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Verbrechen

Wieso es so wenige Amokläuferinnen gibt

Weltweit betrachtet werden weniger als 5 Prozent der Amokläufe von Frauen begangen und auch der Täter von München war männlich. Wir sind der Frage auf den Grund gegangen, warum das so ist.
Foto: Shutterstock

Am Freitag, dem 22. Juli, betritt der 18-jährige David S. das Olympia-Einkaufszentrum in München. Er hat eine Glock 17 (mutmaßlich aus dem Darknet) bei sich und beginnt, damit zu schießen. Neun Menschen sterben, viele weitere werden schwer verletzt, zum Schluss nimmt der Täter sich selbst das Leben.

Columbine 1999, Emsdetten 2006, Winnenden 2009 oder Graz 2015—David S. reiht sich mit dieser Tat in eine Reihe von Ereignissen ein, die sich durchaus ähnlich sind. Nicht nur, weil sowohl Columbine als auch Emsdetten und Winnenden an Schulen stattfanden und darauf zurückgeführt wurden, dass die Täter gemobbt wurden und sich ausgeschlossen fühlten—während die Motivation des Grazer Amokfahrers bis heute nicht geklärt ist und die Untersuchung im Fall Daniel S. noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Bei allen fünf Massenmorden waren die Täter männlich.

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Gewalttätige Frauen sind zwar an sich zwar kein Randphänomen, doch gerade in Bezug auf Amokläufe—einer Form des Verbrechens, die von einer hohen Intensität, Impulsivität und Gewaltbereitschaft geprägt ist—sind die Zahlen weiblicher Täter minimal. „Frauen wenden Gewalt weniger explosiv an, sie neigen dafür eher zu Suchterkrankungen oder Essstörungen. Weltweit betrachtet werden weniger als 5 Prozent der Amokläufe von Frauen begangen", so Sigrun Roßmanith, Fachärztin für Psychiatrie, Gerichtsgutachterin und Autorin. Wenn man sich die Amokläufe der letzten 20 Jahre in Österreich und Deutschland ansieht, wird noch einmal besonders deutlich, wie gering die Zahl weiblicher Täterinnen ist. Im genannten Zeitraum gab es insgesamt fünf Vorfälle dieser Art in Österreich. Sie alle wurden durch Männer verursacht. In Deutschland sieht die Situation ähnlich aus: Nur zwei von zehn Amokläufen wurden in diesem Zeitraum von Frauen durchgeführt.

Mehr lesen: Die Amokläufer von Columbine, ihre weibliche Fangemeinde und ich

Warum ist das so? Was auch immer diese Männer zu ihren Taten getrieben hat, es kann wohl kaum etwas sein, das Frauen zumindest theoretisch nicht auch passiert. Wieso äußert sich ihre Verzweiflung nicht in ähnlicher Form? Haben sie weniger Skrupel?

Eine mögliche Erklärung wäre die auch heute noch in Teilen abweichende Sozialisation von Mann und Frau. Vielen Kindern werden von klein auf bestimmte Rollenbilder und damit einhergehend auch Verhaltensweisen vermittelt. „Aus meiner jahrelangen Erfahrung kann ich sagen: Männer werden nicht dazu erzogen, bestimmte Gefühle zu zeigen. Ein Mann darf nicht traurig sein, es ist aber OK, wenn er wütend ist.", sagt Birgit Maurer, Psychologin in Wien. „Dann ist er zwar ein Choleriker, aber dafür ein richtiger Kerl. Männer werden für aggressives Verhalten deshalb auch eher gelobt als Frauen. Frauen, die schreien, gelten als hysterisch." Zurückzuführen sei dies auf evolutionsbiologische Faktoren: Die Frau war früher dafür zuständig, die Familie zu ernähren und zu versorgen. Der Mann musste sich um die Verteidigung kümmern und wenn er erfolgreich war, wurde er dafür bewundert.

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Dadurch wird Männern mehr oder minder vermittelt: Es ist nicht in Ordnung, wenn du weinst, aber wenn du jemanden verprügelst, dann finden wir das OK. Eine Kombination, die ihre Spuren hinterlässt. „Die Aggressionsbereitschaft bei Männern ist meiner Erfahrung nach definitiv höher.", so Maurer. Was als sozial akzeptiert gilt und was nicht, ist also noch immer eine Frage des Geschlechts. Auch wenn es auf diesem Gebiet schon zu großen Fortschritten gekommen sei. „Die Geschlechterbilder ändern sich, wenn auch langsam."

Trauernde haben Blumen vor dem Olympia-Einkaufszentrum in München niedergelegt. Dem Ort, an dem David S. Amok lief. Foto: imago | Spöttel Picture

Ebenfalls auf die Sozialisation zurückzuführen ist vermutlich die Tatsache, dass Frauen auf psychische Verletzungen anders reagieren als Männer. Gerade dieser Umstand ist besonders wichtig, wenn man sich mit Amokläufen beschäftigt. Denn der Grund für solche Taten wäre, so Roßmanith, oft eine extreme narzisstische Kränkung, gepaart mit einer Persönlichkeitsstörung: „Dadurch kann ein mörderisches Gefühl entstehen, das die Betroffenen nicht mehr anders kompensieren können." Frauen wären in der Lage, diese Kränkungen auf andere Weise auszugleichen und würden bei psychischen Problemen eher Hilfe suchen. Ein Umstand, der sich laut ihr auch darin widerspiegeln würde, dass Männer häufiger Suizid begehen.

Maurer sieht darin ein großes Problem: „Ich sage immer: ,Wer nicht spricht, verbricht.' Es ist wichtig, sich mitzuteilen, sich zu öffnen. Denn sonst kommt man in eine Kelomat-Situation: Der innere Druck wird immer größer, aber er kann nicht raus. Irgendwann muss es dann zu einer Explosion kommen."

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Der Kriminalpsychologie Christian Lüdke geht in einem Statement für Spiegel Online noch einen Schritt weiter. Seiner Meinung nach wären Frauen generell belastbarer als Männer: „Die innere Widerstandsfähigkeit, die Fähigkeit, mit Enttäuschungen und Kränkungen umzugehen, ist bei Frauen wesentlich höher entwickelt. Das heißt, Männer sind bei Konflikten und Krisen wesentlich verletzlicher und verletzbarer, als Frauen das sind."

Es gibt sie natürlich trotzdem, die amoklaufenden Frauen—wenn auch, wie schon erwähnt, in geringer Anzahl. Man geht bei ihnen davon aus, dass Beziehungskonflikte als Ursache für die Tat eine größere Rolle spielen als bei Männern. Wie zum Beispiel bei Sabine R. aus Lörrach, die 2010 zuerst ihren Mann und ihren Sohn umbringt, bevor sie bewaffnet ins gegenüberliegende Krankenhaus geht. Dort schießt sie wahllos um sich und tötet dabei einen Pfleger, der sich ihr in den Weg stellt.

Mehr lesen: „Die dunkle Seite von Frauen wird unterschätzt"—wie Frauen morden

„Hierbei handelte es sich eigentlich um einen Beziehungskonflikt, der im öffentlichen Raum fortgesetzt wurde", vermutet Sigrun Roßmanith. Sabine R. hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Beziehungsprobleme mit ihrem Mann. Sie wohnten getrennt, das gemeinsame Kind lebte beim Vater.

Dass die Ursachenforschung so einfach nicht ist, zeigt der Amoklauf der US-Amerikanerin Brenda Ann Spencer. An einem Montagmorgen im Januar 1979 fängt sie an, mit einer Waffe, die sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hat, aus ihrem Fenster zu schießen. Ihr Ziel sind Kinder, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite darauf warten, dass das Schulgebäude für sie geöffnet wird. Acht von ihnen werden verletzt, der Direktor und der Hausmeister sterben bei dem Versuch, zu helfen. Spencer schließt sich danach für mehrere Stunden in ihrem Zimmer ein, bevor sie sich der Polizei stellt.

Ihr Fall zeigt, dass es keine Blaupause gibt, nach der solche furchtbaren Verbrechen passieren. Keinen Ablauf, bei dem eine Handlung die nächste ergibt, bis sich die Situation schließlich in einem Amoklauf entlädt. Weder bei Männern, noch bei Frauen. Während sich im Fall David S. mittlerweile Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund verdichten und Bekannte außerdem aussagten, dass er gemobbt worden sei, gibt es nach wie vor keine Erklärung für Brenda Ann Spencers Tat. Auf die Frage der Polizei, warum sie es getan hat, antwortete die damals 16-Jährige: „Ich mag keine Montage."