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Politik

Der harte Kampf, seine Kinder in einem Flüchtlingslager großzuziehen

22.000 Flüchtlinge leben im libanesischen Flüchtlingslager Schatila. Samaa ist eine von tausenden Frauen, die zusammen mit ihren Kindern aus Syrien geflohen sind—und sich zwischen Müll und Schutt ein bisschen Normalität erkämpfen.
Stock image by Saptak Ganguly via Stocksy

„Wenn wir mit dem Boot übersetzen und das Boot sinkt, werden meine Kinder sterben. Wir können nicht gut schwimmen."

Samaa, 32, kniet auf einem roten Teppich ihrer 2-Raum-Wohnung im Flüchtlingslager Schatila. „Es ist zu gefährlich. Jeder weiß das und deswegen sind wir immer noch hier."

Sie deutet in dem feuchten Betonklotz herum, der Samaa und ihren vier Kindern als Zuhause dient. Das Camp liegt südlich von Beirut, nicht weit von der Stadt entfernt. Niemand lebt freiwillig hier. Genau vor ihrem Fenster ist ein Dach, das knöcheltief mit Müll bedeckt ist. „Komm, mach ein Foto davon", sagt sie. Sie steht auf und führt mich nach draußen. „Mach ein Foto und zeig es den Leuten."

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Es ist kein Paradies, aber abgesehen von dem ganzen Müll und Schmutz um sie herum ist sie dankbar, mit ihrer Familie in Beirut sein zu können. Andere, weiß sie, hatten nicht so viel Glück.

Schatila ist ein kleines Camp. Es wurde 1949 erbaut, um 3.000 palästinensische Flüchtlinge zu beherbergen. Heute leben 22.000 dort und die Zahl steigt. Es werden immer neue Etagen auf vorhandene Gebäude gebaut, wodurch die Gebäude zum Teil bis zu acht Stockwerke hoch sind. Laut Amnesty International ist einer von fünf libanesischen Einwohnern ein syrischer Flüchtling und während Assad im Osten weiter Krieg führt, bereitet sich der Libanon auf eine weitere Flüchtlingswelle vor.

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Während in den Medien vor allem von jungen Männern die Rede ist, die versuchen, über die Grenzen nach Europa zu kommen, ist der Alltag hier von Frauen dominiert. Überall sind kleine Kinder, deren Geschrei man in den dunklen, feuchten Straßen hört. Die Frauen warten darauf, dass ihre Männer aus Syrien zu ihnen stoßen oder sich ihre Söhne und Neffen melden, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben.

Ich bin im Kinder- und Jugendzentrum im Herzen des Camps untergebracht. Abu Moujahad, ein Palästinenser, der gerade einmal einen Monat alt war, als er nach Schatila kam, ist seit mehreren Jahren Leiter des Zentrums. Sein Ziel ist es, gegen die ungerechte Behandlung von Palästinensern zu kämpfen und den Kindern im Camp so viele Chancen wie möglich zu bieten. Das gestaltet sich jedoch äußerst schwierig: Jeden Tag kommen mehr syrische Flüchtlinge in das Lager, die Finanzierung wurde gekürzt.

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Schatila ist das Zuhause von schätzungsweise 22.000 Flüchtlingen. Foto: Eleanor Ross

Aida arbeitet ebenfalls für das Kinder- und Jugendzentrum und gehört auch zu den palästinensischen Flüchtlingen. Sie führt uns herum. Die Gebäude sind zum Teil so hoch gebaut, dass kaum Sonnenlicht in die Gassen dazwischen gelangt.

Wir müssen uns oftmals ducken, weil dicke Kabelstränge von den Dächern der Gebäude hängen, die sich nur wenige Zentimeter über unseren Köpfen zu dichten Geflechten aus Kabeln verbinden. Wie Lianen wachsen sie quer durch die Gasse. Ich hoffe einfach nur, dass ich nicht durch einen Stromschlag sterbe.

„Alles hier ist feucht", sagt sie. „Dadurch wird das Ganze noch gefährlicher."

Stromausfälle sind Alltag in Schatila. Als wir auf dem Weg hoch zu der Wohnung von Aidas Nachbarin Samaa sind, fällt der Strom wieder einmal aus. Im Gegensatz zu den Generatoren im Zentrum von Beirut, das nur 3 Kilometer entfernt liegt, sind die Generatoren hier nur sehr schwach. Es könnte Stunden dauern, bis es wieder Strom gibt.

Die Stabilität des Libanon wankt. In den letzten Jahren hat das Land im Mittleren Osten, das nur halb so groß ist wie das Bundesland Sachsen, zwei Millionen Flüchtlinge aus dem benachbarten Syrien aufgenommen. Damaskus ist nur rund 50 Kilometer entfernt—eine Strecke, die man in unter einer Stunde zurücklegen könnte. Die Grenze zu Syrien gerät oftmals unter Beschuss, während im Süden die Kämpfe mit Israel anhalten.

Warum kommen die Leute hierher, frage ich Aida und Abu Moujarad bei einem Fingerhut voll heißem Kaffee (dem stärksten Kaffee, den ich jemals getrunken habe, weshalb ich nur so tue, als würde ich ihn trinken, während ich versuche den Kaffeesatz zu ignorieren, der mir im Hals stecken bleibt). „Wir sind eine Gemeinschaft aus Vertriebenen, aber was die Leute nach Schatila bringt, sind die günstigen Unterkünfte. Hier kostet eine Wohnung umgerechnet nur 200 bis 250 Euro im Monat, in Beirut sind es ungefähr 500 Euro. Und das schließt normalerweise alle Rechnungen mit ein."

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Platzmangel ist ein großes Problem im Camp. Daher werden neue Wohnungen auf bereits existierende Gebäude gebaut. Foto: Eleanor Ross

Das Camp ist ein Hafen für Vertriebene. Abu Moujarad erklärt, dass er zwar nach Beirut ziehen könnte, sich dort aber nicht willkommen fühlen würde. „Es ist wie eine andere Welt. Die Taxifahrer aus Beirut sagen, es sei nicht sicher, hierher zu kommen. Man hat das Gefühl, das Land und seine Bevölkerung waren geteilt. Vor dem Bürgerkrieg war Religion hier kein Thema. Heute sprechen die Leute über nichts anderes mehr. Gott ist mit dem Libanon beschäftigt!"

Es ist kein Wunder, dass es schwer für die Kinder ist, in diesem stickigen, düsteren Labyrinth zu spielen. Draußen vor dem Büro wird die Straße kurz hell, als ein Teenager eine Pistole ausprobiert. Funken fliegen, währen die Kugeln durch die Straßen peitschen.

Samaa jedenfalls sieht optimistisch in die Zukunft. „Ich bin nicht glücklich hier zu sein, aber ich tue, was ich kann. In Syrien war ich Lehrerin, jetzt verbringe ich meine Zeit damit zu lesen und zu kochen." Wenn Samaas Kinder nach Hause kommen, tut sie ihr Bestes, um sie zu unterrichten. Die von der UN finanzierten Schulen im Lager sind nicht besonders gut.

Aida, die neben mir sitzt und Samaas Geschichte für mich übersetzt, erklärt mir, dass die Schulen fast aus allen Nähten platzen. „Seit die Flüchtlinge aus Syrien angekommen sind, gibt es einfach nicht mehr genug Platz. Das merkt man an den Gebäuden, aber auch an den Einrichtungen hier. In der Schule werden morgens die palästinensischen und nachmittags die syrischen Kinder unterrichtet, aber trotzdem sind sämtliche Klassen überfüllt."

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Samaa sagt: „Ich mache mit den Kinder, was ich kann. Am Abend lesen wir und ich helfe ihnen mit ihren Hausaufgaben." Abgesehen von einem durchgewetzten Zweisitzersofa gibt es in dem Raum nur einen Teppich und ein Bücherregal, das fast komplett leer ist. Ein dickes weißes Buch mit Gekritzel auf Arabisch liegt offen auf dem Sofa. Wenn sie über das Unterrichten spricht, fällt ihr Blick immer wieder auf das Buch.

Schatila ist kein Ort für Kinder. An meinem ersten Abend begleitet mich mein 13-jähriger Fremdenführer Omar zu einem Laden, um Brot zu kaufen. Auf dem Rückweg stößt er mich in die Seite und zeigt auf eine kleine Gruppe von Männern, die vor einem der Gebäude stehen. Omar macht ein Zeichen, indem er seine Finger um seinen Hals legt. „Tod", kichert er. „Töten dich. Dich." Und zeigt auf mich.

Ein Junge rennt die Straße hinunter. Von den Dächern hängen die Stromleitungen. Überall in den Straßen liegt Müll. Foto: Eleanor Ross

Für den IS ist Schatila ein wertvolles Rekrutierungslager. Laut Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen machen sie sich die Desillusionierung in den Lagern zu Nutze und rekrutieren vorwiegend aus Gegenden, die überwiegend von Suniten und Bathisten bewohnt werden. Die Spannungen nehmen zu: Die Leute leben auf engstem Raum und können sich nicht mit dem Lager identifizieren. Streit ist an der Tagesordnung. Verschiedene Religionen, Kulturen und Dialekte machen es schwierig, einer Meinung zu sein.

Obwohl Samaa immer noch optimistisch bleibt, heißt das nicht, dass sie bleiben möchte. Doch sie ist vorsichtig, was die Wege, die aus dem Camp führen würden, angeht. Jeder, mit dem ich in Schatila gesprochen habe, kennt jemanden, der bei der Überfahrt nach Europa umgekommen ist, weil die Flüchtlinge regelrecht in die Schlauchbooten gezwängt werden. Aida erzählt mir, dass die meisten Leute hier über Land nach Istanbul reisen und dann von dort aus mit dem Boot nach Griechenland übersetzen. Oder sie setzen direkt nach Zypern über. „Ich kann nicht mit dem Boot nach Europa, aber ich würde gerne mit dem Flugzeug nach Kanada", sagt Samaa. „Das wäre ein sicherer Weg, aber ich bin jetzt schon seit vier Jahren hier, seit der Bürgerkrieg in Syrien ausgebrochen ist. Wir gehörten zu den Ersten, die geflohen sind."

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„Die Grenze ist mittlerweile geschlossen", sagt sie. „Meine Schwester und ihre Kinder sind immer noch in Syrien und haben Schwierigkeiten, das Land zu verlassen, aber sie versuchen, nach Jordanien zu kommen."

Sie ist nicht die Einzige, die noch Familie in Syrien hat. Am Flughafen treffe ich Lia*. Sie umklammert eine weiße Tragetasche der UN mit ihrem Namen darauf. Sie hat sich aus einer langen Schlange von Leuten gelöst, die alle dieselbe Tasche bei sich tragen und wartet nun in der Abflughalle. Ich frage sie, ob sie weiß, wohin es für sie gehen würde.

Ihre Zunge stolpert leicht, angesichts des ungewohnten Worts: „Montreal." Ich kann keine Begeisterung in ihren Augen erkennen, deshalb frage ich sie, wie sie über die Reise denkt. „Der Flug dauert so lange", sagt sie. „Zuerst muss ich nach Jordanien und dann fliege ich 12 Stunden über das Meer." Sie wirkt etwas erleichterter, als ich ihr sage, dass es an Bord Filme geben sollte, die man sich anschauen kann.

„Ich bin traurig, dass ich Syrien verlassen muss", sagt Lia weiter. „Die letzten neun Monate habe ich in einem Flüchtlingslager im Libanon gelebt, aber meine Familie ist immer noch in Syrien. Meine Mama und mein Papa und alle meine Onkels und Tanten." Sie zeigt auf ihre jüngere Schwester. „Ich reise zusammen mit meiner Schwester."

Kanada hat seit 2015 mehr als 25.000 Flüchtlinge aufgenommen. Nur Deutschland hat noch mehr Plätze zur Verfügung gestellt. Statistisch betrachtet wird es also wohl sehr lange dauern, bis Samaa und ihre Kinder sich hier am Flughafen wiederfinden.

Im Moment ist sie noch gut gelaunt und optimistisch. Linsensuppe köchelt auf dem Ofen—das Mittagessen für ihre Kinder (ihr Lieblingsessen, erzählt sie mir). Als ich die Wohnung gerade verlassen will, höre ich kleine Schritte die Betontreppe hoch rasen. Zwei Mädchen, deren Wangen von der kalten Luft ganz rot sind, stürmen nach oben und drängeln an mir vorbei ins Haus.

„Die Mädchen sind zuhause!", sagt sie. Für den Augenblick sind sie das.


*Name wurde geändert.