Mit Scott war das anders. Nachdem er ihren Nachnamen wiedererkannt und ihr eine Freundschaftsanfrage auf Facebook geschickt hat, fingen die beiden an, sich Nachrichten zu schreiben und stießen sofort auf einige Gemeinsamkeiten. „Wie hatten dieselben Interessen, dieselben Gedankengänge", erinnert sich Katherine. „Und wir mochten dieselben Dinge: Wir hatten dieselbe Lieblingsfarbe, dasselbe Lieblingsessen—so grundsätzliche Sachen eben."Nachdem sie sich drei Tage lange geschrieben hatten—und sich ihre Geburtsurkunden gezeigt haben, um sicherzugehen, dass sie wirklich blutsverwandt waren—, beschlossen sie, dass sie auch Fotos austauschen wollten. Katherine sagt, dass ihr Scott verblüffend ähnlich sah, was sie nur noch mehr faszinierte. „Als ich sein Foto sah, traf mich fast der Schlag: Ich sah mich selbst vor mir, nur als Mann", sagt sie. „Ich fand ihn vom ersten Augenblick an anziehend, aber ich wusste nicht, ob er mich auch attraktiv fand oder nicht."Mehr lesen: Die tragische Geschichte hinter dem Kinderfriedhof der FLDS-Sekte
Innerhalb von zwei Wochen wurden die Gespräche immer intimer und Katherine und Scott entdeckten unter anderem auch ihr gemeinsames Interesse an BDSM. Katherine schickte Scott einen Link zu ihrem Profil auf einer Fetischseite, stellte aber zuvor sicher, dass sie noch ein paar verführerische Bilder von sich hochgeladen hatte. „Ich würde jetzt nicht sagen, dass sie pornografisch waren, aber nun ja, sexy waren sie schon", sagt sie. Scott gab daraufhin zu, dass er sich „Gedanken gemacht" hätte und letztendlich gestanden sich die beiden, dass sie Gefühle füreinander hatten.Obwohl es sie glücklich machte, dass Scott ihre Gefühle erwiderte, war Katherine besorgt—aus sehr naheliegenden Gründen. „Wir haben uns gefragt, ob wir normal sind. Passiert das vielen Leuten, die adoptiert wurden oder läuft irgendetwas falsch bei uns?", erinnert sich Katherine. „Man fragt sich das, weil so eine Situation für einen ja komplett neu ist."Nach einer flüchtigen Recherche bei Google stellte Katherine fest, dass es einen Namen für das gab, was sie und Scott gerade durchmachten: genetische sexuelle Anziehungskraft.Der Begriff „genetische sexuelle Anziehungskraft" (GSA) wurde Ende der 80er durch den Fall von Barbara Gonyo bekannt. Die US-Amerikanerin erklärte, dass sie sich in ihren biologischen Sohn Mitch verliebt hat, nachdem sie ihn 26 Jahre, nachdem er von ihr zur Adoption freigegeben worden war, wiedergetroffen hatte.Ich sah mich selbst vor mir, nur als Mann. Ich fand ihn vom ersten Augenblick an anziehend.
In Deutschland ist es laut § 173 des StGb verboten, mit Familienangehörigen Sex zu haben. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, dem drohen bis zu drei Jahre Haft. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Kind gezeugt wurde. Es gibt aber auch immer mehr Leute, die sich dafür einsetzen, den Inzest-Paragrafen weiter zu liberalisieren. Viele Menschen, die wie Katherine und Scott in jungen Jahren adoptiert wurden und sich erst später im Leben wiedergetroffen haben, sagen, dass sie sogenannten „einvernehmlichen Inzest" betreiben, was—in ihren Augen—ein opferloses Verbrechen darstellt und auch so behandelt werden sollte. In den überwiegend anonymen Foren und Blogs setzen sich einige von ihnen, die Erfahrung mit GSA gemacht haben, für die Abschaffung der Anti-Inzest-Gesetze ein und sagen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Verwandten sich nicht grundsätzlich von anderen sexuellen Beziehungen unterscheiden, solange sie zwischen zwei mündigen Erwachsenen stattfinden.Katherine betreibt eine Seite namens Lilys Gardener. Der Name ist angelehnt an Lily Beckett, die Protagonistin von „Love's Forbidden Flower", die Geschichte von einem Bruder und einer Schwester, die sich auf eine inzestuöse Liebesbeziehung einlassen. „Das Recht, frei zu entscheiden, mit wem man zusammen sein möchte, sollte ein Grundrecht für mündige Erwachsene sein", steht auf der Homepage.In manchen Situationen fühlt man sich, weil man verwandt ist, tatsächlich noch enger miteinander verbunden.
In der GSA-Community gibt es viele, die wie Petersen vehement zwischen Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch und—wie sie es nennen—einvernehmlichen sexuellen Beziehungen zwischen mündigen Erwachsenen, die blutsverwandt sind, unterscheiden.Wenn ich einwilligen kann, mit einer ganzen Fußballmannschaft Sex zu haben, warum kann ich dann keinen einvernehmlichen Sex mit meinem Bruder haben, der über 30 Jahre alt ist?
Achtzig Prozent der befragten Probanden sagten, dass es moralisch falsch sei, dass Julie und Mark miteinander geschlafen haben. Als sie gebeten wurden, zu erklären, warum sie so dachten, „sagten die Teilnehmer oft direkt, dass sie sprachlos seien" und dass „sie denken, dass es falsch sei, aber sie könnten nicht die richtigen Worte finden, um es zu erklären."Mark und Julie sind Bruder und Schwester. Sie reisen in ihrem Semesterferien gemeinsam nach Frankreich. Eine Nacht verbringen die beiden allein in einer Hütte in der Nähe des Strands. Sie entscheiden, dass es interessant und witzig wäre, wenn die beiden versuchen würden, miteinander zu schlafen. Es wäre zumindest eine ganz neue Erfahrung für die beiden. Julie nimmt schon seit Längerem die Pille, aber Mark benutzt trotzdem zusätzlich ein Kondom—nur um auf Nummer sicher zu gehen. Es gefällt beiden, aber sie beschließen, dass sie es nicht wieder tun werden. Sie erzählen niemandem von dieser Nacht und behalten dieses besondere Geheimnis ganz für sich, was die beiden einander noch näher bringt. Was denkst du darüber? War es falsch, dass die beiden Sex hatten?
John, der ebenfalls sehr oft in den GSA-Foren postet, war das erste Mal in dem Online-Forum, als er herausgefunden hat, dass sein Sohn und seine Tochter, die Halbgeschwister sind, als junge Erwachsene sexuellen Kontakt miteinander hatten. Obwohl er es selbst nie erlebt hat, sagt auch er, dass es unklug ist, der genetisch sexuellen Anziehungskraft nachzugehen. „In diesem Forum raten wir den Leuten meistens davon ab", sagt er. „Ich bin seit sechs Jahren in den Foren aktiv und habe die Posts von hunderten von Leuten gelesen … Aber ich habe noch nie von einer GSA-Beziehung gehört, die überlebt hat."Katherine scheint eine ganz andere Erfahrung zu machen. Sie postet zwar nichts in öffentlichen Foren, aber sie hat ihre eigene Online-Selbsthilfegruppe gegründet. Diese ist ursprünglich daraus entstanden, dass sie sich mit Leuten in Adoptionsforen private Nachrichten geschrieben hat. Immer wenn sie einen Beitrag auf ihrer Website Lilys Gardener veröffentlicht, hängt sie ein Kontaktformular an, um Leuten die Möglichkeit zu geben, ihr eine vertrauliche Nachricht zu schicken. Sie sagt, sie hätte bereits Kontakt mit „80 bis 100" Paaren gehabt, die eine GSA-Beziehung führten. Vielen von ihnen hat sie Ratschläge gegeben oder sie rechtlich beraten.„Es betrifft tatsächlich viel mehr Menschen, als man denkt", sagt sie.Die Online-Community war für jeden, mit dem ich gesprochen habe, unschätzbar wichtig. Schließlich ist es auch ein ziemlich heikles Thema, das man nicht mal eben mit Freunden oder der Familie und vielleicht noch nicht einmal mit einem Therapeuten bespricht. „Leute mit GSA sind—wie alle anderen auch—auf der Suche nach einer Gruppe, zu der sie sich zugehörig fühlen", sagt Dr. Wasserman und merkt an, dass „die soziale Isolation, die es mit sich bringt, ein Geheimnis zu bewahren, sehr schädlich sein kann."Bevor sie online Leute gefunden hat, die so sind wie sie, sagt April, war sie ziemlich verzweifelt. Die GSA-Foren haben ihr Leben verändert: „Das hat ganz offensichtlich einen wichtigen Einfluss auf mich gehabt—immerhin lebe ich jetzt seit sechs Jahren mit GSA und bin noch immer hier und versuche, Leuten zu helfen, damit sie nicht das Gleiche durchmachen müssen wie ich", sagt sie. „Einige dieser Leute sind mittlerweile wie Familie für mich."Ich weiß noch, wie sich die Haare auf unseren Armen aufgestellt haben, wenn wir nah beieinander saßen, als würden sie sich nacheinander austrecken.
Genau wie April und andere Administratoren in GSA-Foren verbringt auch Katherine sehr viel Zeit damit, andere zu beraten und ihnen Ratschläge zu geben. Ihr Rat fällt jedoch etwas anders aus. „Ich finde es am schönsten, wenn ich Leuten Mut machen kann: Du bist nicht allein, du bist nicht abnormal, du bist kein Freak, es ist nicht falsch zu fühlen, was du fühlst", sagt sie. „Jeder Mensch darf Gefühle haben."Sie träumt nach eigener Aussage davon, in einen der drei US-Staaten zu ziehen, in denen Inzest nicht explizit verboten ist: New Jersey, Ohio und Rhode Island.Sie nennt sie die „sicheren Staaten".„Was würden du und Scott tun, wenn ihr dorthin ziehen könntet?", frage ich. „Würdest du dann offen damit umgehen, dass ihr verwandt seid oder würdest du immer noch versuchen, es vor den Leuten geheim zu halten?Katherines Antwort ist sehr direkt: „Wenn wir in einen sicheren Staat ziehen, machen wir eine riesige Party und lassen jeden wissen, was zwischen uns ist, wie gut es uns zusammen geht und wie sehr wir in einander lieben", sagt sie.Sie würde Scott auch gerne heiraten, sagt sie, aber sie versteht, dass das derzeit nicht möglich ist. „Wenn wir offen damit umgehen können, würde ich mich gerne dafür einsetzen, dass das Gesetz geändert wird, damit wir eines Tages heiraten können", sagt sie. „Gesetze ändern sich jedes Jahr … Nur weil es ein Gesetz dagegen gibt, heißt es nicht, dass es falsch ist."Mehr lesen: Wenn dein Vater versucht, mit deinen Freundinnen zu schlafen
* Alle Namen wurden geändert.