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Mode

Die inspirierende Geschichte des echten "Golden Girls"

Irene Williams war eine der wenigen alleinlebenden Geschäftsfrauen ihrer Zeit. Weil ihr die Kleider in den Läden nicht gefielen, nähte sie sich einfach ihre eigenen – aus Handtüchern und Klodeckelüberzügen.
Alle Fotos und Briefe mit freundlicher Genehmigung von Eric Smith und dem Jüdischen Museum der FIU Florida

Eines Tages, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, rief Irene Williams den New Yorker Modedesigner Eric Smith an. "Hast du schon mal von einer Annie Leibovitz gehört?", fragte sie. Die Fotografin hatte sie auf der Lincoln Road in South Beach angehalten. Dort lebte Williams seit den 1960ern und nähte sich ihre Kleidung aus Toilettendeckel-Bezügen und anderen Materialien, die sie so fand. "[Leibovitz] hat mich gefragt, ob ich für sie Modell stehen will", erklärte Irene. "Tu es", rief Eric, "und zieh das Outfit an, das du aus den Pierre Cardin Vintage-Handtüchern gemacht hast, die ich dir gegeben habe!"

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Irene folgte seinem Rat. Als sie allerdings mitbekam, wie berühmt die Fotografin war, die sie da angesprochen hatte, weigerte sie sich, sich fotografieren zu lassen – außer, sie bekäme ein Honorar von umgerechnet rund 78 Euro. Die Fotografin war einverstanden. Das so entstandene Foto ist nun Teil der Ausstellung, die das Jüdische Museum von Florida zusammen mit der Florida International University organisiert hat.

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Irene Williams: Queen of Lincoln Road ehrt den 100. Geburtstag einer lokalen Ikone mit einer Dokumentation über ihr Leben, ausgewählten Stücken aus ihrer avantgardistischen Hutsammlung und unter anderem auch Beschwerdebriefen, die sie an Unternehmen geschickt hat. (An die Greyhound Lines-Busgesellschaft schrieb Irene mal erbost: "Der 'König der Straße' hat am vergangenen Unabhängigkeitstags-Wochenende auf der Busch Gardens/Cypress Gardens Strecke seine Krone verloren.")

Für viele Anwohner war die Ausstellung lange überfällig. Irene lief jahrzehntelang täglich über die Lincoln Road und wurde mit ihren selbstgemachten, schrillen Kleidern zu einem Wahrzeichen von South Beach. In den 1990ern war sie sogar eine regelrechte Touristenattraktion für homosexuelle Männer aus der ganzen Welt.


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"In der Schwulencommunity gab es in den 80ern und 90ern sehr viel Scham, ein regelrechtes Stigma. Jemanden zu sehen, der sich ganz alleine durchschlägt und dem es egal ist, was andere über ihn denken, war eine willkommene Abwechslung", erklärt Jackie Goldstein, die Kuratorin des Jüdischen Museums. Einer dieser schwulen Männer war Eric, der in den Wintermonaten seine Heimat New York gegen das wärmere Miami tauschte. Bewaffnet mit einer Kamera zog er durch South Beach, um Interessantes und Seltsames festzuhalten. Eines Tages, im Jahr 1994, traf er schließlich auf Irene. Wer war diese Frau, die selbst an heißen Tagen Fellhüte in Grün und Pink trug?

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Eric lud Irene zum Essen ein, die sich ihm als "Callgirl mit Schreibmaschine" vorstellte. Irene hielt sich mit einem Job als Stenografin über Wasser. An einem Ende der Lincoln Road befand sich ihr Büro, am anderen ihre kleine Ein-Zimmer-Wohnung. (Deswegen auch die täglichen Spaziergänge die komplette Straße entlang, für die sie schließlich berühmt wurde.) In ihrer Freizeit bastelte sie Kleidung aus Haushaltsgegenständen und reduzierten Stoffen. "Ich gebe nicht mehr als 100 US-Dollar im Jahr für Kleidung aus und schau, was ich alles mache!", soll Irene laut Eric stolz verkündet haben.

Der Designer und andere ihrer Fans hatten lange Schwierigkeiten, etwas über das Leben herauszufinden, das sie führte, bevor sie nach Miami kam. Irene selbst weigerte sich zu Lebzeiten beharrlich, etwas über ihre Vergangenheit zu verraten. Eric wusste nur, dass sie in den 60ern aus einem Strandort im US-Bundesstaat Massachusetts geflohen war und ohne Geld nach Miami kam. "Dort gab es nichts für sie außer Kälte", sagt Eric über ihre Zeit in New England. In Florida hingegen sei sie glücklich gewesen.

Um über die Runden zu kommen, arbeitete Irene in Hotels. Weil sie die Klamotten, die sie an anderen sah, hasste, brachte sie sich selbst das Nähen bei. Kleidung zu entwerfen machte ihr Spaß, sie hatte allerdings Angst, dass sie sich diese Freude nehmen würde, wenn sie ihr Hobby zu ihrem Beruf machte. Also lernte sie zu tippen und machte sich als Stenografin selbstständig.

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Als der Regisseur Orson Wells in South Beach war, nahm er ihre Dienste in Anspruch – reich wurde Irene allerdings trotzdem nie. Das Geld reichte, um sich eine winzige, pinke Wohnung zu leisten, deren Wände sie mit Hüten dekorierte, die sie in Plastik einwickelte. Irene sah sich als Pionierin und erklärte Eric einmal: "Du wirst niemanden treffen, der so etwas tut."

Für Jackie ist das keine Übertreibung. "Sie war weder verheiratet, noch hatte sie Kinder. Sie hat sich in einer Zeit selbst versorgt, in der das alles andere als normal war", sagt sie. "Damals gab es in Florida nicht viele Gloria Steinems. Es gab Frauen, die mit ihren Männern zusammengearbeitet haben."

Irene steht für das alte Miami, das viele von uns nur aus Serien wie Golden Girls kennen. Eine Zeit, in der es vor allem jüdisch-amerikanische Geschäftsleute und Rentner nach South Beach zog. "Sie war eine der letzten Mohikaner", ist Eric überzeugt. Die 1980er ersetzten die Älteren mit Kokain-Dealern und Clubgängern.

Irene arrangierte sich mit ihrem neuen Umfeld und bezeichnete sich selbst als lebende "Touristenattraktion". In den 90ern bekam die Hobby-Designerin trotz ihrem Ruf als Lokallegende allerdings Probleme. Die Menschen nutzten Computer, statt ihre Stenografie-Kenntnisse in Anspruch zu nehmen. Außerdem machte das Alter auch vor ihr nicht Halt und sie konnte nicht mehr ganz so mühelos ihre Straße entlang flanieren wie in den 70ern.

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"Sie wurde irrelevant", sagt Eric. "Doch auch wenn die letzten Jahre ihres Lebens nicht die Einfachsten waren, ist sie jeden Morgen aufgestanden und hat sich schick gemacht."

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Irene konnte ihre Rechnungen nicht mehr zahlen und verbrachte die letzten zwei Monate ihres Lebens in einem Altenheim. Einer ihrer Verwandten – der, wie Eric anmerkt, heterosexuell war – kam nach Miami und warf all ihre Kleider weg. Nur knapp 30 ihrer Hüte überlebten, die Irene Eric vererbte. Der wiederum vermachte sie an die Sammlung des Jüdischen Museums. "Es ist ihr Hundertjähriges, das wollte ich würdigen."

Jackie ist glücklich, die Stücke aufbewahren zu können. "Als ich das erste Mal die Geschichte von Irene Williams gehört habe, fand ich sie einfach nur fantastisch", erzählt sie. "Eine alleinlebende Frau, die sich ganz allein als Stenografin durchgesetzt hat und eine Szeneikone geworden ist. Sie hat die Kleidung, die sie gesehen hat, nicht gemocht – also hat sie einfach ihre eigene gemacht. So eine Kämpferin."

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