Politik

Warum wir in der Schweiz unsere Nationalmannschaft plötzlich lieben

... und Schweizer Medien ihren Rassismus als Sportkritik ausgeben.
Die Schweizer Nationalmannschaft rennt nach dem EM-Sieg über Frankreich jubelnd über den Platz; jetzt sind die Spieler in den Schweizer Medien plötzlich gefeierte Helden, vorher war das noch ganz anders
Die Schweizer nach dem Elfmeterschießen gegen Frankreich | Foto: IMAGO / Just Pictures 

Heute spielt die Schweizer Nationalmannschaft im Viertelfinale der Europameisterschaft gegen Spanien. Zum ersten Mal seit der WM 1954. Die internationalen Turniere habe ich als Kind immer verfolgt – vor allem die Spiele der Schweiz und die von Italien. Jetzt schon lange nicht mehr. 

Eigentlich hatte ich gar nicht vor, die Europameisterschaft zu schauen, doch am Montagabend lief der ZDF-Livestream auf meinem Laptop, weil mir jemand vom Spielstand erzählt hatte. Ein Tor für die Schweiz gegen Frankreich. Und plötzlich war ich wieder drin in einer kindlichen Einfachheit. Wie meinem zehnjährigen Ich geht es mir 120 Minuten lang nur um Fußball. 

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Oder fast. Denn anders als damals sind mir die Dimensionen um den Fußball herum bewusst. Eigentlich geht es nie einfach nur um Fußball. Fußball ist auch immer politisch. Bei dieser Europameisterschaft schultert die Schweizer Nati mal wieder nicht nur die Anforderung zu gewinnen, sondern auch die Pflicht, einem konservativen Bild der Schweiz gerecht zu werden. 


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Rassismus als Sportkritik

Wenn die Schweizer Nati schlecht spielt, dann kommen die Schweizer oft zum Schluss, dass die Nationalmannschaft keine Einheit ist.

Das Portal Watson gibt nach der letzten Italien-Niederlage dem Kapitän und Mittelfeldspieler Xhaka die Schuld: "Xhaka spaltet eher, als er vereint. Das beginnt schon neben dem Platz, wo er eine Sonderrolle beansprucht." Xhakas Sonderrolle neben dem Platz bezeichnet die NZZ als "Abgehobenheit der Jung-Millionarios". Hinter "Luxusschlitten" und "Angeberklamotten" landet "Fußballfrisur" in dieser Kategorie. 

Granit Xhaka wurde beim Achtelfinalspiel gegen Frankreich zum "Star of the Match" gekürt. Vielleicht das erste Mal bei dieser EM hat er alles richtig gemacht. Oft wird er beschrieben als eine Person, die sich ständig in den Mittelpunkt drängt. Vielleicht wird er aber auch einfach dahin gezerrt. Dass plötzlich alle über eine "Sonderrolle" sprechen und explizit die Fußballfrisur erwähnen, hat einen Grund. Kapitän Granit Xhaka flog vor seinem EM-Spiel gegen Italien einen Friseur aus der Schweiz ein. Er und der Innenverteidiger Manuel Akanji liefen beim Spiel gegen Italien mit frisch blondierten Haaren auf den Rasen. Das provozierte Schweizer Journalisten und diskriminierungsfreudige Fußballfans. 

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Vielleicht waren die Schweizer insgeheim sogar froh, dass ihre Nationalmannschaft so schlecht gespielt hatte gegen Italien. So konnten sie ihren Rassismus bequem als Sportkritik verkaufen.

Die Verkörperung einer Schweizer Identität

Das Horrorszenario, dass faule Menschen aus anderen Ländern in die Schweiz kommen, um den Schweizerinnen den Wohlstand wegzunehmen, das die rechte Partei SVP mit Erfolg schon lange als Realität ausgibt, wird von den Medien und Fußballfans reproduziert. Die Schweizer Boulevardzeitung Blick redet bei der Blondierungs-Causa von einer Abgehobenheit, die nicht zur Schweiz passe. Alle sind sich einig: Die Spieler haben den Bezug zur Schweiz verloren und sind nicht bescheiden genug. Für ein Land, das doch so bescheiden und fernab von Luxus ist, mit Pauschalbesteuerung und überteuerten Luxemburgerli-Macarons. 

Und trotzdem herrscht in den Kommentarspalten die "Endlich sagt es mal jemand"-Mentalität. Die Leser fühlen sich bestätigt in ihrer Diskriminierung. Unter einem Text der NZZ schreibt ein Leser über das Match gegen Italien: "Begonnen hat es mit dem Nichtabsingen der Nationalhymne. Das kommt davon, dass wir schon lange keine eigentliche Schweizer Nationalmannschaft mehr haben." 

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Immer wird Repräsentation und die richtige Verkörperung der Schweiz gefordert. Das erinnert an eine Aussage von Lichtsteiner, einem Ex-Nati-Spieler, der im Interview vor dem Länderspiel gegen Estland vor verschiedenen Schweizer Medien von "richtigen Schweizern" und "anderen Schweizern" sprach. Er fürchtete, dass dem Volk irgendwann die Identifikationsfiguren innerhalb der Nationalmannschaft ausgehen.

Was hier bequem ignoriert wird, ist, dass Fußballspieler uns, die normale Bevölkerung, in ihrem Alltag nie repräsentieren können. Der Mittelfeldspieler Granit Xhaka verdient laut der Website Fußball Transfers 5,7 Million Euro im Jahr. Unsere Leben haben nichts miteinander zu tun. 

Ich interessiere mich für Fußball. Aber nicht, weil ich sehen will, wie die Spieler im Opel Corsa vorfahren oder beteuern, dass sie sich die Haare immer selbst schneiden. Meinetwegen müssen sie keine Botschafter der Genügsamkeit sein.

Explizit ins Visier fassen Kritiker oft die Spieler, die Lichtsteiner wohl als "andere Schweizer" bezeichnen würde. Spieler mit Migrationshintergrund.  Vor allem Xherdan Shaqiri, Granit Xhaka und Manuel Akanji erhielten in den letzten Jahren viel Gegenwind in Schweizer Medien.

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Um die Genügsamkeit geht es in Wahrheit gar nicht. Denn was Kritiker eigentlich sagen wollen, ist, dass es doch eine Frechheit sei, dass "diese Ausländer" sich im Schweizer Überfluss suhlen, fette Karren fahren, sich die Haare blondieren, Markenklamotten tragen und dann doch nicht die Demut und unendliche Dankbarkeit besitzen, sich bei der Hymne zur Schweiz zu bekennen. 

Identifikationsfiguren ohne Doppeladler und ohne Doppelpass

Schon 2018 hatte Alex Miescher, der damalige Generalsekretär des Schweizerischen Fußballverbands, seine Lösung für diese Abgehobenheit. Die Spieler Xhaka und Shaqiri hatten beim Spiel gegen Serbien, nachdem sie ein Tor erzielt hatten, einen Doppeladler mit ihren Händen geformt und damit die Flagge Albaniens symbolisiert. 

Miescher forderte daraufhin, dass nur Spieler Teil des Teams sein dürfen, die ihren zweiten Pass abgeben. 2019 hatten 19 Prozent der Über-15-Jährigen in der Schweiz zwei Staatsbürgerschaften. Ich selbst bin Doppelbürgerin, viele meiner Freundinnen sind es auch. Eine Mannschaft ohne Doppelbürger würde also die Bevölkerung nicht wirklich repräsentieren, so wie es gefordert wird. Einen Monat nachdem er diese Aussage getätigt hatte, trat Miescher zurück.

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Und jetzt ist die Schweiz im Viertelfinale, obwohl sie keine Einheit ist, der Trainer seine Spieler angeblich nicht unter Kontrolle hat und neben dem Training Zeit blieb für Haare bleichen und Tattoos stechen lassen. Alle sind begeistert und lieben die Nationalmannschaft plötzlich wieder. 

Anstatt dass Xhaka spalte, kann man jetzt das Gegenteil lesen: "Xhaka spielte die meisten Vorwärtspasse aller Spieler auf dem Platz, setzte damit seine Mitspieler hervorragend in Szene, kreierte Chancen." Plötzlich ist die Beziehung, die Trainer Wladimir Petkovic und Xhaka zueinander haben, laut NZZ eine Vertrauensbeziehung. Nur Wochen zuvor beschrieb sie noch, wie sich Xhaka über Petkovics Anweisungen hinwegsetzt haben soll und ihn nicht zu respektieren scheint. Die Nati gewinnt und Schweizer Medien rudern zurück. Auch der Blick, der zuerst kritisierte, dass die Abgehobenheit von Xhaka nicht zur Schweiz passe, sprach nach dem Sieg gegen Frankreich von der "goldenen Generation um Xhaka, Rodriguez und Seferovic". 

Wenn sich rassistische "Wir brauchen Identifikationsfiguren"-Eidgenossen von der Nationalmannschaft nicht mehr repräsentiert fühlen, dann macht das Team einiges richtig. Vielleicht können wir jetzt endlich wieder anfangen, über Fußball zu sprechen statt über Frisuren.

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