Ein Familienfoto einer fünfköpfigen Familie, der Sohn ist der einzige mit Mund-Nasenbedeckung, die Reffitts wurden in den USA bekannt, weil der Sohn Jackson seinen Vater Guy beim FBI anzeigte.
Guy, Nicole, Jackson, Peyton und Sarah Reffitt bei einem Familienurlaub | Foto mit freundlicher Genehmigung von Nicole Reffitt
Politik

Sturm auf das Kapitol: Wie ein Sohn seinen Vater beim FBI verpfiff

"Wenn ihr mich ausliefert, seid ihr Verräter. Und ihr wisst, was mit Verrätern passiert … Verräter werden erschossen."

Am 5. Januar 2021 packte Guy Reffitt sein AR-15 Sturmgewehr und seine Smith & Wesson-Pistole ein, setzte sich in das Auto seiner Frau und fuhr 2.100 Kilometer von Wylie, Texas, nach Washington, D.C.

Am nächsten Tag besuchte Reffitt, Mitglied der texanischen "Three Percenter"-Miliz, Donald Trumps "Stop the Steal"-Kundgebung vor der Weißen Haus und marschierte mit der Menge zum US-Kapitol. Bei dem Sturm auf das Kongressgebäude soll er so vehement auf Polizeibeamte losgegangen sein, dass sie den Familienvater mit Geschossen und Pfefferspray zurückhalten mussten.

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Auf einem Video ist Reffitt auf dem Treppenaufgang an der Westfront des Kapitols zu sehen. Unter seiner blauen Jacke trägt er eine schusssichere Weste, auf seinem Kopf einen schwarzen Motorradhelm mit Kamera. Er hält seine Hand hoch, während ein Polizeibeamter ihm Pfefferspray ins Gesicht sprüht. Ein paar Augenblicke später sieht man Reffitt erschöpft, wie er seine Augen mit Wasser ausspült.

Als er nach Texas zurückkehrte, soll er laut Staatsanwalt zu seinem Sohn Jackson, 18, und seiner Tochter Peyton, 16, gesagt haben: "Wenn ihr mich ausliefert, seid ihr Verräter. Und ihr wisst, was mit Verrätern passiert … Verräter werden erschossen."

Was er nicht wusste: Sein Sohn hatte Guy Reffitt bereits dem FBI gemeldet.

Drei Videoausschnitte eines Mannes mit gerötetem Gesicht, der eine blaue Jacke, schusssichere Weste und schwarzen Helm trägt

Guy Reffitt in Kampfausrüstung am 6. Januar 2021 auf den Stufen zum US-Kapitol | Fotos: Department of Justice

Am 16. Januar 2021 tauchten Bundesbeamte vor dem Haus der Reffitts auf und nahmen den Familienvater fest. Ein gutes Jahr später wird sich Guy Reffitt nun vor Gericht wegen Angriffs auf einen Beamten der Kapitolpolizei, des Tragens einer Waffe auf Kapitolgelände und der Behinderung des Auszählungsprozesses verantworten müssen. Dazu wird ihm vorgeworfen, zwei seiner Kinder bedroht zu haben. Der Prozess ist für den 28. Februar angesetzt.

Bereits im Dezember 2020, einen Monat vor dem Sturm auf das Kapitol, hatte Sohn Jackson das FBI über seinen Vater informiert. Er war besorgt über dessen zunehmend radikale Rhetorik. Immer wieder habe Guy Reffitt angekündigt, dass er kurz davor sei, "etwas Großes" zu tun.

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"Ich war ohne Ende paranoid, weil mein Vater ständig zu Protesten ging und seine Waffen mitnahm. Und weil er ständig in Zeug involviert war, bei dem er nichts zu suchen hatte", sagt Jackson zu VICE. "Und das wäre wahrscheinlich immer schlimmer geworden, bis jemand in unser Haus eingebrochen wäre – oder er einen umgebracht hätte oder jemand ihn."

Jackson erfuhr davon, dass sein Vater am Kapitol war, als dieser anfing, Bilder von den Ausschreitungen in den Gruppenchat der Familie zu posten. Noch während er die Unruhen live vor dem Fernseher verfolgte, bekam Jackson einen Anruf vom FBI. Sie fragten, ob sein Vater am Kapitol sei. Jackson bejahte das.

"Wir sind ein bisschen kaputt"

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Ereignisse vom 6. Januar 2021 ist das größte Ermittlungsverfahren der Vereinigten Staaten in der US-Geschichte. Hunderte mutmaßliche Beteiligte konnten die Behörden durch Hinweise aus der Bevölkerung identifizieren. Sie kamen von Arbeitskollegen, Nachbarn, Ex-Partnern, aber auch von den Menschen, die den Täterinnen und Tätern am nächsten sind. In der Folge kam es in vielen Gemeinschaften und Familien zu tiefen Rissen.

Während Guy Reffitt in Untersuchungshaft auf seinen Prozess und eine potenziell mehrjährige Freiheitsstrafe wartet, liegt die ganze Last seiner Festnahme schwer auf seinen Kindern und seiner Frau Nicole. Sohn Jackson ist aus dem Familienhaus ausgezogen und hat fast jeden Kontakt abgebrochen. Seine kleine Schwestern Peyton, inzwischen 17, und Sarah, 24, sehen sich seitdem gezwungen, in den Medien und im Internet sowohl ihren Bruder als auch ihren Vater zu verteidigen. Seit die Umstände der Verhaftung des Familienvaters bekannt wurden, haben zahlreiche Plattformen über den Fall berichtet – und die Erzählung dabei oft so gedreht, wie es in ihre Agenda passt.

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zwei junge Frauen mit braunen Haaren und eine Frau mittleren Alters, alle drei tragen orangene T-Shirts mit der Aufschrift "Political Prisoner"

Peyton, Sarah und Nicole Reffitt mit #FreeGuyreffitt T-Shirts | Foto mit freundlicher Genehmigung von Nicole Reffitt

Für Jackson ist die Sache dennoch einfach: Er glaubt weiterhin, dass das, was sein Vater getan hat, falsch war, und dass er mit seinem Hinweis das Richtige getan hat. "Ich denke, die Beweise gegen ihn sind erdrückend. Ich finde ernsthaft, dass er eine Einigung mit dem Gericht treffen sollte, um meiner Familie monatelangen Stress zu ersparen", sagt er.

Nur einmal habe Jackson seine Entscheidung in den vergangenen zwölf Monaten hinterfragt. Das war, als er einen Brief las, den sein Vater aus dem Gefängnis geschrieben hatte und der anschließend von der Plattform ProPublica veröffentlicht wurde. In dem Brief schreibt Reffitt, dass er sich mit anderen Randalierern zusammengetan habe. Wenn sie wirklich vorgehabt hätten, die Regierung zu stürzen, hätten sie das auch geschafft.

Der Brief habe in ihm die Befürchtung verstärkt, sagt Jackson, dass sein Vater sich im Gefängnis weiter radikalisiert. "Es war ziemlich widerlich, das zu lesen. Das ist richtiges Psycho-Zeug. Ernsthaft, da habe ich mich dann doch schlecht gefühlt, weil ich das Gefühl hatte, ihn in eine noch extremere Richtung gedrängt zu haben. Ich habe ihn quasi dazu gebracht, sich noch mehr für das zu begeistern, was er getan hat." 

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Für Nicole, Sarah und Peyton ist die Situation weitaus komplizierter: Ihre Meinungen gehen auseinander, trotzdem versuchen sie, die Familie zusammenzuhalten.

Mutter Nicole unterstützt die Entscheidung ihres Mannes, am 6. Januar zum Kapitol zu marschieren. Für sie ist Guy ein politischer Gefangener. Ihr Mann habe die Waffen einfach bei sich gehabt, weil er sie immer auf Reisen mitnimmt, sagt sie. Aber sie liebe auch ihren Sohn und sei ihm nicht böse für das, was er getan hat.

Die Schwestern Sarah und Peyton hingegen unterstützen die Entscheidung ihres Vaters, zum Kapitol zu gehen, nicht. Aber sie finden auch nicht, dass er noch länger im Gefängnis sitzen sollte. Er habe schon genug Zeit hinter Gittern verbracht und sei entgegen der Aussage eines Richters keine Gefahr für die Gemeinschaft. Sie wollen auch, dass Jackson wieder Teil der Familie wird, sind aber der Meinung, dass es von ihm falsch war, ihren Vater zu verpfeifen

"Wir sind gerade alle ein bisschen kaputt", sagt Nicole zu VICE.

Familienfoto mit Vater, Mutter und drei Kindern

Ein altes Familienfoto der Reffitts mit Sarah, Guy, Nicole, Peyton und Jackson | Foto mit freundlicher Genehmigung von Nicole Reffitt

Peyton ist in der Regel einfach dankbar, es ohne größere Vorkommnisse durch den Tag zu schaffen. In ruhigen Momenten erinnert sie dann aber schnell wieder etwas daran, dass ihr Vater im Gefängnis sitzt und sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Bruder hat.

"Ich fühle mich, als wäre ich das Jahr über auf dem Boden liegend verblutet", sagt Peyton. "Jeden Tag fühle ich mich, als wäre ich immer wieder aufs Neue abgestochen worden. Wenn ich meine Augen schließe, ist es wie ein chronischer Schmerz. Ich denke jetzt so anders über unser Familienverhältnis als früher. Unsere Probleme sind einfach so stark geworden."

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Peyton, die gerade das letzte Jahr der Highschool besucht, musste wegen der Geschehnisse die Schule wechseln. Sie leidet unter Angststörungen und hat das Gefühl, mitten in einem Krieg der Wörter gefangen zu sein, der vom linken und rechten Ende des politischen Spektrums ausgetragen wird. 

In den Wochen nach dem Sturm auf das Kapitol wurden Peyton, Sarah, Jackson und ihre Mutter zum Zentrum eines Medienspektakels, nachdem bekannt geworden war, dass der eigene Sohn dem FBI den Hinweis gegeben hatte.

Die Linken feierten Jackson als Helden, die Rechten seinen Vater.

Die Schwestern Peyton und Sarah fanden sich in der Mitte wieder. Beide mussten sowohl ihren Vater als auch ihren Bruder gegen Online-Angriffe und Todesdrohungen verteidigen.

"In den sozialen Medien liest du Sachen wie 'Dein Bruder hat die Demokratie gerettet. Er ist ein Held' oder 'Dein Vater hat die Demokratie gerettet. Er ist ein Held'. Beides ist total falsch. In mir löst das nur den Wunsch aus, Kongressabgeordnete zu werden, wenn ich älter bin", sagt Peyton.

Erst Prahlerei, dann Paranoia

Die Reffitts waren bei Weitem nicht die einzige Familie, die durch den Sturm auf das Kapitol einen tiefen Riss bekam. Was die Familie erlebt hat, zeigt allerdings, wie sehr die Polarisierung der US-Politik nicht nur das ganze Land, sondern auch einzelne Familien spaltet.

Laut Gerichtsunterlagen soll Guy Reffitt seiner Familie bei seiner Rückkehr am 8. Januar gesagt haben, dass er nach Washington gegangen sei, "um das Land zu beschützen", dass er seine Waffen mitgenommen habe und dass er "das Kapitol gestürmt" habe.

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Er gab sogar zu, einen Teil des Geschehens mit seiner Kamera festgehalten zu haben, die er sich an dem Tag am Helm befestigt hatte.

Foto von einer blonden Frau, die nach rechts oben aus dem Bild schaut, und einem Mann, der eine Sonnenbrille über den Augenbrauen trägt

Nicole Reffitt und ihr Mann Guy Reffitt vor seiner Festnahme | Foto mit freundlicher Genehmigung von Nicole Reffitt

Tage später wurde aus den Prahlereien Paranoia, als das FBI begann, im ganzen Land nach Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Unruhen zu fahnden. Laut Staatsanwalt sagte Reffitt zu seiner Familie, dass er alles löschen müsse, da er jetzt vom FBI beobachtet werde.

Bald wurden die eigenen Kinder zum Ziel dieser Paranoia. Laut Gerichtsunterlagen sagte Vater Reffitt zu Jackson, dass er tun würde, "was er zu tun habe", falls sein Sohn ihn verpetzen würde. Als er sah, wie Peyton ihr Handy benutzte, soll er gedroht haben, eine Kugel durch das Smartphone zu jagen.

Ab dem 11. Januar seien die Drohungen immer expliziter worden, sagt Jackson: Guy habe gedroht, seine Kinder zu erschießen.

Fünf Tage später, am 16. Januar, wurde Guy Reffitt zu Hause verhaftet. Seit knapp einem Jahr befindet er sich in Untersuchungshaft und wird sich in fünf Anklagepunkten vor Gericht verantworten müssen.

Nach der Festnahme seines Vaters zog Jackson aus dem Elternhaus aus. "Ich wusste, dass ich irgendwann entweder rausgeschmissen oder rausgedrängt worden wäre."

Er habe das Verhältnis mit seiner Familie nicht unwiderruflich schädigen wollen. Er wolle seiner Familie die Gelegenheit geben, wieder zusammenzufinden, sobald das alles vorüber ist.

Peyton und Sarah sehen seinen Auszug etwas anders.

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"Er hat nicht versucht, uns irgendwie zu schützen – nicht mal emotional", sagt Sarah zu VICE. Ihr Bruder habe den FBI-Agenten gesagt, dass er sich um die Familie kümmern werde, aber das sei nie passiert.

Nach dem Auszug lebte Jackson ein paar Wochen bei seiner Freundin, bis die Drohungen gegen ihn so schlimm wurden, dass die Behörden eine Gefahr für sein Leben sahen und ihm rieten, für ein paar Wochen in ein Hotel zu ziehen.

Jackson tat die meisten Drohungen als "bescheuert und absolut wahnsinnig" ab, aber ein paar Leute schrieben ihm über mehrere Monate, selbst bis heute. Screenshots der Nachrichten liegen VICE vor.

Screenshot von IPhone-Nachrichten mit Drohungen und Beleidigungen

Ein Beispiel für die Nachrichten, die Jackson Reffitt in den vergangenen Monaten erhalten hat | Screenshot mit freundlicher Genehmigung von Jackson Reffitt

Schließlich fand Jackson seine eigene Wohnung. Leisten kann er sie sich aufgrund einer Crowdfunding-Kampagne. Er rief sie ins Leben, nachdem Menschen nach einem CNN-Interview gefragt hatten, wie sie ihm helfen könnten.

Bis heute hat die Kampagne über 150.000 US-Dollar eingenommen, umgerechnet etwa 132.000 Euro. Mit dem Geld finanziert Jackson auch sein Studium in Politikwissenschaften am lokalen Community College.

Seine Familie sagt, dass sie Jackson mehrmals um finanzielle Unterstützung gebeten habe, um die Kosten für die Miete oder Therapien zu decken. Er habe ihnen allerdings nie etwas gegeben. "Er hat quasi gesagt: 'Das ist ein GoFundMe, kein GoFundUS.' Das Geld müsse für ihn und die Dinge verwendet werden, die er in der Kampagne angekündigt hatte ", sagt Sarah.

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Nicole, Sarah und Peyton riefen daraufhin ihre eigene Crowdfunding-Kampagne ins Leben. Weil GoFundMe allerdings keine Familien von Menschen erlaubt, die durch eine Beteiligung am Sturm auf das Kapitol in Probleme gerieten, mussten die drei restlichen Reffitts auf die christliche Plattform GiveSendGo ausweichen. Bislang haben sie dort knapp 55.000 US-Dollar gesammelt, etwa 48.000 Euro.

Auch sie erhalten Drohungen von allen Seiten.

"Wir hatten eine Menge Todesdrohungen in der Post. Es ist schon etwas sehr anderes, Drohungen per Post zu bekommen. Man reagiert anders, wenn jemand es von Hand schreibt", sagt Sarah. "Jemand hat sogar ein Foto einer amerikanischen Flagge ausgemalt, über alles drübergeschmiert und dann geschrieben, mein Vater müsse hängen, bis er tot, tot, tot ist."

Auch wenn die Drohungen für alle Beteiligten verstörend sind, glauben Jackson und Peyton, dass ihnen das Schlimmste noch bevorsteht.

Der Prozess gegen Guy Reffitt ist für den 28. Februar angesetzt. Jackson wird an diesem Tag seinen Vater – und den Rest der Familie – zum ersten Mal seit seinem Auszug sehen. Als Zeuge. Seine Aussage könnte seinen Vater für lange Zeit ins Gefängnis bringen.

"Das wird beschissen", sagt Jackson "Wahrscheinlich wird er auch im Gerichtssaal sein, was richtig beschissen wird. Ihn einfach nur zu sehen, wird beschissen sein. Ich habe immer noch Schuldgefühle deswegen, aber es ist das Best-Case-Szenario."

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Auch Peyton wird gegen ihren Vater aussagen müssen und ihre frühere Aussage bestätigen. Sie hatte bereits zu Protokoll gegeben, dass ihr Vater gedroht habe, sie zu erschießen, sollte sie ihn verraten. Aber im Gegensatz zu Jackson, der die Drohung beim Wort genommen hat, glaubt Peyton, dass ihr Vater damals nur "eine Dramaqueen" gewesen sei. In ihren Augen sei er bereits genug bestraft worden.

Der Schaden, den Guy Reffitts Entscheidungen am 6. Januar 2021 in seiner Familie angerichtet haben, und das, was seitdem geschehen ist, scheinen irreparabel. Aber seine Frau Nicole und die drei Kinder sagen alle unabhängig voneinander, dass ihre Familie das durchstehen werde. Es sei das schlimmste Jahr ihres Lebens gewesen, aber wenn alles überstanden ist, werde man wieder zusammenfinden.

"Wenn wir jetzt Abstand halten, können wir wieder zusammenkommen, sobald der Prozess vorbei ist", sagt Jackson. "Es geht einfach darum, wieder Brücken aufzubauen. Das dauert halt. Meine Familie ist in dieser Hinsicht aber ziemlich cool, und wir sind unverwüstlich."

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