Wie eine Kleinanzeigenseite Kindersexhandel ermöglicht
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Verbrechen

Wie eine Kleinanzeigenseite Kindersexhandel ermöglicht

Nachdem Craigslist seinen „Rotlicht"-Bereich geschlossen hat, sind Zuhälter und Menschenhändler auf Backpage.com umgestiegen. Ein Albtraum für Angehörige und Ermittler.

Christian Dior „Gucci Prada" Womack arbeitete jahrelang als Zuhälter im US-amerikanischen Philadelphia und war bekannt dafür, dass er Frauen zur Prostitution zwang. Womack, der damals 30 Jahre alt war, wurde bei seinen Taten von Rashidah „Camille" Brice unterstützt. Brice brachte den jungen Mädchen alles bei. Wer ihr nicht gehorchte, wurde brutal misshandelt und geschlagen.

Im Mai 2012 trafen Womack und Brice ein 16-jähriges Mädchen in einem Casino in Atlantic City. Das junge Mädchen hatte ihre Freunde verloren und irrte allein herum. Womack und Brice nahmen das Mädchen mit ins Trump Plaza, wo es von Brice geschlagen und eingeschüchtert wurde, bis sie schließlich einwilligte, mit einem erwachsenen Mann Sex zu haben. Brice filmte die Zwangsprostitution, um den Mann, der mit dem minderjährigen Mädchen Sex hatte, anschließend zu erpressen. Anschließend posteten Womack und Brice eine Anzeige auf der Backpage.com. Auch in Deutschland werden über die Seite sexuelle Dienstleistungen gesucht und angeboten, wie seriös—und vor allem auch rechtlich einwandfrei—die Anzeigen sind, lässt sich auf den ersten Blick nur schwer feststellen.

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Auf der Seite, die man sich so ähnlich vorstellen kann wie Craigslist, wurde die 16-Jährige potenziellen Freiern angepriesen. Später fuhren sie dann mit ihr in ein Haus in Virginia Beach und zwangen sie zum Sex mit rund 15 verschiedenen Männern. Der erste von vielen Tagen, an dem sie von mehreren Männern besucht und missbraucht wurde. Das Martyrium des Mädchens endete erst, als sie es schaffte, zu fliehen. Ein Fremder ließ sich von ihr dazu überreden, ihr 50 Euro für eine Taxifahrt zu geben.

So tragisch diese Geschichte auch ist, sie ist beileibe kein Einzelfall. Überall in den USA nutzen Zuhälter und Menschenhändler Onlinedienste wie Backpage, um ihre Opfer auszubeuten und sich an ihnen zu bereichern. Um nicht entdeckt zu werden, nutzen sie in ihren Anzeigen meist Codewörter oder bestimmte Formulierungen wie „Neu in der Stadt", was meist für Teenager verwendet wird.

Dass das überhaupt möglich ist, liegt auch an der Anzeigenseite selbst. Laut einem kürzlich erschienen Bericht eines Unterausschusses des US-Sentas stellt sich Backpage gegenüber solchen Aktivitäten eher blind, als dagegen vorzugehen. Zwar verbieten die Nutzungsbedingungen von Backpage den Handel mit Sex und sexuellen Dienstleistungen, geschweige denn mit Kindern, doch der Ausschuss kritisiert, dass die Seite nur wenig tut, um Straftaten auch wirklich zu verhindern. Der Unterausschuss stellte fest, dass das Unternehmen die Moderation der Seite ab Oktober 2010 für einen kurzen Zeitraum outgesourct hatte, um problematische Posts zu überwachen. Die Moderatoren, die ihren Sitz in Indien hatten, bekamen insgesamt 120 Wörter und Sätze (wie „school girl", „yng" für „young", was absichtlich falsch geschrieben wird, und „teen") mit der Anweisung, diese zu löschen. Andere fragwürdige Anzeigen blieben dagegen weiterhin aktiv, was auch bedeutet, dass es Zuhältern und Menschenhändlern immer noch möglich war, ihren illegalen Tätigkeiten nachzugehen, ohne dabei gegen die Nutzungsbedingungen von Backpage zu verstoßen.

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Die Moderatoren werden mittlerweile nicht mehr von Backpage beschäftigt, weshalb der Unterausschuss den Betreiber der Website, Carl Ferrer, vorgeladen hat, um nachvollziehen zu können, wie Backpage Menschenhändler ausfindig macht. Ferrer weigerte sich aber, der Vorladung zu folgen und sagte, dass Backpage durch den ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung geschützt sei, in dem unter anderem die Presse- und Redefreiheit festgehalten ist. Eine Aussage, die auch durch die Anwältin der Seite, Liz McDougall, gestützt wurde.

Selbst wenn Menschen—meist Eltern oder Verwandte von minderjährigen Opfern—den derzeitigen Moderatoren von Backpage mitteilen, dass sie Angehörige in einer der Anzeigen entdeckt haben, werden diese meist nicht umgehend gelöscht. Yiote Souras, Vizepräsidentin und General Counsel des National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC), legte dem Unterausschuss E-Mails vor, die Angehörige den Moderatoren von Backpage geschickt haben, mit der dringenden Bitte, bestimmte Anzeigen zu löschen, da darin mit einem minderjährigen Familienmitglied gehandelt wurde. Darin stand unter anderem:

„Das Mädchen ist 16. Sie ist meine Cousine. Sie ist vor zwei Monaten von zu Hause weggerannt. Die Polizei versucht, sie zu finden—genauso wie ihr Zuhälter. Sie ist schon öfter weggerannt. Sie hat ein Tattoo von ihrem Zuhälter auf dem unteren Bauch und über ihrer rechten Augenbraue."

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„Meine Tochter ist auf der Escortseite. Sie ist 13 und psychisch krank. Ich will, dass ihr verdammtes Bild gelöscht wird."

„Diese Anzeige enthält Fotos von meiner 16-jährigen Schwester, die Menschenhändlern zum Opfer gefallen ist. Wir versuchen gerade, sie wieder nach Hause zu holen. Wir haben aktive Ermittlungen am Laufen und versuchen sie von ihrem Zuhälter wegzukriegen, damit sie wieder nach Hause kommen kann. Bitte löschen sie die Anzeige—von wem auch immer die geschaltet wurde. Sie ist minderjährig und wir wollen, dass sie wieder nach Hause kommt."

Souras bestätigte gegenüber dem Unterausschuss auch, dass eine direkte Verbindung zwischen dem Menschenhandel und Backpage hergestellt werden kann. Laut Souras hat die NCMEC über die letzten fünf Jahre einen 846-prozentigen Anstieg von potenziellen Fällen von Kindersexhandel beobachtet. Dieser Anstieg stehe, so die NCMEC, „in direktem Zusammenhang damit, dass das Internet verstärkt für die Zwangsprostitution von Kindern genutzt wird." Souras sagt auch, dass 71 Prozent der Fälle von Kindersexhandel, die dem NCMEC bekannt sind, mit Anzeigen auf Backpage in Verbindung stehen.

Diese Anzeige enthält Fotos von meiner 16-jährigen Schwester, die Menschenhändlern zum Opfer gefallen ist. Wir versuchen gerade, sie wieder nach Hause zu holen.

„Aus unseren Aufzeichnungen wissen wir, dass eines von fünf Kindern, das von zu Hause wegläuft, wahrscheinlich Opfer des Sexhandels wurde", sagt Souras gegenüber Broadly und fügt an, dass „Backpage mit dem Großteil davon in Verbindung gebracht werden kann und immer der erste Ort ist, an dem wir nachsehen, wenn wir denken, dass jemand Menschenhändlern zum Opfer gefallen sein könnte."

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Eine Übersichtsrecherche in den lokalen Medien bestätigt Souras Annahme.

In Florida hat ein Mann namens Reginal Hardy ein 14-jähriges Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist, unter Drogen gesetzt, missbraucht und entführt. Hardy drohte ihr, sie und ihre Familie umzubringen, wenn sie nicht für ihn auf den Strich gehen würde. Er setzte sie immer wieder unter Drogen, während er Anzeigen auf Backpage schaltete. Um nicht entdeckt zu werden, nannte er sie „Jenny" und verwendete Bilder von einer anderen Frau. Die Polizei überführte Hardy, als dieser wegen eines Verkehrsvergehen angehalten wurde. Das Opfer war, laut Angaben der Orlando Sentinel, betrunken und weinte, während sie der Polizei erzählte, was ihr Hardy angetan hatte.

In Kalifornien wurde Lenny Paul „2 Much" Haskins, der seit Jahren als Zuhälter bekannt war, mit zwei jungen Mädchen in Sacramento überführt. Eine von ihnen war 15, die andere 17. Die Mädchen waren beide von ihren Pflegefamilien weggerannt. Haskins, der damals 34 Jahre alt war, überredete die beiden, für ihn anschaffen zu gehen. Er setzte die Mädchen in einen Bus nach Herndon im US-Bundesstaat Virginia und schaltete Anzeigen auf Backpage. Die beiden Mädchen nahmen ihre Freier mit in ein Hotel, für das Haskins bezahlte. Ihnen wurde gesagt, dass sie fast das komplette Geld, das sie durchs Anschaffen verdienten, an Haskins schicken sollten. Als die Polizei Haskins schnappte, hatten die beiden Opfer bereits in fünf verschiedenen Bundesstaaten in den USA als Prostituierte gearbeitet.

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In Georgia wurde eine 17-jährige Immigrantin von ihrer Familie zurückgelassen, die beschlossen hatte, wieder zurück nach Westafrika zu gehen—ohne sie. Das Mädchen lebte seither auf der Straße. Steven E. „Silk" Thompson bot dem Mädchen einen Platz zum Schlafen an, während sie gerade auf ihre Zulassung bei Job Corps, einem kostenlosen staatlichen Bildungsangebot, wartete. Nachdem sie einige Wochen bei Thompson und seiner Komplizin Tierra Waters gelebt hatte, zwang Thompson das Mädchen, für ihn anschaffen zu gehen.

Foto: NBC Washington

Thompson und Waters schalteten mehrere Anzeigen auf Backpage. Mal sagten sie, sie sei 19, dann behaupteten sie wieder, sie sei schon 20. Sie zwangen das Opfer, ihnen das gesamte Geld zu geben, dass sie als Prostituierte verdiente. Berichten zufolge wurden die beiden aggressiv, wenn das Opfer Anrufe von potenziellen Backpage-Kunden ignorierte. Einer ihrer Freier meldete sich schließlich bei der Polizei, als er das wahre Alter des Opfers erfahren hatte—und nachdem Thompson versucht hatte, ihn zu erpressen, weil er mit einer Minderjährigen geschlafen hatte.

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In St. Louis hat Latasha Jewell McFarland ein 14-jähriges Mädchen, das ebenfalls von zu Hause weggelaufen war, angeworben, um mit ihr gemeinsam auf den Strich zu gehen. McFarland bot dem Opfer umgerechnet rund 90 Euro pro Geschlechtsakt an und sagte ihr, dass sie mehr Geld bekommen würde, wenn sie Sex mit Männern haben würden, die mehrere Frauen haben wollten. McFarland fotografierte das Opfer—nackt und in pornografischen Posen—und stellte die Bilder auf Backpage. Außerdem reservierte sie, Berichten zufolge, Zimmer für das Mädchen in Motels entlang der Autobahn. McFarland nahm die Hälfte der Einnahmen des Opfers. Später wurde sie festgenommen und wegen Menschenhandel angezeigt.

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Das Opfer versuchte, Backpage zu verklagen. Die Anklage argumentierte, dass das Unternehmen eine Mitschuld an dem Missbrauch und der Ausbeutung trug, da die Fotos, die auf der Seite hochgeladen wurden, eindeutig darauf hinwiesen, dass das Opfer minderjährig ist. „Dennoch", argumentierte die Anklage, „griff [Backpage] nicht ein—aus Angst vor den Konsequenzen."

Die Anklage kam auch zu dem Schluss, dass Backpage einen inhärenten Anreiz hatte, beide Augen vor illegalen Aktivitäten zu verschließen, da die Seite pro Anzeige eine Gebühr von seinen Nutzern verlangte und davon profitiert, Verbrechen, die über ihre Seite begangen werden, bewusst zu ignorieren.

Die Anzeige wurde eingestellt—genauso wie die mehrerer anderer Opfer, die finanzielle Entschädigung von dem Unternehmen forderten. Grund dafür war, dass das Unternehmen durch den Communications Decency Act (CDA) geschützt war. Dieses Gesetz besagt, dass Online-Informationsanbieter nicht für den User-generierten Content auf ihrer Website verantwortlich gemacht werden können und das obwohl die Nutzungsbedingungen von Backpage selbst grafische Fotos und den Austausch von Sex gegen Geld verbieten—obwohl das (außer dem Team aus Anwälten, das von der Website beschäftigt wird) auch niemand glaubt.

Wenn wir Backpage stilllegen, dann werden mit der Seite auch die Informationen verschwinden, die wir für unsere Ermittlungen nutzen können.

Um bei dem Versuch, die Seite außer Betrieb zu nehmen, stärker Tritt zu fassen, haben Strafverfolgungsbeamte selbst Anzeige gegen die Seite erstattet. Einer der Beamten, der für ein Sheriff's Department im Mittleren Westen tätig ist, hat mit Broadly über das Verfahren gegen Backpage gesprochen, wollte jedoch anonym bleiben. (Seine Identität wurde von Broadly überprüft.)

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„Wir setzen uns dafür ein, dass das Gesetz geändert wird, weil es im Grunde genommen sagt, dass dritte Parteien nicht dafür verantwortlich gemacht werden können, was die anderen bei ihnen posten. Auch Craigslist wird von diesem Gesetz geschützt. Aber als Craigslist seinen ‚Rotlicht'-Bereich gelöscht hat, hat Backpage diese Lücke einfach geschlossen", sagt er. „Wenn wir verdeckt ermitteln, nehmen wir nicht die Frauen fest oder stecken sie ins Gefängnis. Und auch diejenigen, die unabhängig sind und die es freiwillig tun, lassen wir in Ruhe."

„Hoffentlich", sagt er, „wird das alles bald ein Ende haben. Das ist so ein wichtiges Thema und wir finden, das ist einfach brutal."

Doch es gibt Hoffnung. 2015 stellten drei Minderjährige, die über Backpage von Menschenhändler angeboten wurden, Anzeige gegen die Seite. Sie behaupteten, dass die Richtlinien von Backpage sowie deren indifferente Haltung den illegalen Sexhandel fördern würden. Die Anklage verwies darauf, dass Backpage „so gestaltet ist, dass es Zuhältern hilft, Werbung zu schalten und ihre illegalen Botschaften zu transportieren, ohne die Aufmerksamkeit der Strafverfolgung zu erregen."

In anderen Worten: Die inhaltlichen Vorschriften von Backpage sind nur Augenwischerei für die Strafverfolgungsbehörden, während das Unternehmen weiterhin von den illegalen Aktivitäten auf seiner Seite profitiert. Es folgten mehrere gerichtliche Auseinandersetzungen. Backpage stellte wiederholt einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens auf Grundlage des Haftungsausschlusses gemäß des CDA. Doch der Oberste Gerichtshof in Washington lehnte den Antrag ab und entschied, dass das Verfahren von dem zuständigen Gericht weitergeführt werden durfte. Genau wie der Unterausschuss des Senats, stellte auch der Oberste Gerichtshof in Washington fest, dass nicht eindeutig ersichtlich war, ob die inhaltlichen Regelungen von Backpage Straftaten verhindern oder ermöglichen sollen. Die Mehrheitsmeinung lautete:

Es muss festgestellt werden, ob Backpage seine Buchungsregeln tatsächlich so gestaltet hat, dass Sexhandel möglich gemacht wird, und zu bestimmen, ob Backpage gemäß dem CDA angeklagt werden kann, weil die Website hilft, rechtswidrige Inhalte zu verbreiten und daher unter die in Abschnitt 230 festgehaltene Ausnahme fällt, weil das Unternehmen wesentlich zu den vermeintlichen Rechtsverletzungen der Beschuldigten beiträgt.

Natürlich stellt sich auch die Frage, was passieren würde, wenn Backpage tatsächlich erfolgreich gelöscht werden würde. Welche Seite würde stattdessen den Platz von Backpage einnehmen? McDougall wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass Backpage die Polizei bei strafrechtlichen Ermittlungen unterstützt und relevante Daten aushändigt, wenn sie Zugang dazu haben, weil sie „das Richtige tun wollen."

Aber Ermittler rollen nur mit den Augen, wenn sie von McDougalls Behauptung hören. Andere warnen auch davor, dass mit dem Verbot von Backpage relevante Dokumente verloren gehen könnten. „Ich weiß, dass viel darüber gesprochen wird, Backpage zu löschen und so was. Aber eigentlich bin ich dagegen, denn wenn wir Backpage stilllegen, dann werden mit der Seite auch die Informationen verschwinden, die wir für unsere Ermittlungen nutzen können. All diese illegalen Geschäfte würden nur noch weiter in den Untergrund abtauchen", sagt ein Strafverfolgungsbeamter aus San Diego.

Vorerst wird Backpage jedenfalls weiterhin ganz offen—und theoretisch auch legal—betrieben werden können. Immerhin: Es scheint, als würden sich die Betreiber zumindest nicht mehr länger hinter der amerikanischen Verfassung verstecken können.