Warum der Aufstieg rechter Parteien den Untergang reproduktiver Rechte bedeutet
Illustration by Julia Kuo

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Politik

Warum der Aufstieg rechter Parteien den Untergang reproduktiver Rechte bedeutet

Von abtreibungsfeindlichen Positionen der AfD in Deutschland zum Versuch eines Abtreibungsverbots in Polen: Der Vormarsch rechter und nationalistischer Parteien in ganz Europa ist nicht nur wegen ihrem rassistischen Gedankengut ein echtes Problem.

Als ich Anfang diesen Monats über den Parliament Square gelaufen bin, um mich den polnischen Pro-Choice-Protesten anzuschließen, übertönten die Protestierenden die Glocken des Big Ben. „Es geht nicht nur um Polen", warnten die Aktivisten, die sich hier versammelt haben. Sie sagen, das sich die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen in ganz Europa in Gefahr befinden—und dass der beunruhigende Aufstieg rechter Populisten und die Zunahme nationalistischer Rhetorik einen wesentlichen Teil zur Krise beigetragen haben.

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Jede Frau, mit der ich bei den Protesten am Black Monday gesprochen habe, äußerte dieselben Befürchtungen—nicht nur für Polen, sondern für die Frauen in ganz Europa. „Rechtsnationale Regierungen und die Abschaffung reproduktiver Rechte breiten sich in Europa immer weiter aus, wie ein Krebsgeschwür", warnt die polnische Aktivistin Poli Palian. „Schau dir an, was in Kroatien passiert oder in Ungarn. Es geht nicht nur uns so."

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Palian hat Recht. Obwohl das Land durch seine Radikalität des Öfteren hervorsticht, betrifft dieses Problem nicht nur die Frauen in Polen. Die Art, wie die Menschen über reproduktive Rechte denken, scheint sich momentan in ganz Europa zu wandeln—unter anderem in Ungarn, Mazedonien, Italien und der Slowakei.

In Deutschland ist es vor allem die AfD, die sich ebenso massen- wie medienwirksam gegen Abtreibung stark macht—zumindest solange es weiße, deutsche Frauen betrifft. „Aktive Bevölkerungspolitik" heißt das dann beispielsweise bei der Parteivorsitzenden Frauke Petry. Ihre Stellvertreterin Beatrix von Storch zeigte sich im September beim „Marsch fürs Leben", eine Art Mahnwache religiös motivierter Abtreibungsgegner.

Auf dem Papier ist Abtreibung innerhalb des ersten Trimesters in den meisten Ländern Europas erlaubt. In der Realität gibt es allerdings noch immer große Diskrepanzen und zusätzliche Auflagen. Das liegt vor allem daran, dass das Mandat der EU sehr beschränkt ist: Reproduktive Rechte fallen nicht unter die Charta der Grundrechte der Europäischen Union—ein rechtlich bindendes Dokument, das die Rechte und Freiheiten europäischer Staatsbürger schützt. Angesichts der zunehmend ausländerfeindlichen und nationalistischen Stimmung und der wachsenden Zahl von Europa-Gegnern drohen dem Mandat nun allerdings noch weitere Beschränkungen.

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Katholische Abtreibungsgegner bei einem Protest vor einer Klinik in England. Foto: Steph Wilson

„Der EU sind die Hände gebunden", erklärt mir Leah Hoctor, Regionalleiterin für Europa am Zentrum für reproduktive Rechte. „Im Moment obliegt die primäre Zuständigkeit in Bezug auf die reproduktiven Rechte und die reproduktive Gesundheit den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Daher ist die Kompetenz der Europäischen Union beschränkt und es gibt derzeit auch keine rechtlichen Vollstreckungsverfahren, die von den europäischen Institutionen angewandt werden könnten, um die reproduktiven Rechte von Frauen in den EU-Mitgliedsländern zu schützen, beziehungsweise ihren Rückgang aufzuhalten."

Diesbezüglich, fügt Hoctor an, „gibt es auch in anderen Ländern—vor allem in Zentral- und Osteuropa—einige weniger extreme, aber dennoch beunruhigende politische Entwicklungen."

Sie nennt mir zwei Beispiele: Mazedonien und die Slowakei. „In diesem Ländern konnten wir unter anderem die politische und rechtliche Einführung von obligatorischen, aber medizinisch nicht erforderlichen Wartezeiten und einer tendenziösen Beratungs- und Informationspflicht beobachten", sagt Hoctor. „Solche Maßnahmen gab es zuvor nicht in diesen Ländern, sie wurden im Grunde nur eingeführt, um Frauen den Zugang zu legalen Abtreibungen zu erschweren."

Wenn es keine Frauen mehr gibt, die sich dafür entscheiden, Kinder zu bekommen, dann bedeutet das das Ende der Nation.

Inwieweit wird diese Entwicklung durch radikale Rechte geschürt? In Polen scheint die Antwort klar: Die rechtsnationale Regierungspartei versucht, die reproduktiven Rechte von Frauen unter dem Deckmantel sogenannter christlicher Familienwerte aufzuheben.

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„Die PiS-Partei macht sich Gedanken über die sinkenden Geburtenraten und in ihren Augen ist eine feste Familieneinheit entscheidend für die Förderung einer nachhaltigen Zukunft des Landes", erklärt mir Dr. Anne-Marie Kramer, Dozentin für Soziologie und Sozialpolitik an der Universität von Nottingham. „Sie stehen geschlechtsspezifischen Rechten äußerst kritisch gegenüber, weil sie—wie sie sagen—der polnischen Kultur fremd sind. Stattdessen sehen sie die zentrale Rolle einer Frau als Teil der Familie."

In anderen Worten: Der polnische Nationalismus ist untrennbar mit klassischen Geschlechterrollen verbunden. „Das bedeutet, dass die Zukunft der Nation in Abhängigkeit von der Rolle der Frau betrachtet wird", erklärt Kramer. „Wenn es keine Frauen mehr gibt, die sich dafür entscheiden, Kinder zu bekommen, dann bedeutet das das Ende der Nation. Wenn sich Frauen dafür entscheiden, ihre Kinder nicht nach ‚nationalistischen' Werten zu erziehen, dann sieht man die Zukunft der eigenen Kultur in Gefahr."

In ganz Europa sind rechtsnationalistische Wertesysteme seit dem Brexit weiter auf dem Vormarsch. YouGov stellte im Rahmen einer Umfrage fest, dass mittlerweile fast die Hälfte aller Erwachsenen in 12 Ländern ausländerfeindliche und nationalistische Ansichten teilen. Anfang September stellte sich der ungarische Regierungschef Viktor Orban an die Seite des Vorsitzenden der PiS-Partei, Jaroslaw Kaczynski, um zu eine „kulturelle Gegenrevolution" aufzurufen, nachdem Großbritannien für den Ausstieg aus der EU gestimmt hat.

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Orban löste dieses Versprechen jetzt ein. Vor kurzem hat er vor dem Parlament formell gefordert, die verfassungsrechtlichen Migrationsregelungen zu verschärfen, ungeachtet der Tatsache, dass ihn Oppositionsführer beschuldigen, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Orban betonte die Notwendigkeit, die Religion und die nationale Identität der EU-Mitgliedstaaten vor dem wachsenden Einfluss der Flüchtlinge und Zuwanderer zu schützen und kommentierte diesen Monat: „Nur die Nationen, die ihre historische, religiöse und nationale Identität schützen, werden überleben und stark bleiben."

Donald Trump und sein republikanischer Kollege Paul Ryan (links) feiern am 04.05.2017 die positiv ausgefallene Abstimmung über ein Gesetz, das Obacame in seiner jetzigen Form abschaffen soll – mit desaströsen Folgen für Frauen. Foto: imago | UPI Photo

Wie wird sich die Ablehnung von europäischen Werten auf die reproduktiven Rechte des Landes auswirken? Abtreibung ist in Ungarn zwar legal, der Zugang dazu allerdings äußerst schwierig. Genau wie in Polen versucht das zentraleuropäische Land das Wachstum der Bevölkerung zu fördern. Folglich wird es für Frauen immer schwieriger, zwanglos über ihre reproduktive Gesundheit zu entscheiden. 2013 hat der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau Ungarn wegen zwei seiner Abtreibungsbeschränkungen verurteilt: die obligatorischen Wartezeiten und die tendenziöse Beratung—mit dem Ziel, Frauen davon abzuhalten, einen legalen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen.

Obwohl es wahrscheinlich noch zu früh ist, um die Situation in Polen und Ungarn mit dem zu verbinden, was jenseits ihrer Grenzen passiert, ist die sich abzeichnende Entwicklung Europas besorgniserregend. Wenn wir über reproduktive Rechte sprechen, genügt es nicht, über Abtreibungsgesetze zu reden—es verlangt nach einem umfassenden Zugang zu sexueller Aufklärung, ausführlichen Gesundheitsinformationen und bezahlbaren Verhütungsmitteln. Punkte, die sträflich vernachlässigt werden.

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Eine aktuelle Studie des europäischen Netzwerkes der International Planned Parenthood Federation hat festgestellt, dass die Regierungen in 16 europäischen Mitgliedsländern „ihren Verpflichtungen zur Verbesserung des gerechten Zugangs zu modernen Verhütungsmethoden noch immer nicht nachkommen." Fakt ist, dass die Standards seit 2013 nicht nur stagniert sind, sondern sich sogar verschlechtert haben. Neben vielen weiteren Problemen hebt der Bericht hervor, dass nur drei der insgesamt 16 untersuchten europäischen Mitgliedsstaaten regierungsfinanzierte Aufklärungskampagnen zum Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (SRHR) hatten. Außerdem boten nur 50 Prozent obligatorischen Aufklärungsunterricht an.

Die Tatsache, dass es Gesetze und Richtlinien zu Verhütung und Aufklärung gibt, bedeutet nicht, dass sie auch in der Praxis umgesetzt werden.

Ich frage Hoctor nach ihrer Meinung zu diesen Diskrepanzen. „Die Tatsache, dass es Gesetze und Richtlinien zu Verhütung und Aufklärung gibt, bedeutet nicht, dass sie auch in der Praxis umgesetzt werden", sagt sie.

Nach dem Brexit drängt sich die Frage auf, inwiefern Europas wachsende politische Instabilität den Zugang und die Unterstützung weiter erschwert. Über die letzten Jahre haben handlungsunfähige Koalitionen und zersplitterte Regierungen immer wieder gezeigt, wie leicht es ist, die reproduktive Gesundheit aktiv einzuschränken.

Nehmen wir zum Beispiel Portugal, wo mehr als 80 Prozent der Bevölkerung katholisch sind. Im Jahr 2015 hat die mittig-rechts ausgerichtete Regierung eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes verabschiedet, die Frauen rechtlich dazu verpflichtete, für Eingriffe selbst zu zahlen und sich einer obligatorischen, tendenziösen Beratung zu unterziehen. Obwohl diese Gesetzesverschärfungen 2016 von dem neu gewählten linksgerichteten Bündnis aufgehoben wurden, hat die kurzweilige Gesetzesänderung zahlreiche Aktivisten in Alarmbereitschaft versetzt. Damals sagte Heloisa Apolonia von der Oppositionspartei Berichten zufolge, „dass die letzte Sitzung der Legislaturperiode ausgenutzt wurde … um die Frauen Portugals bloßzustellen."

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Hoctor versichert mir allerdings auch, dass die EU diplomatischen und politischen Druck ausüben kann, um auf derartige Entwicklungen zu reagieren: „Die Wirkung des Engagements und des Drucks von Seiten der EU sollte nicht unterschätzt werden", sagt sie. „Frauenrechtsanwälte und -befürworter sind kreativ und finden immer Wege, um den Einfluss politischer EU-Initiativen zu maximieren."

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Auch die radikale politische Rhetorik hat eine gewisse Macht—und einen potenziellen Einfluss. Im Mai behaupteten Frauenrechtsgruppen in Kroatien, dass Anti-Abtreibungs-Aktivisten den Rückhalt der damaligen konservativen Regierungspartei HDZ hatten. In Deutschland hat die Alternative für Deutschland ebenfalls verstärkte Bemühungen zur Reduzierung von Schwangerschaftsabbrüchen gefordert. Einige konservative Mitglieder der AfD forderten sogar ein Abtreibungsverbot.

Während meiner Arbeit an diesem Artikel hat mir Palian einen Link zu einem Interview geschickt, das der Vorsitzende der PiS-Partei, Jarosław Kaczyńsk, kürzlich gegenüber der polnischen Presseagentur gegeben hat. Obwohl Polens parlamentarische Gesetzgeber drei Tage nach dem Black Monday gegen ein vollständiges Abtreibungsverbot gestimmt haben, gab er an, dass seine Partei ihre Anstrengungen trotz allem auch weiterhin fortsetzen würde.

„Wir werden auch weiter dafür kämpfen, dass Frauen selbst schwierige Schwangerschaften, bei denen das Kind sicher sterben wird [und] schwere Missbildungen hat, ihre Kind zur Welt bringen müssen, damit es getauft und mit einem Namen begraben werden kann", sagt er. „So müssen wir uns behandeln lassen", schreibt mir Palian erschüttert.

Polens Krise sollte ein Weckruf für die Frauen in ganz Europa sein—und sie müssen diesen Kampf nicht allein kämpfen.

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