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Brudermord in der JVA Tegel

In der Justizvollzugsanstalt Tegel werden Mörder zu Schauspielern, die passenderweise Mörder spielen.

Entlang der gewaltigen Wand der JVA Tegel, dem größten Gefängnis Deutschlands mit geschlossenem Vollzug, laufe ich durch eine Gasse bis zum versteckten Seiteneingang. Durch eine schwere Metalltür geht es in den gesicherten Eingangsbereich. Der Personalausweis wird kontrolliert und gegen eine Besucherkarte ausgetauscht. Securitycheck, Sicherheitshinweise. Dinge, die man mit reinnehmen möchte, müssen vorher angemeldet werden: Eine Flasche Wasser, ein Stift und ein Schreibblock wurden mir genehmigt. Alles andere wird in Schließfächern verwahrt. Dann geht es weiter durch eine Schleuse in das Innere des Gefängnisses.
In den nächsten vier Stunden finden hier im Gefängnishof die Proben des Knasttheaters „aufBruch“ statt. Seit 15 Jahren inszeniert das Team von aufBruch jeden Sommer ein Stück in der JVA Tegel, in diesem Jahr wird die biblische Geschichte über den Brudermord von Kain und Abel aufgeführt. Die Darsteller sind Häftlinge.

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Acht Wochen wird von Montag bis Freitag geprobt. Die Mitarbeiter von aufBruch kommen dafür täglich in den Knast. Der Ort ist das Sujet und das macht den Reiz des Gefängnisses als Austragungsstätte von Theaterstücken aus. Jeder Gefangene hat seine Biografie, sein Timbre und seine Stimme, die er in das Stück mit einbringt. Regisseur Peter Atanassow will all diese Stimmen in einen Rhythmus bringen.
Der Treffpunkt mit den Insassen ist der sogenannte „Kultursaal“ der JVA, eine schäbige Halle mit vergitterten Fenstern. Die 24 Häftlinge, die an dem Theaterstück mitwirken, werden von Gefängniswärtern zum Saal gebracht. Alle stellen sich persönlich vor, Hände werden geschüttelt. Viele tragen noch ihre Arbeitsklamotten, schwarze feste Lederstiefel und eine blaue Latzhose. Es sind Männer zwischen 20 und 75 Jahren, die eine Menge zu erzählen haben.

Die Proben beginnen mit Gesang. In zwei Reihen aufgestellt singen die Männer aus voller Kehle und füllen den Raum mit einem russischen Volkslied. Ein 60-jähriger Insasse steht an der Seite des Chors und tanzt heiter, während er singt. Er möchte Dr. Zigic genannt werden, trägt einen grauen Jogginganzug und wird während der gesamten Proben seine Lidl-Tüte nicht aus der Hand legen. Dr. Zigic spielt Gott—darauf ist er ziemlich stolz. Er spricht mit Akzent und viel Melodie: „Im Knast gehst du kaputt. Ich habe viel gesehen, es gibt kein Fairplay. Nirgends. Hier drin stehen die Chancen schlecht, sich gesund zu entwickeln.“ Als Einziger will er nicht darüber reden, was er verbrochen hat. Mittlerweile sitzt er zum dritten Mal für mehrere Jahre hinter Gittern. Die Proben gehen im Innenhof weiter, in der Mitte steht die Bühne umgeben von roten Backsteinhäusern, in denen sich die Zellen der Häftlinge befinden. An den Fenstergittern hängt Wäsche zum Trocken. Männer kucken raus, manche brüllen hämisch zu den Darstellern, doch die lassen sich nicht beirren. Für fast alle Akteure hat die Auseinandersetzung mit den Bühnenstücken eine therapeutischen Wirkung. Als Kunstform gibt das Theater Anstoß, über gesellschaftliche und soziale Probleme nachzudenken und sie besser zu verstehen. Zuschauer sowie Darsteller können sich selbst und ihr Bild von der Welt reflektieren. Mit dem aktuellen Stück aus dem Alten Testament können sich alle mitwirkenden Insassen identifizieren. Es geht um Benachteiligung, Neid, ein Verbrechen und die anschließende Bestrafung. Kain ist neidisch, dass sein Bruder Abel von Gott bevorzugt wird. Darum tötet er ihn und verstößt damit gegen Gottes Gebot. Vertrieben und heimatlos wird er zum Städtegründer und schließlich zum modernen Menschen.

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Auch Volker Ullmann sitzt wegen Mordes. Er hat vor 13 Jahren seine Frau umgebracht, sein Urteil: lebenslänglich. Es war eine Handlung im Affekt, erklärt der 48-jährige: „Wir haben uns heftig gestritten, dann kam eins zum anderen …“ Volker spricht ruhig und deutlich, die Therapie hat ihm geholfen, alles zu verarbeiten. Heute kann er seine Tat eingestehen und darüber sprechen. Bis zu dem Tag, an dem bei ihm alle Sicherungen durchbrannten, war er ein unbescholtener Mann und Chef einer Tischlerei mit 20 Angestellten. Seine Frau hat die Buchhaltung geführt, eine kleine Tochter hatten die beiden auch. Heute ist die Tochter 19 Jahre alt, sie wuchs bei ihrer Großmutter auf, Volker hat kein Kontakt zu ihr. Außer einmal, das war letztes Jahr im Sommer, da saß sie plötzlich im Publikum: „Ich habe sie sofort erkannt. Nach all den Jahren wusste ich gleich, das ist meine Tochter.“ Es war ein Schock für Volker, er wollte nicht mehr spielen, hinter der Bühne wurde er vom Team beruhigt und aufgebaut. Nach der Vorführung nahm ihn seine Psychologin an die Hand, um gemeinsam zu seiner Tochter zu gehen. Sie kuckte nur kurz zurück und ist durch das Gefängnistor verschwunden. „Sie wollte mich sehen, aber nicht mit mir reden.“ Zur Zeit wartet Volker auf sein kriminologisches Gutachten. Wenn alles gut für ihn läuft, kann er in zwei Jahren das Gefängnis verlassen, nach 15 Jahren.

Plötzlich ertönen Sirenen, Anstaltsalarm. Alle packen ihre Drehbücher und hasten zurück ins Gebäude. Es ist verboten, sich bei Anstaltsalarm draußen oder in den Gängen zu bewegen. Während der Unterbrechung erzählen mir einige Häftlinge von ihrem Alltag in dem Gefängnis. Viele gehen täglich in einem der 16 JVA-Betriebe arbeiten, zum Beispiel in der Schlosserei, im Elektrobetrieb, der Bäckerei und im Bauhof. Sladjan Stanojevic stellt Verkleidungen von Waschmaschinen her, außerdem beginnt er im Sommer seine mittlere Reife per Fernstudium. Wegen gewerbsmäßigen Diebstahls und Betruges sitzt er zwei Jahre. Danach möchte der 25-Jährige zu seinem Bruder nach London ziehen und Musik machen. Hier singt er in der „Jail House Band“. Die Musik hat ihm geholfen, mit dem Knast-Schock klarzukommen. „Der Gedanke, weggesperrt und unfrei zu sein, hat mich tief erschüttert und heftige Depressionen ausgelöst.“
Über 1500 Männer sitzen in den sechs Teilanstalten der JVA, in jeder Teilanstalt herrschen andere Haftbedingungen. In manchen Häusern hat man klare Vorteile und mehr Freiheiten. Das soll die Insassen anspornen—sie können in der Hierarchie auf- und absteigen.
Das Gerücht, dass man im Gefängnis leichter an Drogen kommt als in der Berliner Hasenheide, bestätigen die Männer übrigens auch. Kokain, Gras, Heroin—alles wird reingeschmuggelt. Das übernehmen nicht selten die Anwälte der Häftlinge persönlich und beteiligen sich damit an dem lukrativen Geschäft. Nach einer halben Stunde ist der Alarm vorbei, es geht wieder raus. Während der Proben ist der Umgang untereinander sehr kollegial—trotzdem, zwischen den Häftlingen kommt es gelegentlich zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Generell herrscht das Prinzip, sich selbst der Nächste zu sein, erzählt Volker. In qualvoller Arbeit hat er es geschafft, Freundschaften aus seinem Leben vor der Haft zu erhalten. Tatsächlich wollte er alle Verbindungen nach draußen kappen, sich mit niemanden auseinandersetzen. „Wie sollte ich auch dieses Verbrechen erklären?“ Doch seine Freunde ließen ihn nicht in Ruhe, sie wollten Antworten, sie wollten ihn verstehen. „Es war ein schmerzhafter Weg, aber auch unsagbar heilend.“ Inzwischen besuchen ihn seine Freunde häufig, natürlich auch zu den Theatervorstellungen.

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Fotos: Thomas Aurin

KAIN UND ABEL
Aufführungen im Juni und Juli 2012, Freiluftgefangenentheater in der JVA Tegel
Regie: Peter Atanassow
Karten http://www.gefaengnistheater.de/aufbruch/


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