es ein: ‚Versuch mich zu retten, aber du wirst es nicht schaffen.'"

Für Seiden ist es nicht überraschend, dass Online-Zuschauer sich solche Streams ansehen. „Es gibt keinen Unfall oder ähnliches, ohne dass sich eine Menge darum herum versammelt und auf Zehenspitzen steht, um zu sehen, was mit der Person, die am Boden liegt, passiert", sagt er. Gewalt und Zerstörung existieren überall in unserer Gesellschaft—von den Nachrichten bis hin zur Unterhaltungsindustrie. „Der Schmerz anderer fasziniert uns, weil er nur einen Wimpernschlag von unserem eigenen Schmerz entfernt ist", sagt er. „Wir könnten genauso gut die Person sein, die am Boden liegt und den meisten von uns ist auch klar, dass wir auch die Person sein könnten, die sich das Leben nimmt."

„Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in der Lage ist, einzuspringen und einzugreifen, bevor etwas schlimmes passiert, ist unglaublich gering", sagt Lois über Suizid und andere Gewalttaten, die über Live-Streaming-Plattformen verbreitet werden. Facebook, Periscope und andere Streaming-Services sind an vorderster Front dieser Tragödien—auch sie müssen aufmerksam bleiben und werden mit der Zeit bessere wie auch schnellere Interventionsmöglichkeiten schaffen müssen. Aber auch das wird das Problem nicht an der Wurzel packen. „Die Wahrheit ist: wenn jemand Selbstmord begehen möchte—ob das nun im Livestream stattfindet oder nicht, ist egal—, dann werden sie auch Suizid begehen, unabhängig vom Streaming-Service" sagt Lois.

„Auf gewisse Weise lässt es einen vom Haken und gibt einem das Gefühl, nicht eingreifen zu müssen, weil man die Person ja nicht kennt und sie kennt einen nicht und niemand weiß, dass man sich das gerade ansieht", sagt Lois. Doch diese Art zu denken könnte bei einer anderen Person über Leben und Tod entscheiden.

Auch die Möglichkeiten der Polizei sind begrenzt. „Wir könnten uns niemals jeden einzelnen Post ansehen", sagt Banglid. „Zudem könnten wir weder den Feed jedes einzelnen Users überwachen, noch würden wir das wollen." Aus diesem Grund ist jeder einzelne von uns dafür verantwortlich, auf den anderen zu achten. Es wäre äußerst hilfreich, wenn die Öffentlichkeit Livestreams, die selbstverletzende Handlungen oder Gewalttaten zeigen, wie reale Notfälle behandeln würde, auf die umgehend reagiert werden muss. „Je früher wir an einer Untersuchung beteiligt sind, desto schneller können wir dem Ganzen auf den Grund gehen und es vielleicht sogar mittendrin stoppen", sagt Banglid.

Kurz nach Biggs Tod sprach sein Vater mit Associated Press und vertrat die Meinung, dass jeder, der sich der Tat seines Sohnes auf Justin.tv bewusst war—sowohl die Livestream-Dienstleister als auch die Kommentatoren, die ihn angestachelt haben—, schuldig sei. „Als menschliches Wesen, sieht man nicht einfach zu, wenn jemand in Schwierigkeiten steckt. Man lehnt sich nicht einfach zurück und sieht zu", sagte er.