FYI.

This story is over 5 years old.

Kultur

Wie ein feministischer Querdenker und Bondage-Liebhaber Wonder Woman erfand

Seine Inspiration: Suffragetten, Verhütungsaktivistinnen und seine Dreiecksbeziehung.
Foto: Jamie | Flickr | CC BY 2.0 [bearbeitet]

Foto: Jamie | Flickr | CC BY 2.0 [bearbeitet]

Das Leben von William Moulton Marston klingt nach vielem, aber auf keinen Fall langweilig. Der Amerikaner wurde 1893 geboren, machte drei Abschlüsse und zwei bedeutende Erfindungen, schrieb acht Sachbücher, drehte einen Stummfilm und verfasste eine erotische Fanfiction über Julius Cäsar. Außerdem ist es schon fast beeindruckend, wie oft er zu Vorträgen an Universitäten ein- und ausgeladen wurde. Von all seinen Errungenschaften und Misserfolgen überdauerte schlussendlich aber nur eine: Wonder Woman.

Anzeige

Dass Marston eine Heldin schaffen sollte, die ein klares Gegengewicht zu den "haarsträubenden Männlichkeitsidealen" im Superheldenuniversum der 1940er darstellte, erscheint allerdings nicht sonderlich überraschend. Schließlich hatte er schon immer ein interessantes Verhältnis zu Frauen.

Mehr lesen: Sailor Moon als Lebensratgeber – "Blattonisch" im Cartoon-Interview

Marstons Auffassung von Liebe, seine Begeisterung für Bondage und sein Glaube an das bevorstehende Matriarchat prägten das Wesen der Amazonen-Kriegerin genauso wie die Frauen, mit denen er sich umgab: Suffragetten und Karrierefrauen, die mehr erreichen wollten als das, was ihnen die Gesellschaft zugestehen wollte und von denen mindestens eine mit Margaret Sanger verwandt war, der amerikanischen Frauenrechtlerin und Begründerin von Planned Parenthood.

Die Geschichte von Wonder Woman beginnt in einem Schloss in der Nähe von Boston, genauer gesagt in Moulton Castle, der Heimat von Marstons Mutter. Sie war die Tochter einer waschechten Aristokratenfamilie und einer ihrer Verwandten hat sogar die Magna Carta unterzeichnet. Ihr kleiner William kam nur zur Welt, weil sie sich dazu herabgelassen hatte, unter ihrem Stand zu heiraten. Trotzdem kam er in den Genuss einer wahrhaft blaublütigen Erziehung: Er segelte drei Mal durch Harvard und machte 1915 seinen Bachelor-Abschluss, gefolgt von einem Doktor in Recht 1918 und einem Doktor in Psychologie 1921.

Anzeige

Seine Frau, Sadie Elizabeth Holloway, besuchte das renommierte Mount Holyoke College, machte ihren Abschluss in Recht aber an der Boston University, weil "diese Dummköpfe in Harvard keine Frauen aufnehmen wollten", wie sie sagte. Zusammen mit ihrem Master-Abschluss am Radcliffe College hatte sie drei verschiedene Abschlüsse, genau wie ihr Mann. Doch als Frau in den späten 1910er-Jahren hatte Holloway Schwierigkeiten, Arbeit als Anwältin zu finden und begann deshalb im Verlagswesen zu arbeiten. Obwohl sie es war, die die Brötchen verdiente, bestand Marston darauf, dass Holloway seinen Namen annehmen sollte. Sie lehnte ab.


Mehr von Broadly: Zu Besuch in dem "Land, in dem Frauen regieren"


Als Psychologieprofessor führte Marston alle möglichen Umfragen und Experimente mit seinen Studenten durch. Einmal stellte er ihnen die Frage, ob sie lieber unglückliche Herren oder glückliche Sklaven wären. Die überwältigende Mehrheit der männlichen Studenten entschied sich für ein unglückliches Herrendasein. Im Rahmen einer anderen Studie wollte er herausfinden, welche Lügen Männer und Frauen über Familie, Arbeit und Liebe erzählten. Außerdem stellte er 1939 bei einer Umfrage fest, dass Männer eigentlich eher auf brünette Frauen standen – die "natürliche Eroberin des Mannes".

Der Großteil seiner Arbeit beschäftigte sich mit der Suche nach der Wahrheit, auch wenn er sie nicht immer finden konnte. Marston hat unter anderem einen der ersten Lügendetektoren entwickelt und obwohl seine Erfindung nicht als Beweismittel bei einem damaligen Prozess zugelassen wurde, fand er immer wieder neue Einsatzmöglichkeiten für seine Erfindung. (Einmal tauchte sie sogar in einer Gilette-Werbung auf.) Auf Basis des Lügendetektors entwickelte er schließlich einen "Liebesdetektor", der zur Grundlage von Wonder Woman's Goldenem Lasso der Wahrheit wurde.

Anzeige

Noch prägender waren allerdings Marstons private Vergnügungen. Schon in jungen Jahren war der Autor und Erfinder von der Macht der Frauen fasziniert. Jill Lepore erzählt in The Secret History of Wonder Woman, dass Marston 1911 in Harvard einen Vortrag der kämpferischen britischen Suffragette Emmeline Pankhurst besucht hatte, die ihn voll und ganz in ihren Bann zog. Nach kurzer Zeit bestand sein innerster Kreis aus einer ganzen Gruppe von Suffragetten, Verhütungsaktivistinnen und anderen revolutionären Frauen. Seine bekannteste Verbindung in diese Welt war aber vermutlich Olive Byrne, die Nichte von Margaret Sanger. Sie wurde Marstons dauerhafte Geliebte und zur optischen Inspiration für die Superheldin.

Unabhängig von der Zeitschrift stellte sie Frauen immer wieder in Ketten dar – als Zeichen ihrer Unterdrückung.

Marston und Byrne lernten sich 1925 an der Tufts University kennen: sie Studentin, er Professor. Nach ihrem Abschluss holte Marston Byrne zu sich und Holloway nach Hause und sie schlossen eine Vereinbarung: Holloway würde arbeiten gehen, Byrne würde zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern und Marston würde weiterhin das verrückte Genie abgeben. Als Byrne selbst Mutter wurde und die drei befürchteten, unangenehme Fragen gestellt zu bekommen, dachten sie sich kurzerhand einen verstorbenen Ehemann für Byrnes aus und nannten ihn William Richard. Byrnes nahm sogar seinen Namen an und nannte sich von da an Olive Richard, wenn sie für das Magazin Family Circle schrieb. Meistens schrieb sie über William Moulton Marston, einen genialen Wissenschaftler, den sie angeblich nie persönlich getroffen hat.

Anzeige

Ihre Dreiecksbeziehung wurde ab und an aber noch um eine weitere Geliebte von Marston erweitert: Marjorie Wilkes, die gelegentlich auch an der Farbgebung von Wonder Woman gearbeitet hat. Wenn sie gerade zufällig in der Nähe war, traf sich das Vierergespann gerne in der Wohnung von Marstons verschrobener Hippie-Tante Carolyn. Ihre Verabredungen stellten "Liebeseinheiten" dar, die aus "Liebesanführern", "Herrinnen" und "Liebesmädchen" bestanden. Sie haben sich aber auch sehr viel über Unterwerfung unterhalten – eines von Marstons Lieblingsthemen. Diese Faszination spiegelt sich auch in den allerersten Wonder-Woman-Comics wider, die erstaunlich viele Bondage-Szenen enthalten.

Wonder Woman wurde quasi ständig von ihren Feinden in Fesseln gelegt, sei es nun mit Hilfe von Seilen, Handschellen oder Tentakeln. Das Kryptonit der Superheldin war es, wenn jemand sie an ihren goldenen Armreifen fesselte. Das nannte sich das sogenannte "Gesetz der Aphrodite", das sehr gut zu Marstons Vorstellung passte, dass Unterwerfung unerlässlich für eine blühende Beziehung ist. Gleichzeitig widersprach es aber Wonder Womans Image als unabhängige Kriegerin.

Mehr lesen: Widerstand ist zwecklos – Wie Frauen die Comic-Welt erobern

Die Comic-Buch-Panels, die Wonder Women in Fesseln oder Ketten zeigen, erinnern auch an die Illustrationen und Pamphlete der Verhütungsaktivistinnen, die Byrnes Mutter und Tante widerrechtlich verbreitet haben. Ketten waren außerdem auch ein Symbol der Suffragetten. Die Anführerinnen der Bewegung haben sich 1917 sogar selbst an die Tore des Weißen Hauses gekettet, um die Aufmerksamkeit von Präsident Woodrow Wilson zu erregen. Sie waren aber auch ein wiederkehrendes Symbol in Lou Rogers politischen Karikaturen.

Anzeige

Rogers arbeitete bei Magazinen wie Judge und der Zeitschrift The Birth Control Review, die von Sangers herausgegeben wurde. Unabhängig von der Zeitschrift stellte sie Frauen immer wieder in Ketten dar – als Zeichen ihrer Unterdrückung. Ihre Illustration "Tearing Off the Bonds" ["Das Sprengen der Ketten"] aus dem Jahr 1912 wird oft neben den allerersten Zeichnungen von Wonder Woman dargestellt, um zu zeigen, welche Ähnlichkeit sie haben. Lepore hat in ihrem Buch ebenfalls eine spitze Karikatur von Rogers abgedruckt. Sie zeigt eine verzweifelte Frau, die an eine schwere Metallkugel mit der Aufschrift "ungewollte Babys" gekettet ist.

"Die nächsten 100 Jahre werden wir den Beginn eines amerikanischen Matriarchats miterleben – eine Nation von Amazonen im psychologischen und nicht unbedingt im körperlichen Sinne."

Marston war der festen Überzeugung, dass uns das Matriarchat unweigerlich bevorsteht. In einem zweistündigen Interview im Harvard Club sagte er 1937 voraus, dass es in Amerika 2937 so weit sein würde. "Die nächsten 100 Jahre werden wir den Beginn eines amerikanischen Matriarchats miterleben – eine Nation von Amazonen im psychologischen und nicht unbedingt im körperlichen Sinne. In 500 Jahren wird es zu einem ernstzunehmenden Kampf der Geschlechter kommen und in 1.000 Jahren werden Frauen dieses Land endgültig übernehmen."

Die Paradiesinsel, die utopische Heimat von Wonder Woman, war von dort aus eigentlich nur noch einen Katzensprung entfernt. Nachdem sich die Amazonen von Herkules befreit hatten, verboten sie Männern den Zutritt zu ihrer Insel und setzten sich für Frieden und eine üppige grüne Natur ein.

Anzeige

Im Jahr 1940 kam dann alles zusammen. Marston wurde von einer Beraterin von Detective Comics (DC) angesprochen, nachdem der Herausgeber Maxwell Charles Gaines durch ein Interview in Family Circle auf ihn aufmerksam geworden war. Marston versuchte darin, die weitverbreitete Sorge zu widerlegen, dass Comics einen schädlichen Einfluss auf junge Menschen hätten.

Mehr lesen: Vergessene Superheldinnen – Warum wir mehr Frauendenkmäler brauchen

Ein Jahr später bekam der Autor von Gaines schließlich die Erlaubnis, eine neue Figur in den All-Star Comics auszutesten – die Geburtsstunde von Wonder Woman. Obwohl sie eigentlich nur eine Nebenhandlung zur Justice Society of America darstellen sollte, wurde ihr erster Auftritt ein echter Erfolg. Kurz darauf bekam sie ihre eigene Reihe und vereinte nicht nur Marstons feministische Überzeugungen, sondern auch seine beiden Frauen in sich: Ihre Armreife, mit denen sie Geschosse abwehren kann, waren von Byrne inspiriert. Der Ausruf "Heilige Sappho!" stammte hingegen von Holloway.

Nach Marstons Tod 1947 nahm die progressive Superheldin allerdings eine rückschrittliche Wendung. Sie gab ihre Kräfte auf, schwärmte zunehmend von ihrer Comic-Liebschaft Steve Trevor und eröffnete schließlich sogar eine Boutique. Die Feministinnen der ersten und zweiten Welle wollten das nicht hinnehmen, adaptierten Wonder Woman als Symbol für sich und befreiten sie schließlich aus ihrer konservativen Comic-Hölle. Das ist zum Teil auch Gloria Steinem und den Redakteuren von dem feministischen Ms. Magazine zu verdanken, die Wonder Womans Kurs in den frühen 1970er-Jahren korrigierten und ihr wieder zu der Rolle verhalfen, die sie vor dem Zweiten Weltkrieg eingenommen hatte – einer Rolle, die von einem sehr seltsamen Mann, seinen beiden Frauen und einer Gruppe von Vordenkerinnen und Aufwieglerinnen geschaffen wurde.

Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.