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Psychologie

Wie Menschen mit Sozialphobie im Berufsleben die Hölle durchmachen

Nervosität vor einem wichtigen Vortrag? Kennt jeder. Bei Sozialphobikern wird ganz normales „Lampenfieber“ aber schnell zur psychischen und physischen Extremsituation.
Foto: kaboompics.com | Pexels | CC0

Phobien und Ängste sind weiter verbreitet, als viele denken—auch, weil Betroffene oft versuchen, sie zu unterdrücken. Eine der bekanntesten ist die Soziale Phobie; die Angst vor anderen Menschen. Laut der diplomierten Psychotherapeutin Judith Müller gehört sie zu den häufigsten psychischen Störungen. Allein in Berlin-Brandenburg leben nach wissenschaftlicher Einschätzung rund 200.000 Betroffene. Grundsätzlich geht man davon aus, dass rund 2,7% der weiblichen und 1,3% der männlichen Bevölkerung in Deutschland unter dieser Erkrankung leidet.

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Menschen, die unter der Sozialen Angststörung leiden, fürchten sich vor zwischenmenschlichen Begegnungen, in welchen sie (gefühlt) von anderen Personen beobachtet werden.

Zu Grunde liegt meistens die Angst, auf Ablehnung zu stoßen, sich zu blamieren oder den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden. Zusätzlich leiden Betroffene oft unter vermindertem Selbstwertgefühl. Dies führt während oder auch schon vor der gefürchteten Situation zu Nervosität, Erröten, Herzrasen und ähnlichen Symptomen. Ausserdem führt die Angst zu übermässigem Reflektieren der Situation, währenddessen und danach. Der Betroffene überdenkt sein Verhalten wieder und wieder. Die kognitive Beschäftigung mit dem Geschehenen kann über mehrere Wochen anhalten. Wer länger mit solch einer Angststörung lebt, verfällt oft nach und nach der Versuchung, die gefürchteten Umstände zu vermeiden. Was insbesondere dann schwierig bis unmöglich wird, wenn sich solche Situationen im Berufsleben ereignen.

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„Die soziale Unsicherheit wächst natürlich umso mehr, je weniger ‚Training' die Erkrankten haben", erklärt Psychotherapeutin Judith Müller gegenüber Broadly. „Das Problem geht deutlich über eine allgemeine Schüchternheit deutlich hinaus, kann aber aus dieser erwachsen." Sie arbeitet in der Christoph-Dornier Klinik in Münster, welche sich auf die Behandlung von Angst- und Zwangserkrankungen spezialisierte. Ihrer Meinung nach wäre das beste Arbeitsumfeld für Betroffene eines, das sich offen und verständnisvoll gegenüber der Problematik zeigt, die Betroffen jedoch nicht aufgrund der Krankheit besonders vorsichtig behandelt.

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Dies zu finden erweist sich allerdings oft als schwierig: Klickt man sich mal eine Weile durch Online-Foren für Menschen mit Sozialer Angst, wird oft über Arbeitslosigkeit gesprochen: Es finden sich eine hohe Anzahl von Einträgen dazu, dass man seinen Job verloren hat oder kündigen musste, weil man dem sozialen Druck nicht mehr standhalten konnte. Auch verspüren viele Angst davor, einen neuen Job zu suchen und die „Lücken" im Lebenslauf zu erklären.

„Wenn jemand sagt, dass er unter einer Spinnenphobie leidet, ist das für die meisten gut nachvollziehbar, aber wie erkläre ich, dass ich Angst vor Menschen habe?"

Ganz anders ist es bei Marcus: Ihn betrifft die Angst vor allem im privaten Umfeld. Ich treffe ihn in einem Café. Er sagt, er leide unter sozialer Phobie, seit er denken kann. Lange hielt er es jedoch für normal. Erst als er vor zwei Jahren aufgrund einer Panikattacke eine Verhaltenstherapie begann, erkannte er, dass seine sozialen Ängste größer sind als üblich. Beispielsweise fällt es ihm schwer als „Neuer" zu einer Gruppe hinzuzustoßen oder neue Leute kennenzulernen: „Vor allem in einer Stadt wie Berlin, wo die Anonymität so groß ist, fällt es schwer Anschluss zu finden." Er macht einen gelassenen, kontaktfreudigen Eindruck und beantwortet meine Fragen bereitwillig und ausführlich. Ab und zu schleicht allerdings ein nervöser Ausdruck über sein Gesicht oder er zupft sein Hemd zurecht.

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„Wenn jemand sagt, dass er unter einer Spinnenphobie leidet, ist das für die meisten gut nachvollziehbar, aber wie erkläre ich, dass ich Angst vor Menschen habe?" sagt Brigitte gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Sie arbeitet als Referendarin im Bundestag und leidet an Sozialphobie. Sie erzählt von sich aus viel von einzelnen Situationen, Therapieversuchen und ihrer Arbeit. Zwischendurch klammert sie sich an ihrem Kaffeebecher fest, aber auch Sie wirkt ansonsten während des Gespräches ruhig und locker, sagt selbst: „Wenn ich jetzt davon erzähle, scheint es mir selbst unverständlich, aber ich weiss genau: Wenn die nächste schwierige Situation auf mich zukommt, gehe ich wieder durch die Hölle."

Viele Sozialphobiker haben Angst davor, von anderen bewertet zu werden. Foto: pixabay.com | Pexels | CC0

Die meisten Probleme mit ihrer Angst verspüre sie, wenn sie Vorträge halten oder bei Sitzungen vor bis zu 50 Menschen sprechen muss. Der Trick, um die Angst im Rahmen zu halten sei, sich gut vorzubereiten, jedoch nicht auswendig zu lernen: So lange sie aktiv über das Thema nachdenken muss, hat die Angst weniger Platz um sich auszubreiten.

Ähnlich erzählt auch Marcus von seinem Arbeitsplatz: Er arbeitet seit 16 Jahren im Kundenservice für verschiedene Internetunternehmen, immer wieder in verschiedenen befristeten Jobs. Seit fünf Jahren hat er nun eine längerfristige Stelle bei Amazon. Soziale Angst verspürt er beim Telefonieren oder Sprechen mit den Kunden jedoch keine, da es in den Gesprächen immer um ein spezifisches Thema geht. Fragen zu beantworten stelle für ihn kein Problem dar, da sein Gehirn zu sehr mit der Problemlösung beschäftigt sei, um nervös zu werden. Seine Angst kommt ihm nur in die Quere, wenn neue Mitarbeiter hinzukommen, dann fühlt er sich wieder unsicher. Körperliche Symptome habe er allerdings keine mehr. Sein näheres Umfeld weiß von seiner Diagnose.

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Anders ist es bei Brigitte, die weder am Arbeitsplatz noch in ihrem Freundeskreis von ihrem Zustand berichtet hat. Wenn sie ihren Freunden erzählt, dass sie Angst vor einem Bewerbungsgespräch oder einem Vortrag hat, kommt meistens etwas in Richtung „Lampenfieber hat doch jeder" zurück. Was ihre Freunde nicht wissen, ist, dass Brigittes Angst weitaus mehr als Lampenfieber ist: Ihr ganzer Körper verfällt in einen Zustand der Anspannung, manchmal so sehr, dass sie sich kaum noch bewegen kann. Ihre Stimme bricht ab, sie muss häufig schlucken, sich räuspern, sieht nicht mehr, wer überhaupt vor ihr sitzt. „Manchmal weiß ich danach gar nicht mehr, was ich gesagt habe", berichtet Brigitte.

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Seit sie 16 ist, leidet sie unter dieser Angststörung, die zwischenzeitlich so schlimm war, dass sie, wenn sie gemeinsam mit anderen Menschen am Tisch saß, Gabel und Messer kaum halten konnte, da sie so sehr zitterte. Die Angst bekämpfte sie vor allem mittels bewusster Konfrontation. Deshalb arbeitete sie Anfang 20 als Kellnerin in einer Weinstube, später als Bankangestellte am Schalter. Im Nachhinein betrachtet sei die Stelle bei der Bank angenehmer gewesen als der jetzige Job: An die ständige Konfrontation mit den Kunden hätte sie sich nach einer Weile gewöhnt, aber wenn sie, wie jetzt, nur alle zwei Wochen im Schnitt einen Vortrag halten muss, kommt die Angst jedes Mal neu auf.

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Vor allem stört sie sich daran, dass sie sich nicht bewusst in solche Situationen begeben kann um zu „üben": Wenn sie vor einem Probepublikum einen Vortrag halte, käme die Angst gar nicht erst auf, weil sie weiß, dass es nur eine Probe ist. Doch genau das bewusste Suchen der gefürchteten Situationen ist das, was dabei hilft, die Angst zu überwinden. „Letztlich ist die beste Methode aus therapeutischer Sicht meist eine Konfrontationsbehandlung, in der sich die Betroffenen gezielt mit den für sie schwierigen Situationen und konkreten Befürchtungen auseinandersetzen und lernen, ihre Angst auszuhalten", meint Psychotherapeutin Müller.

Letztlich ist die beste Methode aus therapeutischer Sicht meist eine Konfrontationsbehandlung.

Genau dies wurde auch Marcus in der Verhaltenstherapie geraten. Deshalb versucht er inzwischen, aktiv neue Leute kennenzulernen: im Sportverein, bei Stammtischen oder anderen sozialen Zusammentreffen. Bisher jedoch vergeblich. Allerdings fällt es ihm immer leichter mit den genannten Umständen umzugehen. Da habe die Verhaltenstherapie eindeutig geholfen. Weniger unterstützend sei für ihn die Selbsthilfegruppe, die er besucht: „Meistens fühle ich mich danach schlechter als zuvor."

Brigitte war bisher weniger erfolgreich bei ihren Therapieversuchen. Auch sie gestand sich lange nicht ein, dass es sich um eine Krankheit handelt und hielt es für etwas, das sie selbst überwinden muss. 2008 begab sie sich zum ersten Mal in eine Angsttherapie. Geholfen habe das nicht viel. Erst vor zwei Jahren begann sie eine psychotherapeutische Behandlung und besucht eine Selbsthilfegruppe. Auch hat sie verschiedene Medikamente ausprobiert und inzwischen eines gefunden, welches sie immerhin etwas ruhiger macht. Gegen die Anspannung helfe es allerdings gar nicht.

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Medikamente können bei einer therapeutischen Behandlung eingesetzt werden, dienen jedoch bloß als eine Art „Krücke". Auch Judith Müller rät eher von der medikamentösen Behandlung ab: „Es gibt Medikamente, die sogenannten Benzodiazepine oder Angstlöser, die Ängste dämpfen und somit schnell wirken. Diese machen aber nach kurzer Zeit abhängig und schaffen somit eher weitere Probleme, als dass sie die Ängste lösen. Setzt man sie ab, sind die Ängste wieder da."

Marcus sieht seine Zukunft positiv: Im Dezember ist seine letzte Therapiestunde und er traut sich zu, danach alleine mit der Angst klarzukommen. Brigitte überlegt sich, nach dem Ende ihres befristeten Jobs wieder bei einer Bank zu arbeiten—zwar mit häufigerem, direktem Kontakt mit Menschen, dafür mit weniger Aufregung.

Dass sie irgendwann komplett angstfrei leben kann, glaubt sie nicht: „Ich habe die Angst schon zu sehr verinnerlicht."


Titelfoto: kaboompics.com | Pexels | CC0