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Soziale Medien

Selbstverletzung statt Selfies – wenn Instagram lebensgefährlich wird

Insbesondere Teenager nutzen soziale Medien, um selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen zu glorifizieren. Eine gefährliche Entwicklung.
Foto: Free-Photos | Pixabay | CC0 [ Symbolfoto]

Instagram gilt als Inspirationsquelle für ein besseres Leben, ein Ort, der dem Schönen, Erstrebenswerten gewidmet ist. Gleichzeitig ist die Plattform allerdings auch zu einer Anlaufstelle für Leute geworden, die eine Inspiration der anderen Art suchen – und Mediziner und die Techbranche damit ziemlich nervös machen.

Nach Fotos von Selbstverletzung zu suchen, ist auf Instagram verstörend einfach. Wer nach Worten wie #selfharm oder #cutting in verschiedensten Variationen sucht, stößt ziemlich schnell auf Profile, die selbstverletzendes Verhalten glorifizieren. Auch auf anderen sozialen Netzwerken gibt es viele solcher Fotos. Eine neue Studie, die sich die Inhalte unter dem Hashtag #cutting auf Twitter, Instagram und Tumblr genauer angesehen hat, stellte allerdings fest: Die Seite, die für ihre Selfies, Essensfotos und Filter bekannt wurde, hat auch eine dunkle Seite – und hostet die meisten Selbstverletzungsbilder.

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Soziale Medien beschäftigen sich seit Jahren mit der Frage, wie man am Besten mit Teenagern umgeht, die Fotos zu selbstverletzendem Verhalten hochladen. Sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen ist auch deshalb so wichtig, weil Personen eher dazu neigen, sich selbst zu verletzen, wenn sie sehen, dass einer ihrer engen Bekannten es auch tut. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie, die im vergangenen Jahr im Journal of Abnormal Psychology veröffentlicht wurde. Dieselbe Untersuchung fand auch heraus, dass viele, die sich später selbst verletzten, zuerst von einem Freund oder einer Freundin davon gehört hatten.

Den meisten Erhebungen zufolge, ist selbstverletzendes Verhalten vor allem unter Heranwachsenden verbreitet. Forscherinnen und Forscher glauben, dass weltweit 14 bis 26 Prozent der jungen Menschen Hand an sich selbst legen. Eine britische Hilfsorganisation fand heraus, dass zwischen 2015 und 2016 18.778 Minderjährige im Alter zwischen 11 und 18 Jahren in Krankenhaus eingeliefert wurden, nachdem sie sich selbst verletzt hatten. Das waren 14 Prozent mehr als im vorherigen Jahr.

"Wenn nicht mehr nach einem Hashtag gesucht werden kann, schreiben sie das Wort eben bewusst falsch."

Instagram hat bereits Schritte unternommen, um Nutzer zu schützen. Die App führte 2016 eine Funktion ein, mit der Nutzer Selbstverletzungsposts ihrer Freunde und Freundinnen melden können. Zeitgleich arbeitet der Anbieter weltweit mit 40 Organisationen zusammen, die Unterstützung anbieten sollen. Wer jetzt nach dem Hashtag #cutting sucht, wird auf eine Seite mit telefonischen Beratungsangeboten weitergeleitet (die man allerdings einfach schließen kann, um sich die tatsächlichen Suchergebnisse anzugucken).

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In einem Statement gegenüber Broadly statuierte Instagram, "Diskussionen über selbstverletzendes Verhalten oder zwischen Personen, die ähnliche Probleme durchmachen mussten, ermöglichen" zu wollen. Gleichzeitig habe die Firma aber "keine Toleranz gegenüber Inhalten, die Nutzerinnen und Nutzer dazu aufrufen, sich selbst zu verletzen." Instagram verteidigte außerdem seinen Grundsatz, Inhalte nicht einfach zensieren zu wollen.

"Da das ein sehr komplexes Problem ist, wollen wir nicht einfach nur Inhalte entfernen oder es nicht mehr möglich machen, nach bestimmten Hashtags zu suchen", heißt es in dem Statement weiter. "Stattdessen wollen wir Tools bereitstellen, die Leute aufklären und mit Organisationen zusammenarbeiten, die sich mit mentaler Gesundheit beschäftigen."

Experten glauben, dass Instagram in einer Sackgasse steckt. Schließlich könne man sich nicht darauf verlassen, dass die Selbstverletzungs-Gruppen aufeinander Acht gäben. Gleichzeitig würde das Bannen von Worten nur kurzfristig gegen die Verbreitung der unerwünschten Inhalte helfen. "Wenn nicht mehr nach einem Hashtag gesucht werden kann, schreiben sie das Wort eben bewusst falsch oder fügen zusätzliche Buchstaben hinzu", sagt Professor Jonathan Comer, der leitende Forscher der Studie.

"Mir diese Bilder anzuschauen, hat mich ruhiger und gelassener gemacht. Es hat den Drang vermindert, mich zu schneiden."

Comer und andere Mitstreiter und Mitstreiterinnen regen Organisationen dazu an, dieselben Hashtags wie die sich selbst verletzenden Teenager zu nutzen, um die Betroffenen aufzuklären oder ihnen zu helfen. "Eine unserer Erkenntnisse war, wie außergewöhnlich selten diese Posts Hinweise dazu enthalten, an wen man sich wenden kann, wenn man sich selbst verletzt", erzählt er. "Das ist definitiv ein Bereich, in dem etwas getan werden muss."

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Eine andere Hoffnung ist, dass künstliche Intelligenz bald dazu in der Lage sein wird, potenziell selbstverletzendes oder suizidales Verhalten zu erkennen und den Betroffenen automatisch Hilfe zu senden. Facebook arbeitet bereits an einem Algorithmus, der problematische Worte oder Sätze erkennen kann. Eine Studie aus dem März dieses Jahres konnte zeigen, dass Maschinen mit 80- bis 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit voraussagen können, ob jemand versuchen wird, sich umzubringen. Die Voraussage, die bis zu zwei Jahre in die Zukunft reichen kann, wird aufgrund der medizinischen Vergangenheit getroffen – inklusive verschriebener Schmerzmittel und bisherigen Einweisungen in die Notaufnahme.


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Comer sagt, dass er bisher noch nichts davon gehört hat, dass Computern beigebracht wird, mögliche Gefahrenpotentiale auch anhand von Bildposts zu erkennen. Er hofft allerdings, dass dies in der Zukunft ebenfalls möglich sein wird. "Ich glaube, dass selbstverletzendes Verhalten ohne die Absicht, sich umzubringen, das nächste große Feld ist, in dem wir Fortschritte sehen werden. Allein schon, wenn ich mir anschaue, woran meine Kolleginnen und Kollegen in diesem Bereich gerade arbeiten", ist er überzeugt. "Explizitere Bilder [die nahelegen, dass sich jemand umbringen möchte] sind aber möglicherweise einfacher zu erkennen."

Wenn sich Menschen, die ähnliche psychologische Probleme haben zusammenschließen, ist das natürlich nicht zwingend etwas Schlechtes. Eine Meta-Studie, die 2015 veröffentlicht wurde, attestierte, dass es Betroffenen durchaus helfen kann, wenn sie sich mit anderen austauschen, die sich selbst verletzen. Einer der Befragten erklärte: "Mir diese Bilder anzuschauen, hat mich ruhiger und gelassener gemacht. Es hat den Drang vermindert, mich zu schneiden."

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Auch Comer glaubt, dass es einen positiven Effekt haben kann, sich mit anderen zusammenzutun. "Die Leute können sich gegenseitig dabei helfen, sich nicht selbst zu verletzen. Es gibt nichts, was klar zeigt, dass diese Gemeinschaften nur positive oder nur negative Auswirkungen hat. Die Grenzen verschwimmen."

Das Problem liegt für ihn viel mehr darin, dass Betroffene das Gefühl bekommen könnten, in einer Welt aus niemals endendem Schmerz zu leben, in dem Fotos der eigenen Verletzungen ein ähnliches soziales Phänomen sind wie Bilder des Mittagessens. "Wenn du nach diesen Dingen suchst, scheint es, als würdest du die überall finden können", sagt er. Das wiederum könne selbstverletzendes Verhalten als etwas „Normales" erscheinen lassen. "Es geht nicht nur darum, Teenagern zu sagen, dass sie solche Dinge nicht mehr posten sollen. Es geht darum, ihnen allgemein beizubringen, verantwortungsvollere Social-Media-Konsumenten zu sein."

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