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LGBTQ

LGBTQ-Geburtskurse revolutionieren, was wir unter Mutterschaft verstehen

Die Berliner Hebamme Michèle Kretschel betreut vor allem "Regenbogenfamilien" und will mit dem Klischee aufräumen, wie eine perfekte Mutter auszusehen hat.
Foto: Imago | Geisser

Ganz egal, wie verschieden Familien auch sind – ein Gefühl verbindet wohl alle werdenden Eltern: Unsicherheit. Sie beginnt in der Schwangerschaft, erreicht ihren vorübergehenden Höhepunkt mit der Geburt und geht nahtlos ins Wochenbett über. Gerade dann ist es umso wichtiger, Menschen um sich zu haben, die dafür sorgen, dass man sich menschlich und medizinisch bestmöglich betreut fühlt, weiß Michèle Kretschel, die als Hebamme in Berlin vor allem LGBTQ-Familien betreut.

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Gemeinsam mit einigen Kolleg_innen organisiert sie sogenannte identitätssensible Geburtskurse, die sich vor allem an Menschen richten, die aus Angst vor Diskriminierung nicht mal eben in den nächsten Geburtskurs gehen zu können. Das können Menschen sein, die sich mit ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Orientierung weder in der Geschlechterbinarität noch in der Heterosexualität wiederfinden oder eben auch Eltern, die nicht dem Bild von einer "herkömmlichen Familie" entsprechen.

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Uns hat die Berliner Hebamme erklärt, wie wichtig ein Geburtskurs ist, der sich nicht nur an heteronormativen Standards orientiert und warum unsere Vorstellungen von Mutterschaft eigentlich ohnehin kaum zu erfüllen sind.

Broadly: Wie kamt ihr auf die Idee für diesen Kurs?
Michèle Kretschel: Zum Einen hatten einige der Hebammen, mit denen ich zusammenarbeite, und ich das Gefühl, dass wir gerne an den Rändern des Heteronormativen arbeiten würden – auch, weil sich einige von uns selbst nicht unbedingt darin wiederfinden. Ich habe mich als lesbische Frau im Ausbildungskontext und während meiner beruflichen Laufbahn auch manchmal marginalisiert gefühlt und mich selbst oft gefragt, welche Rolle meine eigene Identität in meiner Arbeit spielt. Das hatte auch damit zu tun, dass ich als Hebamme oft gefragt wurde, wie ich lebe, und ob ich einen Freund oder Kinder habe. Ich wurde ständig mit einer Outing-Situation konfrontiert – entweder im Kollegium oder durch die Familien, die ich betreut habe. Dabei ist es schön, wenn die eigene Identität auch in der Arbeit ihren Platz findet.

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Der andere Grund, warum wir einen Kurs für LGBTQI und nicht binäre Identitäten beziehungsweise Lebensweisen anbieten wollten, war auch einfach die Nachfrage. Schwangere haben sich an uns gewandt, weil sie das Gefühl hatten, dass sie nicht einfach in den Geburtsvorbereitungskurs "um die Ecke" gehen können. Sie hatten Angst, Diskriminierungserfahrungen machen zu müssen.


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Was lernt man in eurem Kurs, was man in anderen Kursen nicht lernt?
Inhaltlich gibt es eigentlich keine Unterschiede. Bei uns kann aber zum Beispiel mehr als eine Begleitperson mitgebracht werden, was sonst nicht üblich ist. Wir machen das, weil wir sehen, dass Menschen nicht einfach nur als Paar ein Kind bekommen, sondern in unterschiedlichsten Konstellationen. Seien das nun Mehrelternfamilien oder Leute, die gemeinsam ein Kind erwarten, sich aber gar nicht in einer romantischen Beziehung befinden – beispielsweise eine lesbische Frau mit einem schwulen besten Freund. Es ist wichtig, nicht schon von vornherein eine Norm zu reproduzieren, die sagt, dass man nur in einer klassischen Zweierbeziehung ein Kind bekommen kann.

Wir gehen am Anfang des Kurses immer die Körperteile durch, schlagen Bezeichnungen vor, nehmen Vorschläge auf und gehen auf Wörter und Begriffe ein, die in der Gruppe kursieren. Anschließend versuchen wir uns auf das zu einigen, was für alle angenehm ist. Außerdem sprechen wir unsere Pronomen ab und reden darüber, wie wir angesprochen werden wollen.

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Außerdem sollen die Teilnehmer_innen Raum bekommen, um über Diskriminierungserfahrungen zu sprechen, die sie im Verlauf ihrer Schwangerschaft erlebt haben. Um eine angenehme Atmosphäre für die Teilnehmer_innen zu schaffen, ist dabei das Wichtigste, keine dummen Fragen zu stellen. Man sollte niemanden dazu zwingen, nochmal zu erklären, wonach sie auch sonst immer wieder gefragt werden. Dazu gehört auch, dass wir uns selbst reflektieren und fragen: "Muss ich das wirklich wissen, um den Kurs machen zu können oder ist das nur meine eigene Neugierde?"

"Wir gehen von einem Prototyp Frau, Schwangerschaft und Mutterschaft aus, den kaum jemand erfüllt."

Von welchen negativen Erfahrungen erzählen die Menschen in eurem Kurs?
Das ist schwierig wiederzugeben, weil ihre Erfahrungen ja nicht meine sind. Ich kann allerdings erzählen, was ich selbst in der Hinsicht erlebt habe – insbesondere bei meiner Arbeit in der Klinik. Im Klinikalltag ist grundsätzlich alles, was von der Routine abweicht, erst einmal schwierig und kann den reibungslosen Ablauf auf Station oder im Kreißsaal verkomplizieren. Das kann jemand sein, dessen sexuelle Orientierung für das Personal ungewöhnlich ist. Das kann aber auch jemand sein, der schlecht Deutsch spricht.

Letztendlich kann all das dazu führen, dass diese Patient_innen gemieden werden, manchmal mündet das aber auch in homophoben oder fremdenfeindlichen Äußerungen. Dass Kollegen zum Beispiel ganz klar äußern: "Ich möchte das nicht", "Ich finde das unnatürlich" oder "Sie können ja machen, was sie wollen, aber sie müssen ja nicht auch noch Kinder bekommen." Das sind Erfahrungen, die ich machen musste und ich gehe davon aus, dass das auch andere Menschen erleben.

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Foto: Markus Spiske raumrot.com | Pexels | CC0

Wie kann man dafür sorgen, dass solche Situationen seltener werden? Was müsste sich deiner Meinung nach im Umgang mit LGBTQ-Personen im medizinischen Umfeld ändern?
Ich würde mir wünschen, dass die Menschen von sich selbst ausgehen und sich vorstellen, wie sie sich fühlen würden, wenn sie irgendwo reinkommen und nicht verstanden oder anerkannt werden. Wenn man sich das einmal bewusst gemacht hat, ist es eigentlich ganz einfach, schließlich möchte niemand das Gefühl haben, weniger wert oder unangenehm zu sein. Jeder von uns wünscht sich die menschlich und medizinisch bestmögliche Betreuung, welche natürlich nicht zu erreichen ist, wenn man den Kontakt zu der Personen meidet.

Am Schönsten wäre es aber natürlich, wenn man sich fragen würde, ob es tatsächlich immer das Beste ist, einfach nur blind für Verschiedenheiten zu sein – oder ob Menschen mehr davon profitieren würden, insofern unterschiedlich behandelt zu werden, als dass man ihre Unterschiedlichkeit anerkennt und nicht alle über einen Kamm schert. Es ist aber natürlich auch immer ein Balanceakt, keine diskriminierenden Kategorien zu reproduzieren.

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Unterscheiden sich die werdenden Eltern in eurem Kurs wirklich so sehr von klassisch heterosexuellen Vater-Mutter-Paare? Oder gibt es da doch große Gemeinsamkeiten, was Ängste und Wünsche angeht?
Das Allermeiste haben [werdende Eltern] natürlich gemeinsam. Die meisten von ihnen teilen – vor allem beim ersten Kind – ein Gefühl der Unsicherheit: Wie wird das alles werden? Was wird das für ein Mensch? Werde ich alles richtig machen? Werde ich in guten Händen sein? Werde ich von meinem Umfeld gehalten werden? Kann ich meinen Körper vertrauen? Das sind die Ängste und Sorgen, die wohl alle Menschen in dieser Situation teilen.

Bei LGBTQI-Personen wird dieses Vertrauen durch unsere heteronormative Gesellschaft oft in besonderem Maße untergraben. Dabei ist es die Grundlage für eine gute Geburt. Wenn man in einer so verletzlichen Phase durch sein Umfeld untergraben wird oder das Gefühl bekommt, eine schlechte Entscheidung getroffen zu haben, bringt das eine besondere Herausforderung mit sich. Wir haben gesellschaftlich einen ziemlich engen Rahmen, wem wir zugestehen, unter welchen Umständen und wie ein Kind zu bekommen. Letzten Endes gehen wir von einem Prototyp Frau, Schwangerschaft und Mutterschaft aus, den kaum jemand erfüllt.

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