Von Streit zu sexuellem Missbrauch: Wenn Gewalt unter Geschwistern ausartet
All photos by Alison Winterroth via Stocksy

FYI.

This story is over 5 years old.

familie

Von Streit zu sexuellem Missbrauch: Wenn Gewalt unter Geschwistern ausartet

Die Beziehung zu unseren Geschwistern bestimmt unser Selbstwertgefühl, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unser gesamtes Weltbild—umso schlimmer ist es, dass Gewalt und Missbrauch unter Geschwistern noch immer als normal angesehen werden.

Als kleines Mädchen habe ich meinen älteren Bruder vergöttert—nicht, dass ich die Wahl gehabt hätte: Er war sechs Jahre älter als ich, irgendwann 1,98 Meter groß und überragte mich während meiner gesamten Jugend nicht nur körperlich, sondern auch intellektuell.

Er sagte mir, welche Musik ich hören sollte, welche Klamotten ich tragen sollte und welche Ideen die richtigen waren. Mein Selbstbild ruhte auf der Schneide seiner Zustimmung. Unsere Eltern haben uns mehr oder weniger uns selbst überlassen, was dazu führte, dass wir permanent um ihre Aufmerksamkeit kämpften. Sie hielten ihre eigenen Probleme wohl für wichtiger als unsere.

Anzeige

Das war der Beginn eines unentwegten Machtkampfes. Er hatte die Oberhand über mich und ich kämpfte darum, seine Ordnung zu untergraben. Wenn ich nicht tat, was er von mir verlangte, hatte das schmerzhafte Folgen—sowohl körperlicher als auch emotionaler Natur. An manchen Tagen blieb es dabei, dass wir uns beschimpften, an anderen Tagen waren wir komplett mit blauen Flecken übersät. Was all unsere Konflikte gemein hatten, war die ständige und andauernde Demütigung.

Mehr lesen: Wenn dein Vater versucht, mit deinen Freundinnen zu schlafen

Wir haben seit zehn Jahren nicht mehr miteinander gesprochen, trotzdem verfolgen mich die Sachen, die er mir damals gesagt hat, noch heute. Sie sind der Soundtrack, der meinen Selbsthass an den Tagen begleitet, an denen ich nicht die Kraft finde, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Abgesehen von Kain und Abel, den OGs der Geschwisterrivalitäten, wird in der zeitgenössischen Mainstream-Kultur kaum über den Missbrauch zwischen Geschwistern gesprochen und wenn, dann wird das Ganze oft als normale Rivalität zwischen Brüdern und notwendiger Bestandteil des Erwachsenwerdens dargestellt.

Klassische Floskeln wie „Jungs sind nunmal so" hält der klinische Therapeut Dr. John V. Caffaro, Forscher an der California School of Professional Psychology und Autor von Sibling Abuse Trauma, für bedenklich.

Die Verharmlosung dieser ganz speziellen Art des Missbrauchs führe zu einer größeren gesellschaftlichen Verleugnung von gewalttätigen Handlungen zwischen Brüdern und Schwestern. Das wiederum kann zur Folge haben, dass über die langfristigen körperlichen und emotionalen Schäden, die den Opfern zugefügt werden, einfach hinweggesehen wird. „In unserer Studie stellten wir fest, dass 30 Prozent der Missbrauchsfälle unter Geschwistern zwischen Jungen und Mädchen stattfindet", erklärt Caffaro und bezieht sich damit auf seine Forschungsarbeit „Treating Sibling-Abuse Families", die 2005 erschien.

Anzeige

Er war größer, stärker und fünf Jahre älter als ich—ich hatte keine Chance, mich zu wehren.

„Jungen nehmen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Rolle des Täters gegenüber jüngeren Brüdern und Schwestern ein, denen sie in der Entwicklung überlegen sind", sagt er.

Dieser Umstand hängt auch mit dem modernen Machtkampf der Geschlechter zusammen, weil Männer häufiger dahingehend sozialisiert werden, dass sie die Kontrolle übernehmen müssen, erklärt er. „Der Missbrauch eines jüngeren, verwundbareren Geschwisterkindes gibt dem älteren Bruder ein Gefühl von Macht."

Das war auch bei Catherine* der Fall. Die Finanzberaterin aus Melbourne hat seit mehr als 20 Jahren nicht mehr mit ihrem älteren Bruder gesprochen. „Ich habe einfach aufgehört, mit ihm zu reden", sagt sie. „Als ich noch jünger war, habe ich mir einfach einen anderen Bruder ausgedacht—einen, der cool, witzig und nett war. Mittlerweile bin ich froh, dass die Leute denken, ich wäre ein Einzelkind."

Catherine hat schon im Alter von sieben Jahren gelernt, sich aus dem Schwitzkasten ihres Bruder zu befreien. Während sich andere Kinder um Spielsachen, Klamotten oder die Fernbedienung gestritten haben, wurde sie regelmäßig geohrfeigt, getreten oder ins Gesicht geschlagen, wenn sie ihrem Bruder nicht gehorchte und ihre Eltern nicht hinsahen. „Es ging ganz klar um Macht", sagt sie. „Er war größer, stärker und fünf Jahre älter als ich—ich hatte keine Chance, mich zu wehren."

Anzeige

„Wenn ich es getan hätte, hätte das alles nur noch schlimmer gemacht."

Catherine ist heute 40 Jahre alt. Mittlerweile hat sie einen anderen Blick auf die Situation und sieht einen Zusammenhang zwischen den Launen ihres Vaters und denen ihres Bruders. Jedes Mal, wenn er bestraft oder geschlagen wurde, weil er beim Sport oder in der Schule schlecht abgeschnitten hat, wusste sie, dass sie als nächstes dran war—eine Vorgehensweise, die häufig von älteren Geschwistern übernommen wird, um das Machtgefälle in der Eltern-Kind-Beziehung auszugleichen, so Caffaro.

„Am schlimmsten war es, wenn er in mein Zimmer kam, ich gerade am Lernen war und er mich geschlagen oder geohrfeigt hat", erinnert sich Catherine. „Er drohte mir immer damit, dass er später wiederkommen und alles noch viel schlimmer machen würde, wenn ich einen Mucks von mir geben würde—und das meinte er ernst." Unter der Androhung von zusätzlicher Gewalt, lernte sie zu schweigen, um die brutalen Folgen auf ein Minimum zu reduzieren—ein Verhalten, das sie bis ins Erwachsenenleben verfolgt.

Catherine findet es auch heute noch extrem schwierig, mit Männern in emotionalen Auseinandersetzungen zu reden. „Ich schalte komplett ab, wenn die Situation zu angespannt wird", sagt sie. „Außerdem bin immer leicht paranoid, wenn mir ein Mann ein Kompliment macht. Meistens denke ich nur: ‚Okay, wo ist der Haken?' Ich warte immer darauf, dass er etwas Schreckliches sagt oder tut. Das ist wirklich schlimm."

Anzeige

Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.

Caffaro sagt, dass viele Menschen, die Opfer von Gewalt unter Geschwistern wurden, unter solchen Problemen leiden. Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit erhöhen nicht nur die Wahrscheinlichkeit an Depressionen und Angststörungen zu erkranken, sie bilden oft ein „einflussreiches negatives Muster für zwischenmenschliche Beziehungen." Das kann wiederum zur Folge haben, dass die Betroffenen unfähig oder nicht Willens sind, erwachsene Beziehungen zu führen.

„Gewalt zwischen Geschwistern formt die zwischenmenschlichen Beziehungen, das Selbstwertgefühl und das Weltbild eines Kindes als Erwachsener", sagt er. „Im Rahmen unserer Forschungsarbeit haben wir festgestellt, dass knapp 64 Prozent der Erwachsenen, die Opfer von Gewalt durch Geschwister wurden, nie geheiratet haben."

Dass Missbrauch unter Geschwistern so weit verbreitet ist und dabei so weitreichende Folgen hat, macht es umso wichtiger, dass darüber gesprochen wird—vor allem, wenn man bedenkt, dass die unkontrollierte körperliche und emotionale Gewalt oft in sexuellen Missbrauch ausartet.

Im Rahmen einer 2011 erschienen Studie wurden über acht Jahre lang Daten gesammelt, um die langfristigen psychologischen und sexualpsychologischen Folgen von sexuellem Missbrauch durch Geschwister zu analysieren. Dabei wurde festgestellt, dass Jungen 92 Prozent der Täter ausmachen und in 71 Prozent der Fälle Mädchen die Opfer waren. Allerdings ist es aufgrund der hohen Dunkelziffern schwierig, statistische Daten über Vergewaltigungen und Missbrauch zu sammeln—ganz besonders, wenn Kinder beteiligt sind.

Anzeige

„Kinder, die von einem Geschwisterkind missbraucht werden, stoßen, wenn sie über den Missbrauch sprechen wollen, oft auf dieselben Schwierigkeiten wie alle anderen Opfer von sexueller Gewalt", sagt Mary Stathopoulos, leitende Wissenschaftlerin am australischen Institut für Familienstudien und Autorin der Studie „Sibling Sexual Abuse".

Sie sagt, dass sich Kinder nicht immer bewusst sind, dass sie missbraucht wurden. Wenn sie sich dessen bewusst sind, hält sie meist die Angst vor Sanktionen davon ab, sich jemandem anzuvertrauen.

Zoë*, eine Grafikdesignerin aus Sydney, kann das bestätigen. Sie erzählt, dass ihr älterer Bruder sie lange Zeit über schwer körperlich missbraucht hat und die Gewalt irgendwann in sexuellen Missbrauch überging. Ihr Bruder war damals 16 Jahre alt, Zoë gerade einmal zehn. Sein Verhalten zerstörte Zoës Vorstellungen von Konsens und Vertrauen, verstärkte ihre emotionalen Ängste und machte sie noch verletzlicher.

„Er folterte mich und zerstörte mein Spielzeug, aber dann merkte er, dass er noch mehr machen könnte."

Wenn ich wollte, dass er mich in Ruhe lässt, musste ich tun, was er sagte. Wenn ich es nicht tat, brach die Hölle aus.

Zoë sagt, dass sich ihr Bruder meist in ihr Zimmer schlich, wenn sie schon schlief und sie dazu zwang, sexuelle Handlungen vorzunehmen. „Wenn ich wollte, dass er mich in Ruhe lässt, musste ich tun, was er sagte. Wenn ich es nicht tat, brach die Hölle aus." Das ging einige Jahre so. Jahre, in denen Zoë nachts oft wach lag und Probleme in der Schule hatte.

Anzeige

„Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. Deswegen habe ich nichts gesagt und es geheim gehalten", sagt sie.

Stathopoulos erklärt, dass dieses Verhalten sehr oft bei Opfern von sexuellem Missbrauch durch Geschwister beobachtet werden kann. „Scham und Schuldgefühle sind hierbei die maßgeblichen Hürden, die sie davon abhalten, sich jemandem anzuvertrauen. Viele Kinder haben Angst, dass es ihren Eltern, dem gewalttätigen Geschwisterkind oder beiden Schaden zufügen oder peinlich sein könnte, wenn sie sich ihren Eltern anvertrauen."

Erst als sich ihre Noten verschlechterten und sie in der Schule immer öfter auffällig wurde, begannen ihre Eltern die Veränderungen in ihrem Verhalten zu bemerken, sagt Zoë. Eines Tages, nachdem ein männlicher Klassenkamerad einen flapsigen Kommentar über ihre Kleidung gemacht hatte, rang ihn Zoë zu Boden und schlug auf ihn ein, bis ein Lehrer kam und die beiden trennte.

Aus Angst vor den Konsequenzen brach im Auto auf dem Weg nach Hause alles aus ihr heraus. Unter Tränen erzählte sie ihrer Mutter von dem Missbrauch.

„Meine Eltern waren schockiert", sagt sie. Sie waren allerdings auch skeptisch und zwangen sie, die Geschichte immer und immer wieder zu erzählen—ein Trauma, das die Situation nur noch schlimmer machte, weil es ihr das Gefühl gab, sie wäre nicht glaubwürdig. Ihr Bruder stritt am Anfang alles ab, bevor er schließlich zugab, was er getan hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der Schaden allerdings schon längst angerichtet.

Anzeige

„Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich dachte: ‚Warum haben sie mir nicht geglaubt?'"

Wenn Opfern von sexuellem Missbrauch nicht geglaubt wird, wenn sie sich jemandem anvertrauen, verstärkt das das Leid nur zusätzlich, sagt Stathopoulos. „Eine negative Reaktion, wie zum Beispiel, wenn einem nicht geglaubt wird, verschlimmert das Trauma in einer solchen Situation noch weiter—vor allem, wenn das Opfer noch immer in unmittelbarer Nähe des gewalttätigen Geschwisterkindes lebt."

Mehr lesen: Flucht vor Inzest und Gewalt—Aussteiger aus einer polygamen Sekte erzählen

Dass die Aggressionen ihres großen Bruders geleugnet und abgetan wurden, führten in Zoës Fall dazu, dass sie ihren eigenen Wert und ihr Selbstwertgefühl in Frage stellte. Sie bekam auch das Gefühl, dass die Reaktionen ganz anders gewesen wären, wenn sie von derselben Form von Missbrauch nur durch einen Elternteil oder einen Partner erzählt hätte. Selbst wenn sie Freunden heute von ihren Erlebnissen erzählt, ist die allgemeine Reaktion meist: „Es ist aber doch normal, dass Geschwistern kämpfen."

„Nicht so", antwortet sie dann meistens.

Zoë ist mittlerweile 25 Jahre alt. Sie hat sich mit ihrem Bruder zerstritten und versucht, ein lockeres Verhältnis zu ihren Eltern zu pflegen. Die Geschichten, die Freunde über ihre liebevollen, warmen Familien erzählen, kann sie nicht nachempfinden. Bei eigenen Familientreffen wie Hochzeiten, Zusammenkünften oder Abschlussfeiern zieht Zoë eine klare Linie.

„Ich gehe nirgendwohin, wo ich mit ihm sprechen müsste", sagt sie. „Das kann ich einfach nicht machen."


*Namen wurden geändert.

Titelfoto: kaboompics.com | Pexels | CC0