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Wie es ist, mit 21 obdachlos zu sein

„Ich kenne viele Frauen, die obdachlos und auf Drogen sind und ihren Körper verkaufen. Aber diesen Stolz besitze ich noch—mein Körper gehört nur mir.“
Fotos von der Autorin

Es war Herbst 2011, als Yasmin vom Einkaufen nach Hause kam. Die Blätter draußen färbten sich bereits. Bei ihr zu Hause gab es wieder einmal Streit. Ihr Vater schlug sie seit der Grundschule, auch ihre Mutter misshandelte er. An diesem Nachmittag konnte Yasmin das alles nicht mehr ertragen. Während ihr Vater die Mutter beschimpfte, schlüpfte sie in ihre Turnschuhe, zog sich eine dünne Jacke über und lief in den Hof ihres Wohnhauses im österreichischen Linz. Dort bat sie ihren Nachbarn, sie zum Bahnhof zu bringen. Kurze Zeit später stieg Yasmin in einen Zug nach Wien. Mit 16 Jahren, ohne Ausweis, Geld und Handy, fuhr sie schwarz in die Hauptstadt. Alles egal—endlich weg vom Vater.

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Als Yasmin in Wien aus dem Zug stieg, kannte sie niemanden. Die ersten sieben Monate schlief sie auf einer Parkbank. Jeden Tag wurde es kälter. Manchmal schaffte sie es, in einem Hauseingang unterzukommen, ohne vertrieben zu werden. Menschen gaben ihr Decken und Jacken. Die Notunterkünfte nahmen Yasmin nicht auf, da sie zum damaligen Zeitpunkt noch keine 18 Jahre alt war. Schließlich begann sie die Ausbildung zur Sanitäterin und kam über Bekannte in einer Wohnung unter. Um die hohe Miete zu bezahlen, musste sich Yasmin Geld leihen, einen Mietvertrag oder Meldezettel bekam sie trotzdem nicht da der Hauptmieter ihre Situation ausnutzte und das Zimmer illegal an sie untervermietete. Kurz darauf wurde sie aus der Wohnung geworfen.

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Im Jahr 2015 betreute allein das Tageszentrum Ester in Wien 882 Frauen. In der österreichischen Hauptstadt bietet die Caritas außerdem eigene Frauenwohnzimmer) sowie einen eigenen Frauenraum im Tageszentrum am Hauptbahnhof an.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl der obdachlosen Frauen in Deutschland auf 86.000, Tendenz steigend. Expertenschätzungen zufolge sind in Österreich insgesamt rund 12.000 Menschen wohnungslos. Wien hat geschätzt 8.000 permanent Obdachlose. Eine Aufschlüsselung in männlich und weiblich gibt es nicht, auch die Zahl der verdeckt Wohnungslosen, die in ähnlichen Situationen wie Yasmin leben, wird nicht separat ermittelt.

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Heute ist Yasmin 21 Jahre alt, hat lange schwarze Haare, trägt eine Nike-Sportweste, dunkelgraue Skinny-Jeans und weinrote Sneaker. In ihren Haaren trägt sie ein schwarzes Bandana, das sie auf der linken Seite zusammengeknotet hat. Ihre Augen sind dunkelbraun und erscheinen durch ihr Make-up noch dunkler. Sie hat ein glitzerndes Piercing in der Nase und die Fingernägel zu French-Nails lackiert. Niemand, der Yasmin so sieht, würde denken, dass sie obdachlos ist.

Ein gepflegtes Aussehen schützt vor Übergriffen, darum ist es den Frauen so wichtig, erklärt Gabriele Mechovsky. Sie leitet das Teams im Ester—dem Tageszentrum für wohnungslose Frauen in der Wiener Esterhazygasse. Schönheit werde regelrecht zu einem Zwang, um die tatsächlichen Probleme darunter zu verstecken: „Einer gepflegten Frau wird eher zugelächelt, die Tür aufgehalten, sie wird weniger oft schief angesehen, auch wenn sie stundenlang in einem Kaufhaus auf einer Bank oder bei einem Getränk in einem Café sitzt", erklärt sie.

„Sie sehen wie die Nachbarin von nebenan aus, oder?"

Ich blicke durch den Aufenthaltsraum der Ester, in dem Frauen Kaffee trinken oder sich ein Brötchen mit Marmelade schmieren. „Sie sehen wie die Nachbarin von nebenan aus, oder?" fragt Mechovsky und hat Recht. Bei verwahrlosten Frauen—die oft als vermeintlich „typisches" Bild einer Obdachlosen gesehen werden—stehe eine psychische Erkrankung oder Sucht meist soweit im Vordergrund, dass sie sich nicht mehr pflegen können. Bei der Mehrzahl der Frauen erkenne man ihre prekäre Wohnsituation von außen allerdings nicht.

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Der Großteil der wohnungslosen Menschen im deutschsprachigen Raum sind zwar männlich, Obdachlosigkeit ist für Frauen allerdings auf verschiedenen Ebenen zusätzlich problematisch. Sie seien überdurchschnittlich oft mit sexistisch motivierter Gewalt in allen Ausprägungen—von verbalen bis zu massiven körperlichen Übergriffen—konfrontiert, sagt Mechovsky. Deswegen will sie mit ihrer Einrichtung einen Ort bieten, in dem Frauen ganz unter sich duschen, Wäsche waschen und sich ausruhen können.

„Die meisten Frauen würden nicht zu uns kommen, wenn es geschlechtlich gemischt wäre. Die Räume werden automatisch von Männern dominiert, weil sie oftmals die größere und stärkere Gruppe sind", so die Leiterin.

Häufig würden die Frauen Zweckpartnerschaften eingehen, um sich vor weiterer Stigmatisierung, Ausgrenzung und Gewalt zu schützen. „Dafür nehmen sie nicht selten gewalttätige Partner oder Unterkunftsgeber sowie Gegenleistungen jeglicher Art in Kauf", sagt Mechovsky.

Die Gründe, warum Frauen auf der Straße oder in prekären Wohnverhältnissen landen, sind vielschichtig. Gewalt ist fast immer ein Teil ihrer Lebensgeschichte. Armut spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Und bei Kindern, die in prekären Verhältnissen aufwachsen und nie erleben, was sicheres Wohnen ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, selbst einmal prekär zu wohnen noch zusätzlich, erklärt Mechovsky aus ihrer langjährigen Erfahrung. Wie auch bei Yasmin, die das Pech hatte, in einer gewalttätigen Familie geboren zu werden. Sie selbst nennt das „Schicksal", jedem könne es passieren, obdachlos zu werden. Selbst dann, wenn man es schon erfolgreich von der Straße weggeschafft hat.

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Yasmin ist ausgebildete Sanitäterin. Sie hatte bereits einen Job in Wien und bekam von der Caritas sogar eine Übergangswohnung angeboten. Sie lehnte diese aber ab, da ihr damaliger Freund eine Wohnung besorgt hatte. „Ich hatte etwas Geld gespart und konnte Kaution und Provision bezahlen. Wir haben uns so gefreut", erzählt sie mir. Einen offiziellen Mietvertrag bekam sie wieder nicht, da die Wohnung ihrem Ex-Freund gehörte.

Meine Eltern haben mich mein ganzes Leben nicht beschützt, warum sollten sie es jetzt tun?

Sie sah ihm oft zu, wie er sich etwas spritze. Wenn sie ihn fragte, was er da nehme, meinte er, „etwas zur Beruhigung", sie solle es auch versuchen. So gelangte Yasmin zu Heroin. Später auch Substitol, Gras und Tabletten. Nach sechs Monaten war er eines Morgens einfach weg und die Polizei läutete an der Tür. Er hatte sie reingelegt. Er war selbst nur Untermieter und mit Yasmins Geld abgehauen. Sie hatte zwei Stunden, um die Wohnung zu räumen, aber weder einen Platz für ihre Sachen, noch ein Auto. Wieder musste sie alles zurücklassen. Nur ihre Dokumente nahm sie dieses Mal mit. „Ich musste dann sogar mein Handy verkaufen, damit ich Geld hatte, um Essen kaufen zu können", erzählt sie. In dieser Zeit kam sie drei Mal zu spät zur Arbeit und wurde schließlich gekündigt. Yasmin hatte wieder einmal alles verloren: Wohnung, Geld und Job.

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Zurzeit lebt sie von der Mindestsicherung—837 Euro im Monat—und ist gerade in einem Notquartier in Ottakring untergebracht. Dort darf sie sich allerdings nur von 18 Uhr abends bis 9 Uhr morgens aufhalten. Die restliche Zeit verbringt sie im Aufenthaltsraum der Ester. Am Tag liest sie, schaut fern, geht duschen oder strickt—alles, damit die Zeit vergeht.

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Yasmin ist heute clean. „Ich kenne viele Frauen, die obdachlos und auf Drogen sind und ihren Körper verkaufen. Aber diesen Stolz besitze ich noch—mein Körper gehört nur mir." Wenn Freunde sie abends nach Hause begleiten wollen, dann erfindet sie Ausreden. Niemand weiß Bescheid—auch nicht ihr bester Freund. Yasmin weiß, dass ihre Freunde helfen würden, kann ihnen aber trotzdem nicht davon erzählen. „Mir ist das so peinlich, ich will nicht, dass sie davon erfahren." Manchmal fühlt sie sich sehr allein mit ihren Problemen. Die Frage, ob sie zu Weihnachten ihre Eltern anrufen wird, verneint sie heftig. „Sie haben mich mein ganzes Leben nicht beschützt, warum sollten sie es jetzt tun?"

Yasmin möchte Sozialbetreuerin werden. „Nach fünf Jahren auf der Straße kenne ich mich aus, wie es obdachlosen Menschen geht", sagt sie. Sie hat sich bei mehreren Stellen beworben. Ihr einziger Wunsch für die Zukunft: eine eigene Wohnung. Ein kleines Zimmer mit Mietvertrag irgendwo in Wien wäre genug. Ein Leben ohne ständige Unsicherheit und Gewalt. Ein Leben, das sie mit ihren Freunden teilen kann.


*Name geändert