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Psychologie

Wie man mit Horrorfilmen seine Angststörung bekämpft

Es mag vielleicht paradox klingen, aber es gibt Menschen, die unter einer Angststörung leiden—mich selbst miteingeschlossen—und nichts so entspannend finden wie Horrorfilme. Ich habe einen Experten gefragt, woran das liegen könnte.
Photo by Peter Bernik via Stocksy

Laut einer aktuellen Untersuchung des Robert-Koch-Instituts leiden 15,3 Prozent der Menschen in Deutschland unter einer generalisierten Angststörung. Mir persönlich haben bestimmte Dinge schon als Kind Sorgen bereitet—meist in katastrophalem Ausmaß, aber vollkommen unverhältnismäßig. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich beispielsweise in einem Museum etwas über Kometen gelesen. Ich lag wochenlang nachts wach und hatte Angst, dass ein Komet genau in diesem Moment direkt auf die Erde zurasen könnte. Als Teenager habe ich bei jeder noch so seltenen tödlichen Krankheit, von der ich im Fernsehen gehört habe, gedacht, dass ich auch daran leiden könnte. Heutzutage manifestiert sich meine Angst dagegen in einer Art und Weise, die man Leuten, die keine derartigen Erfahrungen gemacht haben, nur schwer erklären kann: Kennst du das Gefühl, wenn man leicht nervös ist? Es ist ein wenig so wie die Angst, die einen überkommt, wenn man einen Kater hat und weiß, dass man irgendwas getan hat, aber nicht mehr weiß was. Ungefähr so, nur eben die ganze Zeit.

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Ich habe das Glück, dass sich meine Ängste so in Grenzen halten, dass ich keine Medikamente benötige. Ich vertraue auf eine Mischung aus ausgleichender Bewegung, wenig Alkohol und die regelmäßige Kontrolle meines eigenen mentalen Zustands. Wenn es allerdings wirklich schlimm wird, dann gibt es nur eins, was mir wirklich zuverlässig hilft und seine Wirkung sofort entfaltet: Horrorfilme—je blutrünstiger, düsterer und verstörender, desto besser. Erst letzte Woche habe ich mir Tödliches Spiel angesehen: ein Lowbudgetfilm ohne viel Handlung, aber umso mehr Blut, der bei Netflix immerhin zweieinhalb Sternen bekommen hat. Auf dem Startbild sieht man eine Rasierklinge, die jemandem direkt ans Auge gehalten wird und droht, den Augapfel zu zerschneiden.

Mehr lesen: Wie Menschen mit Sozialphobie im Berufsleben die Hölle durchmachen

Als ich zum ersten Mal bemerkt habe, wie effektiv die Wirkung dieser unkonventionellen Heilmethode gegen Ängste ist, bin ich total ausgeflippt: Was ist los mit mir? Bin ich eine Psychopathin, die Trost im Leid anderer findet? Ist das nur bei mir so? Stimmt mit mir was nicht? Diese Fragen habe ich Mitgliedern des Redditforums /r/anxiety gestellt.

Horrorfilme sind zwar keine Alternative zu echter medizinischer und therapeutischer Hilfe, allerdings wurde ich von Antworten von Leuten, denen es genauso geht, förmlich überschwemmt. „Ich habe auch gemerkt, dass ich mich besser fühle, wenn ich mir einen Horrorfilm angesehen habe", sagte ein User. „Ein Horrorfilm erzeugt eine andere Art von Angst—eine Angst, die sich nicht um mich selbst dreht."

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„JA!", meinte ein anderer. „Ich denke, das liegt daran, dass man einen ‚echten' Grund hat, Angst zu haben."

„Meistens kriege ich dann Angst, dass jemand einbrechen oder ich einem Geist begegnen könnte", bestätigt ein Reddit-User. „Alles andere, worüber ich mir vorher Gedanken gemacht habe, wirkt dann plötzlich komplett lächerlich."

Um herauszufinden, warum sich manche Menschen mit Horrorfilmen selbst therapieren, habe ich mit Dr. Mathias Clasen von der Universität in Aarhus gesprochen. Er erforscht die psychologischen Effekte von Horrorfilmen seit mehr als 15 Jahren. „Wenn man sich der Wirkung eines Horrorfilms aussetzt, dann kann das ermutigend wirken, solange die negativen Emotionen, die der Film hervorruft, kontrollierbar sind", erklärt Dr. Clasen. „Außerdem gibt es eine psychologische Distanz zwischen uns und dem Film. Uns ist bewusst, dass das, was dort passiert, nicht echt ist—oder zumindest sind sich Teile unseres Gehirn bewusst, dass es nicht echt ist. Andere Teile—alte Strukturen im limbischen System—reagieren darauf, als wäre es echt."

Er erklärt auch, dass Horrorfilme einen Flucht- oder Angriffsmechanismus in uns hervorrufen, die allerdings durch die kontrollierte Umgebung begrenzt wird. „Es überrascht mich nicht zu hören, dass Horrorfilme einen therapeutischen Effekt auf Menschen mit Ängsten haben", sagt er. „Das Genre gibt uns die Möglichkeit, freiwillig—und in einer kontrollierten Umgebung—Erfahrungen mit negativen Emotionen zu machen."

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Dr. Clasen hat mir auch versichert, dass ich nicht drauf und dran bin in alter Freddy-Krueger-Manier auszurasten. Seine Theorie konnte aber auch nicht wirklich erklären, warum Angst paradoxerweise auf lange Sicht dazu führt, dass ich entspannter bin. In einem anderen Forum namens socialanxiety.com erklärt es ein User damit, dass „das Adrenalin [seine Ängste] für eine Weile vergessen macht."

Wappne ich mich gegen meine eigentlichen Ängste, indem ich mich ihnen in Form von Serienkillern auf dem Bildschirm aussetze?

Wenn sich jemand, der unter einer Angststörung leidet, einen Horrorfilm ansieht, stopft er sich dann eigentlich nur mit unterschwelligen Ängsten voll, wie so eine Art psychologische Impfung gegen die eigentliche Angst? Oder spritzen wir uns im Grunde genommen einfach nur Adrenalin? Dr. Maria Ironside arbeitet an der Oxford University und beschäftigt sich mit dem Thema Ängste und Depressionen. Im Rahmen ihrer Forschung verwendet sie eine Methode, die sich nicht-invasive Gehirnstimulation nennt. Dabei werden im Prinzip kleine, harmlose elektrische Ladungen an das Gehirn der Probanden abgegeben, um die Effekte in Gruppen aus Menschen mit und ohne Angststörungen zu dokumentieren. Ich habe sie gefragt, was genau in meinem Gehirn passiert, wenn ich Angst habe—also aus wissenschaftlicher Sicht. „Es gibt eine Gehirnregion, von der angenommen wird, dass sie dafür verantwortlich ist, Gefahren zu melden", sagt Dr. Ironside. „Diese Gehirnregion wird Amygdala genannt. Studien haben gezeigt, dass Menschen mit charakterlich sehr starker Angst—also sehr ängstliche Menschen—und Angststörungen einen im Vergleich zu gesunden Menschen hyperaktiven Amygdala besitzen."

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Ich frage Dr. Irdonside nach ihrer Meinung, was die Theorie zu Angst und Adrenalin betrifft. Kann es sein, dass sich meine Reaktion auf Horrorfilme so erklären lässt? Wappne ich mich gegen meine eigentlichen Ängste, indem ich mich meinen Ängsten in Form von Serienmördern auf dem Bildschirm aussetze? „Studien haben gezeigt, dass die Reaktion im Amygdala mit der Zeit abnimmt, wenn Menschen immer wieder dasselbe Bild von einem gruseligen Gesicht gezeigt kriegen. Bei Phobien werden Menschen im Rahmen einer Expositionstherapie mit dem Ursprung ihrer Phobie konfrontiert (z.B. enge Räume oder Spinnen) und mit der Zeit ‚lernen' sie, dass ihre Erfahrungen kein negatives Ergebnis nach sich ziehen und folglich nimmt auch die Angst ab. Das ist so ähnlich wie bei der Idee mit den Horrorfilmen. Ich bin allerdings nicht sicher, ob es funktionieren würde, weil ich nicht denke, dass dieser Ansatz gezielter auf bestimmte Ängste abgestimmt werden müsste."

Foto: stock.tookapic.com | Pexels | CC0

Ich stand schon immer auf Horrorfilme—schon damals, als ich noch ein nervöses, paranoides Kind war. Die besten Übernachtungspartys waren für mich immer die bei einer Freundin, die einen großen Bruder und einen ganzen Stapel Horrorfilme auf VHS hatte—von Nightmare on Elm Street über Der Exorzist bis hin zu Halloween. Wir haben den Ton immer ganz leise gemacht für den Fall, dass ihr Eltern reinkamen und uns dabei erwischten, wie wir zusammengekauert und eingewickelt in unsere Schlafsäcke vor dem Fernseher saßen und uns wie Mitglieder einer geheimen Verschwörung fühlten.

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Steph Hovey, Assistenzpsychologe am Tavistock Centre und Great Ormond Street Hospital in London, hat mir erklärt, dass sich Angst „aus unseren Kindheitserfahrungen heraus entwickelt, die auch einen Einfluss darauf haben, wie wir die Welt als Erwachsene sehen." Wenn ich mir einen Horrorfilm ansehe, dann könnte das für mich also bedeuten, dass ich in sicherer Umgebung und neben jemandem, dem ich vertraue, mit meinen Ängsten konfrontiert werde. „Die Erinnerungen an die damaligen unterhaltsamen Horrorfilmabende mit Freunden, helfen dir unter Umständen dabei, mit deiner Angst umzugehen, weil sie dich davor bewahren überzureagieren. Da du dieses Gefühl von Nervosität und Angst bereits kennst und weißt, dass dir nichts Schlimmes passieren wird, verleiht dir wiederum vielleicht ein besseres Rüstzeug, um mit diesen Gefühlen umgehen zu können."

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Nach den Daten einer Basisstudie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2013 leiden rund 15,3 Prozent der Menschen in Deutschland unter einer Angststörung. Betroffen sind 21,3 Prozent der Frauen und 9,3 Prozent der Männer. Bei der letzten bundesweiten Gesundheitsuntersuchung im Jahr 1998 waren es nur 14 Prozent. Wenn man sich die weltweiten Veränderungen allerdings mal ansieht—von viralen Pandemien über internationalen Terrorismus bis hin zum Brexit und Donald Trump—wirkt diese Entwicklung kaum überraschend.

Vor ein paar Jahren haben mein Mitbewohner George und ich einen Saw-Marathon gemacht. Wir haben uns ein Wochenende lang jeden einzelnen Film angesehen. Es hat so viel Spaß gemacht, dass wir wenige Monate später gleich noch einen Paranormal Activity-Marathon eingelegt haben. Seither wurde das Ganze zu so einer Art kleiner Tradition. Das ist so ähnlich wie beim Achterbahn fahren oder wenn man sich ein scharfes Curry teilt—es ist leicht verrückt und im Grunde genommen komplett ungefährlich, aber man bekommt trotz allem das Gefühl, diesen Moment gemeinsam „durchgestanden" zu haben. Ich werde vielleicht niemals herausfinden, warum Horrorfilme eine so gute Wirkung auf mich haben, aber in dieser unfassbar beängstigenden Welt kann es ziemlich beruhigend sein, wenn man weiß, dass man beängstigende Situationen durchstehen kann—egal ob fiktional oder real.


Foto: Porsche Brosseau | Flickr | CC BY 2.0 (bearbeitet)