Günter Wallraff und Jan Stremmel im Interview
Alle Fotos: Philipp Sipos / VICE
Menschen

Hier diskutiert eine Reporter-Legende mit einem jungen Autor über Scheißjobs

Günter Wallraff, Undercover-Star, spricht mit Jan Stremmel, Autor des Reportagebuchs "Drecksarbeit", über Ausbeutung, Aneignung und Fridays for Future.

Wir treffen uns im Garten von Günter Wallraff in Köln, verhangener Spätsommer. Wallraff trägt eine Basecap und einen marineblauen Schal. Vor ihm liegt ein Buch: "Drecksarbeit" von Jan Stremmel. Eindringliche Reportagen, teilnehmende Beobachtungen. Stremmel, 36, hat als Kaffeepflücker in Kolumbien gearbeitet, als Textilfärber in Indien, als Köhler im paraguayischen Regenwald, als Rosenfarmer in Kenia. Günter Wallraff bekam das Buch in die Hände und es gefiel ihm sehr gut. 

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Als Undercover-Reporter erkundet Wallraff seit mehr als einem halben Jahrhundert die düstere Seite der Arbeitswelt. Für sein Buch "Ganz unten" schlüpfte er in die Rolle des Gastarbeiters Ali und arbeitete bei Thyssen. Das Buch wurde weltweit ein Bestseller, Wallraff zur Legende. Zum Warmwerden, sprechen wir übers Älterwerden und E-Bikes, Günter Wallraff wird nächstes Jahr 80. Er hatte vor zwei Jahren einen Fahrradunfall und trägt jetzt Titan im Bein. Erst konnte er sich nicht bewegen, jetzt fährt er wieder 50 Kilometer Rad. Auf einem richtigen Fahrrad. Nicht auf einem E-Bike.

VICE: Wenn du dieses Buch in den Händen hältst, dich an deine Einsätze bei Thyssen erinnerst, bei McDonalds, in der Brötchenfabrik, wie sehr erinnert dich das an Früher?
Günter Wallraff:
Sehr. Ich war ja in meinen Anfängen eher Regionalist, ich habe die Dinge in meiner Nähe erlebt und erlitten. Es war kein Zufall, dass meine erste Industriereportage von den Ford-Werken in Köln handelte, vom Fließband. Mein Vater hatte sich bei Ford die Gesundheit ruiniert. Als ich dort arbeiten wollte, waren die erstaunt. Ich wäre doch auf dem Gymnasium gewesen, warum nicht ein Bürojob? Die Globalisierung bedeutet ja, dass unsere Arbeitsverhältnisse international bestimmt sind. Die Schrecklichkeiten, von denen hier profitiert wird, werden nun in anderen Ländern erlitten. 

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Wallraff öffnet das Buch und blättert. Er lobt die Klarheit der Sprache und die Abwesenheit von Fremdwörtern. Der übertriebene Gebrauch von Fremdwörtern sei typisch für “Supergescheite, die sich in ihrer Gelehrsamkeit suhlen und sich über andere erheben wollten”, sagt Wallraff. Es sollte, sagt Wallraff, Schullektüre sein. 

Jan, du bist für dieses Buch über deine körperlichen Grenzen gegangen. Du hast dir in einer Textilfärberei in Indien die Füße verätzt. Wie sehr ist Wallraff in seiner Opferbereitschaft für dich ein Vorbild?
Jan Stremmel:
Wenn man in solchen Jobs arbeitet, dann bleibt es nicht aus, dass man sich körperlich abnutzt. Ich bin mit "Ganz unten" aufgewachsen. Als Zehnjähriger bekam ich das Buch in die Hände. Ich bin wahrscheinlich auch deshalb Journalist geworden. Ich will mir aber nicht anmaßen, für dieses Buch ähnliche Opfer gebracht zu haben wie Günter für seine Reportagen. Ich bin weit weniger tief in diese Jobs eingetaucht. Nicht undercover, sondern als ausländischer Reporter, mit Fernsehteam. 

Wallraff: Vielleicht könntest du mal irgendwo länger bleiben, mit versteckter Kamera. Als ich damals bei Thyssen gearbeitet habe, war die Technik noch nicht so weit. Da hatte ich eine große Arbeitstasche, in der das alles eingebaut war. Heute kann man eine Kamera im Knopfloch tragen. Ich habe damals immer überlegt, ob ich nicht doch Kollegen einweihen soll. Aber das hätte die Situation verfälscht.

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Wie haben deine Kollegen reagiert, als du dich als Reporter offenbart hast?
Wallraff:
Sehr positiv. Sie waren froh, dass sich mal einer für sie interessierte und ihre Leben thematisierte. Von den Konzernen aber wurde ich erstmal mit Prozessen überzogen. Körperlich hatte mich der Job sehr mitgenommen. Ich war hochtrainierter Läufer. Lief den Marathon in 2:50 Stunden. Danach war ich froh, wenn ich noch eine Viertelstunde am Stück laufen konnte. Meine Bronchien waren geschädigt. 

Jan, in deinem Buch schilderst du einen Besuch in Shenzhen bei der Smartphone-Produktion von Huawei. Man stellt dir ein Team zur Seite, das dir auf Schritt und Tritt folgt. Dir werden Menschen präsentiert, die in den höchsten Tönen von ihrer Arbeit sprechen. In einem unbeobachteten Moment gehst du aber in eine Fabrik und schaust dir an, wie es wirklich ist.
Stremmel:
Wenn man sich als Kamerateam anmeldet, wird leider vorher gefiltert, was man sehen darf. Es war völlig klar, dass wir überall nur die schönste Variante dieser Jobs zu sehen bekommen. Wenn wir in Paraguay die Herstellung von Grillkohle dokumentieren dürfen, dann ist das nicht die illegale Köhlerei, in der man den Urwald quasi direkt in den Ofen steckt. Wenn wir aber zwei Stunden weiter gefahren wären, hätten wir gesehen, wie indigene Menschen versklavt werden und der unberührte Trockenwald für unsere Grillbriketts verfeuert wird. Diese Verbrechen sind vielfach dokumentiert. 

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Anders in Shenzhen. Da habt ihr die wirklichen Drecksjobs gesehen.
Stremmel:
Da ist es uns gelungen, dass wir uns abseits der Pressetour eine Fabrik anschauen konnten. Allerdings mit einer kleinen Lüge. Wir haben behauptet, dass wir im Auftrag europäischer Hersteller auf der Suche nach Produktionsmöglichkeiten in China seien. Dann zeigte man uns – trotz unserer Kamera – Dinge, die jedem Arbeitsschutz zuwiderlaufen: Menschen, die ohne Handschuhe mit Giftstoffen hantieren, statt Atemschutzmasken mit einfacher Papiermaske im Gesicht. Wenn überhaupt.

"Jeder, selbst wenn er etwas unter den schrecklichsten Bedingungen herstellt, identifiziert sich mit seiner Arbeit, ist vielleicht sogar stolz."

Reizt dich die Vorstellung, dass du mit Wallraffs Methode noch mehr herausfinden könntest?
Stremmel:
Das reizt mich total. Es hätte aber eine ganz andere Herangehensweise erfordert. Und ehrlicherweise auch sehr viel mehr Zeit beansprucht. Günter, du hast ja Monate in diesen höllischen Bedingungen verbracht, die du beschreibst.

Wallraff: Meine Anfänge waren bescheidener als deine. Dein Stil erinnert mich stellenweise an Egon Erwin Kisch. Dem reichte es, eine Nacht im Obdachlosenheim zu übernachten, um eine brillante Reportage zu schreiben. In deinem Buch sind Momente, die haben sich bei mir eingebrannt.

Stremmel: Welche denn?

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Wallraff: Eine ganz erschütternde Szene. Als du in der Färberei arbeitest und wirklich fertig bist. Und dann erzählst du einem Arbeiter, dass diese T-Shirts in Deutschland nur zwei-, dreimal getragen werden. Und da ist der tieftraurig. Denn jeder, selbst wenn er etwas unter den schrecklichsten Bedingungen herstellt, identifiziert sich am Ende mit seiner Arbeit, ist vielleicht sogar stolz darauf. Das beschreibst du sehr eindringlich. Ich musste immer länger an einem Ort bleiben, komplett eintauchen. Am Ende träumte ich sogar in der neuen Identität. 

Stremmel: Ich finde faszinierend, wie tief du in deiner Rolle warst. Du hast in den Arbeiterkasernen übernachtet, bist in deiner Rolle ins Wirtshaus gegangen und wurdest dort angepöbelt. Das ist schwer zu vergleichen mit meiner Arbeit mit Filmteam. Ich habe das Privileg und auch den Nachteil, dass ich im Ausland klar als Fremder erkennbar bin. Ich kann kein Mandarin. Ich kann zwar Spanisch, sehe aber offensichtlich nicht aus wie ein indigener Paraguayer. 

Wallraff: Du könntest dich verändern, das ist das allereinfachste. Schwarze Haare, entsprechender Bart, Klamotten. Als Ali hatte ich eine Perücke, meinen Schnauzbart gefärbt und dunkle Kontaktlinsen. Die äußerliche Veränderung ist das geringste Problem..

Stremmel: Zum Chinesen wäre es vielleicht schwierig. Und ich könnte mir vorstellen, dass diese Art der Verkleidung heute heftige Kontroversen auslösen würde. 

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Günter, als du 2009 in der Rolle eines Somaliers in Deutschland unterwegs warst, um Rassismus zu entlarven, haben dich einige kritisiert. Der Vorwurf: Kulturelle Aneignung. Wie sehr traf dich die Kritik?
Wallraff:
Meine Methode ist nicht nur eine journalistische, sondern immer auch eine existentielle. Ich hatte schon als Kind eine Identitätsschwäche und fühlte mich als Nichtdazugehörender. Meine Rollen waren ein Weg, bei anderen Nichtdazugehörenden dazuzugehören. Nach Erscheinen von "Ganz unten" auch in der Türkei habe ich beim Justizminister darauf bestanden, dass ich Gefängnisse besuchen kann. Ich habe so für politische Gefangene in Einzelfällen Hafterleichterungen erreichen können und einen sogar rausgeholt. Ich bin heute noch Teil der türkischen Community. Ich sehe das als Verpflichtung. Ich fahre in die Türkei, besuche Prozesse, kümmere mich um Inhaftierte.

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Jan Stremmel zu Besuch bei Günter Wallraff in Köln

Stremmel: Du hast ein Bedürfnis, das weit über das journalistische Ethos hinausgeht. 

Wallraff: Ich fühle mich Menschen, die nicht dazugehören am ehesten zugehörig. Ich war mit Unterbrechungen ein Jahr lang als Obdachloser unterwegs und habe auch in Obdachlosenheimen übernachtet. Darf ich das denn? Ist das jetzt Aneignung? Ich konnte es nur so sichtbar machen. Das kann ich nicht delegieren. Soll ich da jemand anderen vorschicken? Ein guter Freund, der 25 Jahre auf der Straße gelebt hat, hat mich beraten. Richard Brox. Ich habe ihn nicht in die schlimmsten Heime mitgenommen, nicht in die kältesten Nächte. Das kannte er schon. Ich musste es noch kennenlernen. 

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Wolltest du auch mal abbrechen, weil das alles zu krass war?
Wallraff:
Als Ali gab es Situationen, da habe ich gezögert. Da war ich in geschlossenen, unterirdischen Räumen, wo wir ohne Maske den Staub quasi gefressen haben. Hätte ich aufgehört, wäre das gegenüber meinen Kollegen Verrat gewesen. Wenn mir das Recht der Teilnahme nun nachträglich bestritten wird von denen, die am Schreibtisch die Welt nur abstrakt betrachten, dann kann ich denen auch nicht helfen.

"Die Kritik prallt an mir ab. Mann kann gerne ein Berufsverbot für mich verhängen. Ich habe mich nie an Verbote gehalten."

Stremmel: Ich wurde kürzlich von einem ziemlich bekannten Instagram-Account eingeladen, mein Lieblingsbuch zu präsentieren. Sehr schöne Idee. Ich wollte dein Buch vorstellen, "Ganz unten", weil es mich sehr geprägt hat. Aber dann meinten die Kuratorinnen, sie hätten Bauchschmerzen, weil sie Günter Wallraff gegoogelt hätten – und man ihn dort in "Brown Face" sehe. Es könnte Gefühle verletzen, wenn ich das Buch vorstelle. Das fand ich grotesk. Eine dezidiert antirassistische Buchinitiative, die auf Diversität Wert legt, findet dein Werk nicht mehr präsentabel aus Angst vor verletzten Gefühlen. Völlig ignorierend, was deine Intention war: nämlich strukturellen Rassismus aufzudecken!  

Wallraff: Das sind Menschen, die die Welt sehr abstrakt betrachten. Ironie haben die in den seltensten Fällen. Die Rolle als Schwarzer ist zum Teil stark satirisch, aber nicht auf Kosten der Schwarzen, sondern auf Kosten der Rassisten. Das war kein Blackfacing. Ich hatte ursprünglich vor, ein Medikament zu nehmen, bei dem man unter Sonneneinstrahlung sehr dunkle Haut bekommt. Dann erfuhr ich aber, dass das krebserregend ist. Daraufhin habe ich eine Maskenbildnerin in Frankreich gefunden, die ein Sprühverfahren nutzt. 

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Wie funktioniert das?
Wallraff:
Da wird eine nicht wasserlösliche Chemikalie sehr tief auf die Haut gesprüht. Da kann man mit duschen und schlafen. Blackfacing war hingegen eine Methode in den USA, bei der sich weiße Komödianten schwarz anpinselten und sich auf Kosten Schwarzer lustig machen. Was ich gemacht habe, war das Gegenteil. Ich habe in Asylheimen gelebt. Ich bekam damals sehr viele positive Zuschriften von Schwarzen, nicht nur aus Deutschland. Was man darf und was man nicht darf, sollten nicht Funktionäre bestimmen. Im Moment hat sich ideologisch etwas verselbstständigt.

Stremmel: Die Nuancen gehen in der Debatte leider immer mehr verloren. Wenn sich jemand braun anmalt und auf einen Faschingsball geht wie Markus Söder, dann ist das was anderes, als wenn das jemand tut, um über Rassismus aufzuklären. 

Wallraff: Ich träumte in dieser Rolle und wechselte noch Monate danach die Straßenseite, wenn ich Glatzköpfen begegnete, obwohl ich längst wieder weiß war. Diese rein abstrakt-ideologisierte Kritik prallt an mir ab. Man kann ja gerne ein Berufsverbot verhängen. Ich habe mich nie an derartige Glaubenssätze und solche Verbote gehalten.

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Der Autor Jan Stremmel

Jan, du schilderst in deinem Buch, dass wir die Drecksarbeit aus unserer Wahrnehmung und unserem Gewissen wegglobalisiert haben. Das sogenannte Lieferkettengesetz soll das ändern. Erkläre doch mal, was das ist.
Stremmel:
Die Idee ist, dass ein Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen und auch für Umweltzerstörungen auf der gesamten Lieferkette verantwortlich ist. Viele Expertinnen und Ökonomen unterstützen das. Das Gesetz wurde aber durch extreme Lobbyarbeit und die jahrelange Blockade des CDU-geführten Wirtschaftsministeriums verwässert. Es tritt jetzt erst 2023 in Kraft und gilt zunächst nur für Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitern. Das ist also nur Make-up und löst das Problem nicht. 

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Wallraff: Wir leben zum Glück in einer Demokratie, die Öffentlichkeit ist der Sauerstoff der Demokratie. Bei "Ganz unten" gab es so viel Aufmerksamkeit, im Ruhrgebiet gab es lange Schlangen vor den Buchläden. Dann musste auch die Politik reagieren. Gegen Thyssen wurden Bußgelder in Millionenhöhe verhängt. Wenn die Verstöße aber in Indien oder Bangladesh passieren, dann ist das schwerer nachzuvollziehen. Aber das Bewusstsein ist da. Allein durch dieses Buch werden sich viele überlegen, wie sie anders konsumieren. Ich zum Beispiel habe nur drei Jeans. Das Oberteil, das ich trage, habe ich seit 30 Jahren. 

"Ich habe keinen Job erlebt, bei dem Menschen scheiße behandelt werden und die Natur gut."

Manche der Jobs, die du gemacht hast, haben mich überrascht. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass es Sandräuber gibt. 
Stremmel:
Gibt es, etwa auf den Kapverden. Der Sand ist dort fast verschwunden von den Stränden. Inzwischen graben die Sandräuber Flußbetten aus. Das ist eine sehr drastische Folge des Baubooms der letzten Jahre. In Entwicklungsländern wird plötzlich massiv gebaut, was ja erstmal gut ist. Aber in einer Art, die nicht nachhaltig ist. Nämlich mit Stahlbeton, der zu Dreivierteln aus Sand besteht. Deswegen wird in armen Ländern Sand zum Rohstoff, der dann von den Ärmsten gesammelt und verkauft wird. Auf den Kapverden liegen die Touristen auf der einen Seite am Strand vor den frischgebauten Hotels. Und auf der anderen Seite steigen alleinerziehende Mütter nachts mit Eimern ins Wasser, um Sand zu klauen.

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Wallraff: Das ist eine sehr überzeugende Reportage, weil eigentlich jeder damit konfrontiert wird. Selbst auf Lanzarote werden künstliche Strände angelegt mit Sand, der an anderer Stelle abgebaut wird. Das Gruseligste ist, dass Massen an Sand nach Dubai verschifft werden und dort eine Kunstwelt entsteht für die Superreichen. 

Dein Buch beschreibt sehr gut, dass die Ausbeutung der Menschen und die Ausbeutung der Natur sehr oft Hand in Hand gehen.
Stremmel:
Ich habe keinen Job erlebt, bei dem Menschen scheiße behandelt werden und die Natur gut. Da muss wirklich ein Umdenken stattfinden, wenn wir diesen Planeten länger bewohnen wollen als bis zur übernächsten Generation. Man redet seit einiger Zeit sehr viel über den klimatischen Fußabdruck der Menschen im Westen. Aber leider nicht so oft über den sozialen Fußabdruck. 

Woran liegt das?
Stremmel:
Das Klima treibt junge Menschen auf die Straße, die Ausbeutung aber nicht. Vielleicht ist die Ausbeutung nicht so spürbar wie ein trockener Sommer, in dem alle Bäume viel zu früh ihre Blätter verlieren, die Badeseen umkippen und Südeuropa in Flammen steht. Die Hundertmillionen geknechteten Arbeiter im globalen Süden schreien halt nicht so laut, dass man sie hier hört. 

Wallraff: Du bringst es auf den Punkt. Dazu kommt, dass die Sprecherinnen der Klimaaktivisten aus akademischen Elternhäusern stammen. Wir leben fast in einer Kastengesellschaft. Man bleibt unter sich. Diejenigen, die sich ehrenwert und vorbildlich für das Klima einsetzen, haben oft nicht so sehr das Gespür für Arbeits-Unrecht und Prekariat. Weil sie häufig aus bessergestellten Familien kommen und die eigene Erfahrung noch fehlt.

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Günter Wallraff hat nur drei Hosen

Du schilderst in deinem Buch auch positive Beispiele des Welthandels. Da gibt es die Fair-Trade-Rosenfarm in Kenia mit Krankenstationen für Arbeiter. 
Stremmel:
Ich war sehr froh, dass ich zur Abwechslung mal einen Ort gefunden habe, an dem nicht alles düster ist. Die Rosenfarm ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir als Konsumenten die Macht haben, Dinge zu beeinflussen. Ein Euro macht einen Unterschied. Anna, die Frau, die ich begleitet habe, hat es gut im Gegensatz zu ihrer Nachbarin, die in einer konventionellen Rosenfarm arbeitet. Anna wird morgens mit dem Bus abgeholt, abends nach Hause gebracht. Ihre Kinder bekommen über einen Kredit die Schulgebühren bezahlt. Das alles über ein Fairtrade-Zertifikat, das für uns einen kaum zu spürenden Preisaufschlag bedeutet. 

Unterschätzen wir die Macht der Konsumenten?
Stremmel:
Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass unser Geldbeutel wie ein Wahlzettel ist. Bei jedem Kauf stimmen wir darüber ab, welche Art von Wirtschaften sich durchsetzt. Unternehmen müssten deshalb sehr viel klarer machen, unter welchen Umständen sie ihre Produkte herstellen. 

Als der Blumenkonsum in Europa durch Corona einbrach, verloren Menschen auf der kenianischen Rosenfarm, bei der du warst, ihren Job. Es starben Arbeiter, weil sie Angeln gingen und von Nilpferden angegriffen wurden.
Stremmel:
Der Schmetterlingseffekt. Ein Flügelschlag hier löst woanders einen Orkan aus. Im Mai 2020 wurden im Ort der Blumenfarmen innerhalb eine einzigen Woche drei Menschen von Nilpferden getötet. Weil sie Hunger hatten, weil Europa plötzlich keine Rosen mehr importierte. Alles ist mit allem verbunden. 

Günter, du hast ein halbes Jahrhundert als Undercover-Reporter Missstände aufgedeckt. Wie sieht es mit Nachfolgern aus?
Wallraff:
Es gibt sie schon: In Italien zum Beispiel Fabrizio Gatti, in Mexiko Lydia Cacho, in Ghana Anas Aremeyaw Anas. Sie haben sich auch durch persönliche Begegnungen von mir inspirieren lassen und mich zum Vorbild genommen. So sind sie auch für mich zu Vorbildern geworden. Jan, ich glaube: Du hast das Talent. Du müsstest nur einiges hinter dir lassen.

“Drecksarbeit. Geschichten aus dem Maschinenraum unseres bequemen Lebens” ist im Knesebeck-Verlag erschienen und kostet 22 Euro.

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