Im Oktober veröffentlichte die New York Times einen Enthüllungsbericht über die Missbrauchspraktiken einer Geheimorganisation für Frauen. Die geheime Gruppe gehört zu einer "philosophischen Bewegung" namens Nxivm. Die Times sprach mit ehemaligen Mitgliedern, die von erzwungenen Herr-Sklavin-Beziehungen erzählten. Dabei sollen die Frauen zur Initiation mit den Initialen des Nxivm-Anführers Keith Raniere gebrandmarkt worden sein. Einige haben bereits versucht, die Organisation und ihren Anführer Keith Raniere anzuzeigen, doch die New Yorker Behörden haben sich bisher geweigert und das Brandmarken als "einvernehmlich" eingestuft. Seit dem Erscheinen des Artikels ist das Ex-Mitglied Sarah Edmondson vielen Angriffen ausgesetzt: Dass sie die Nxivm-Lügen über persönliche Weiterentwicklung glaubte und sich entstellen ließ, sei dumm und verblendet gewesen. Keith Raniere leitete im kanadischen Vancouver rechtliche Schritte gegen Sarah Edmondson ein. Edmondson arbeitet als Schauspielerin.
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Dies ist Sarah Edmondsons Antwort auf das Unverständnis, die Beleidigungen und die üble Nachrede. Sie hat VICE mehr als ein Jahrzehnt der Manipulation geschildert, die ihr es unmöglich machte, die Organisation zu verlassen oder Missbrauch anzusprechen. Nxivm hat zwar nach dem Artikel in der New York Times eine Pressemitteilung veröffentlicht, auf unsere Bitte um Kommentar hat die Organisation aber nicht reagiert.Alles begann auf einem Filmfestival. Ich liebte den Film What the Bleep Do We Know, denn er passte zu meinem Drang, ein besserer Mensch zu werden. Der Regisseur Mark Vicente war auf dem Festival, also musste ich ihm einfach persönlich sagen, wie begeistert ich war. Er sagte, dann würde mir vielleicht auch der Kurs gefallen, den er gerade absolviert hatte: ein 16-tägiges Nxivm-Programm. Wir unterhielten uns auch über Keith Raniere – angeblich ein unglaublich intelligenter Mann, der mit humanitärer Arbeit die Welt verbessere. Damals gefiel mir diese Vorstellung. Nur wenige Wochen später trat ich zu meinem ersten fünftägigen Programm an.Die ersten paar Tage war ich noch sehr verschlossen. Meine Eltern sind beide Therapeuten – was konnten diese Leute mir also groß beibringen? Am ersten Tag kam ich nach Hause und googelte die Firma, denn das hatte ich vor der Kursanmeldung gar nicht getan. Die scharfe Kritik, auf die ich stieß, überraschte mich ein wenig. Ich rief Mark Vicente an und fragte ihn: "In was bin ich da auf deine Empfehlung reingeraten?" Er sagte: "Im Internet können die Leute viel schreiben, wenn der Tag lang ist. Es gibt natürlich Hetzkampagnen und Hater und so." Ich glaubte Mark, ich vertraute ihm. [Anm. d. Red.: Mark Vicente hat Nxivm verlassen, nachdem die Vorwürfe über die Geheimorganisation öffentlich geworden sind.]
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Nxivm sichert sich auf clevere Weise dagegen ab, dass man sein Unbehagen zum Anlass nimmt zu gehen. Wer sich getriggert oder unwohl fühlt, der mache es ja richtig, denn nun könne man die Probleme im Kurs besprechen. Sie sagten immer: "Wenn du hier nicht darüber reden kannst, wo denn dann?" Unsere Probleme, sagten sie, seien unsere "Muster" – sie seien verantwortlich für das, was in unserem Leben schiefläuft. Ob jemand es immer anderen recht macht, ein Kontrollfreak oder immer das Opfer ist – wir haben alle unsere Muster. Wenn ich Bedenken äußerte, wurden sie zurückgeschleudert, denn die waren angeblich Teil meines Problems.Schon am ersten Tag sollten wir uns vor Keith Raniere als Anführer verbeugen und ihn als "Vanguard" ansprechen – Englisch für "Vorhut" oder "Vorreiter". Das war für mich ein Warnsignal, aber gleichzeitig ließ es sich einfach erklären: Doktor, Sensei … Menschen haben oft einen Titel. Wir bezeichnen sie so, weil sie etwas erreicht haben. Vanguard hatte seinen Titel verdient, weil er Anführer einer philosophischen Bewegung war. Daran ist doch nichts Seltsames. Wir trugen Schärpen, aber solche verschiedenfarbigen Rangabzeichen gibt es ja auch im Kampfsport. Auch daran ist doch nichts Seltsames. Immer gab es eine Erklärung.Am dritten Tag waren sie dann endgültig zu mir vorgedrungen. Ich hatte ein paar große "Aha-Momente" und "Integrationen", wie sie es in den Executive Success Programs, ihrer Kursreihe, nannten. Und als der fünfte Tag vorbei war, dachte ich: "Das war großartig. All meine Freunde und Freundinnen brauchen das hier. Ich will das nach Kanada bringen." (Damals gab es in Kanada noch keine Nxivm-Schule.) Ich fühlte mich, als habe sich ein Nebelschleier gelüftet: Ich war klarer im Kopf, ich traf bessere Entscheidungen, verstand andere Menschen besser. Ich war auf dem richtigen Weg zu Erfolg und Glück. Aber da war immer so ein kleiner Haken, den sie hinterließen. Mit dir stimmte etwas nicht, du musstest daran arbeiten und natürlich noch mehr Trainings absolvieren. Obwohl ich mich gestärkt fühlte, hatte ich immer im Hinterkopf, dass ich mich weiterentwickeln musste, um wirklich glücklich zu sein. Sie hatten schon nach sehr kurzer Zeit fast eine Art Abhängigkeit in mir ausgelöst.
Der Anführer trug einen Titel, wir Schärpen – immer gab es eine Erklärung
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Wenn man sich einer Gruppe angeschlossen hat, in die man so viel Zeit und Energie investiert, will man es auch gut finden. Wenn du 3.000 Dollar für ein fünftägiges Training ausgibst, dann willst du, dass es dein Leben bereichert, du sagst dir: "Das war eine gute Entscheidung, ich hatte richtig was davon." Und so blieb auch ich bei einer Sache, an der ich eigentlich Zweifel hatte.Mein erstes Training hatte ich 2005. Von 2005 bis 2009 reiste ich ständig nach New York und Seattle, wo es damals bereits Nxivm-Zentren gab. Etwa einmal im Quartal organisierten wir ein Fünf-Tages-Training. Ich war die Hauptorganisatorin dieser Kurse und liebte diese Aufgabe. Ich holte sehr viele Teilnehmer ins Boot – darin war ich sehr gut, und das förderten sie. Nxivm flog mich zu persönlichen Trainings mit Keith Raniere nach Albany im Bundesstaat New York, er brachte mir viel über die Verkaufsstrategie bei. Ich war versessen darauf, Nxivm nach Kanada zu bringen, vor allem für all meine Freunde aus dem Schauspielgewerbe. Persönliche Weiterentwicklung hatten sie am meisten nötig, dachte ich. Und die Leute liebten die Kurse. 2009 wurden der Regisseur Mark Vicente und ich zu Geschäftspartnern und eröffneten den Nxivm-Ableger in Vancouver.Das Konzept des "Pfands" und der Strafe kam bei Nxivm zum ersten Mal in einem Programm namens "Menschlicher Schmerz" auf. Das war vielleicht 2011 oder 2012. Es handelte sich um ein achttägiges Training für Mitglieder der Stufe 2, also nach dem Einführungstraining. Die Kursleiter forderten die Teilnehmer auf, ein Pfand abzugeben, das ihrer Verpflichtung zur Weiterentwicklung Gewicht verlieh. Wenn sie ihre Vorhaben nicht einhielten, verloren sie den Gegenstand oder mussten sich einer Strafe fügen. Ich machte das selbst nicht mit, aber es gehörte zum Programm. Wenn jemand etwas nicht erledigte oder scheiterte, schlief die Person etwa eine Woche lang auf dem Boden, oder duschte nur noch kalt.
Das Konzept des "Pfands" und der Strafe kam erst Jahre nach Edmonsons Beitritt bei Nxivm erstmals auf
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Mein Mann war Teil einer Männergruppe und hatte sich verpflichtet, eine gewisse Anzahl Männer anzuwerben. Wenn er es nicht schaffte, musste er die College-Jacke abgeben, die er als Quarterback des Footballteams getragen hatte. Bei den Frauen drehten sich die Strafen meist um die Kalorienzufuhr. Einmal bekam ich mit, dass eine Frau nur 300 Kalorien täglich aß, wegen irgendeiner Regelübertretung. Sie nahm nur Brei aus gefrorenen Zucchini und Tomateneintopf zu sich. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Aber ich war eine Anführerin, und als solche musste ich alle neuen Trainings mitmachen. Als diese Regeln eingeführt wurden, nahm ich für mich nur das mit, womit ich auch etwas anfangen konnte.Die Nacktfotos kamen erst später, als ich für die Geheimorganisation angeworben wurde. Lauren Salzman ist die Tochter der Präsidentin der Organisation. Sie kam vergangenen Januar nach Vancouver und wohnte damals bei mir. Lauren war wie meine beste Freundin. Sie war die erste Brautjungfer bei meiner Hochzeit – sie war es sogar, die uns auf der Feier traute. Sie ist die Patin unseres Sohns und damals vertraute ich mich ihr häufig an. Sie war meine Therapeutin. Lauren sagte bei ihrem Besuch: "Ich will dich zu einer großartigen Sache einladen, die dein Leben verändern wird. Es hat meins verändert wie noch nie etwas zuvor. Aber bevor ich dir davon erzähle, musst du mir etwas geben, das beweist, dass du niemals darüber reden wirst. Du musst nicht, du brauchst nicht Ja sagen, aber was auch immer du mir gibst, behalte ich für den Rest meines Lebens, damit das streng geheim bleibt."Ich fragte: "Was denn zum Beispiel?" Und sie sagte: "Ach, ich weiß nicht, ein Nacktfoto oder ein Familiengeheimnis oder so was." Ich sagte, ich würde ihr kein Nacktfoto geben. Mir war das furchtbar unangenehm. Wieder ein riesiges Warnsignal. Ich sprach es diesmal sogar an, und sie sagte: "Sehr gut. Es sollte etwas sein, wo dir beim bloßen Gedanken schon schlecht wird – so ist sicher, dass dein Versprechen etwas wert ist und dass du niemals darüber sprichst." Ich schrieb ihr einige Geheimnisse auf, doch die waren ihr nicht brisant genug. Also musste ich noch mehr Dinge aufschreiben, die ich getan hatte – in Wirklichkeit log ich, denn ich hatte gar nicht so viel auf dem Kerbholz.
Sie sollte Nacktfotos abgeben und ihre schlimmsten Geheimnisse verraten
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Der Geheimbund für Frauen sollte eine Organisation für das Gute sein
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Keith Raniere gab sich als eine Art Botschafter für Frauen aus
Vergangenen März flog ich von Vancouver nach Albany. Meine Initiation für die Geheimorganisation stand bevor – es sollte ein Tattoo sein, und ich wollte keines. Die Herrin-Sklavin-Beziehung war für mich schon sehr seltsam, aber das Tattoo machte mir wirklich Sorgen. Ich habe keine Tattoos und keine Piercings. Lauren sagte: "Daran arbeiten wir mit dir – du hast einfach ein paar Ängste." Sie brachte mich in ihr Gästezimmer und sagte, ich solle mich ausziehen und eine Augenbinde anlegen. Ich war verdutzt, aber sie sagte: "Tu es einfach. Du hast Gehorsam geschworen. Ich bin's doch, Sarah. Los, zieh dich einfach aus." Sie hatte mich schon nackt gesehen, also gab ich mir einen Ruck und tat es.Ich legte die Augenbinde an und hörte, das Menschen durchs Haus liefen. Ich wusste, dass die anderen Frauen noch kommen würden. Und dann waren da auf einmal vier von ihnen, die ich alle schon von Nxivm kannte. Aber nicht so gut – nackt hatte ich sie jedenfalls noch nicht gesehen. Und nun saßen wir da in dem Zimmer, im Schneidersitz, völlig entblößt und verletzlich. Wir fanden es alle seltsam, aber Lauren sagte: "Leute, beruhigt euch mal. Werdet mit euren Körperkomplexen fertig. Es ist keine große Sache. Wir sind eine Schwesternschaft. Entspannt euch." Alles wurde dermaßen normalisiert und kleingeredet. Und das ist einer der Knackpunkte: Wer in dieser Welt der Manipulation etwas unangenehm findet, hat einfach selbst Probleme. In einem solchen Klima kann man kaum noch sagen: "Hey, das hier ist nicht in Ordnung. Warum machen wir das?"
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