Überlebenstraining für den Mars: 6 Menschen, 520 Tage und ein geschlossener Raum
Die Mars 500 Crew im Mai 2011. Diego Urbina steht im Hintergrund und zeigt auf den Bildschirm. Bild:European Space Agency

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Überlebenstraining für den Mars: 6 Menschen, 520 Tage und ein geschlossener Raum

„Irgendwann fehlt dir die soziale Vielfalt.“

Die längste Isolationsstudie der Geschichte der Wissenschaft fand reichlich unspektakulär in einer Lagerhalle am Rande Moskaus statt. Ganze 520 Tage befanden sich sechs menschliche Versuchskanninchen aus Russland, Frankreich, Italien und China in einem Simulationsmodul, um die Folgen einer erbarmungslos langen Isolation auf ihre Psyche und die Gruppendynamik im Praxistest zu ermitteln. Mit dem Experiment sollte ermittelt werden, wie die Menschen auf einer langen Reise zum Mars miteinander umgehen würden.

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Nach strengen psychologischen und medizinischen Voruntersuchungen wurden schließlich elf Personen ausgewählt, die sich in einem sechsmonatigen Training auf die 520 Tage ohne Außenkontakt vorbereiteten. Dabei durften die Testpersonen auch das berüchtigte Überlebenstraining mitmachen, mit dem Astronauten sich dafür wappnen nach einem Weltraumflug an einem abgeschiedenen Ort auf die Erde zurückzukehren. Außerdem mussten sie für die zahlreichen Experimente trainieren, die sie während der Isolation über sich ergehen lassen würden.

Von den elf Finalisten wurden schließlich sechs Personen für den freiwilligen Gefängnisaufenthalt im Auftrag der Wissenschaft ausgewählt. Entscheidend war vor allem, wie harmonisch die Testpersonen in einer kleinen Gruppe miteinander umgehen würden.

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Einer dieser Finalisten, der am 3. Juni 2010 mit fünf anderen Crew-Mitgliedern in das russische Modul eingeschlossen wurde, war der italienische Ingenieur Diego Urbina. „Es gab Zeiträume in denen wir nicht so viele Aufgaben hatten und das war schon ziemlich hart", erzählte mir Urbina. „Mir war nicht langweilig, es gab schon immer etwas zu tun, aber es fiel uns dann sehr schwer, uns auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren."

Der Kontakt mit der Außenwelt war streng geregelt und bestand vor allem darin, dass die Männer Blut- und Urinproben zur Untersuchung in eine, in die Eingangstür eingelassene Klappe, stellten. Im ersten und letzten Monat der Simulation durfte die Crew per Funkkontakt und mit Videonachrichten mit einer Kontrollstation kommunizieren. Während sich die Crew „dem Mars näherte" wurde der Kontakt von immer stärkeren Verzögerungen geprägt.

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Die beliebteste Abendbeschäftigung war Counter Strike. Die Russen gegen den Rest der Welt.

Ansonsten gab es während der 520 Tage kein Internet und keine Telefongespräche, lediglich zweimal täglich fand ein Daten-Upload statt, der vom Bodenpersonal an die Familien der Teilnehmer weitergeleitet werden konnte.

Die Tage im Modul waren in der Regel ziemlich ausgefüllt. Nachdem die Crew um 8 Uhr aufgestanden war, begann sie ihren Tag mit einer Überprüfungen der Geräte, sie maßen ihren Blutdruck und kümmerten sich um den „Haushalt". Die folgenden acht Stunden waren die Männer in Experimente eingebunden, bei denen zum Beispiel Aktivitäten auf der Marsoberfläche simuliert wurden. (In dem Modul gab es einen eigenen Raum, komplett ausgestattet mit einem rotem, dreckigen Fußboden, der nur für diesen Zweck da war.) Nach dem Abendessen und ihren wissenschaftlichen Aufgaben waren die Einsiedler dann auf sich allein gestellt und mussten sich selbst beschäftigen.

Um das Jahr herum zu bekommen spielten die Crewmitglieder Videospiele, lasen Bücher und sahen sich Filme an. Laut Urbina konnten sich die Teilnehmer vor allem für Counter Strike begeistern.

„Das war bei weitem das beliebteste Spiel", erinnerte er sich. „Das ist ganz witzig, ich habe zwar versucht ein paar andere Spiele vorzustellen, aber keines kam so gut an. Es war ein richtiger Teamsport—die Russen gegen den Rest der Welt."

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Urbina selbst las während der Projektes ganze 27 Bücher. „Den besten Rat, den ich jedem für einen langen Weltraumflug geben kann ist, sich kurze oder mittelfristige Ziele zu setzen", erzählte er. „Versuche, dich auf diese Ziele zu konzentrieren. Diese Technik war für mich besonders wertvoll."

Ich habe die Welt im Allgemeinen vermisst. Zu beobachten wie sich Dinge bewegen, Autos, Hunde, die Sonne.

Für Urbina war das Isolationsexperiment vor allem eine positive Erfahrung. Im Gegensatz zu einigen seiner Kameraden hatte er keine Schlafstörungen und es gelang ihm sogar, den Aufenthalt zu genießen. Doch einfach war die Zeit trotzdem nicht.

„Ich habe die Welt im Allgemeinen vermisst. Zu beobachten wie sich Dinge bewegen, Autos, Hunde, die Sonne. Meine Kollegen waren wunderbar und ich hätte mit keinen besseren Menschen dort eingeschlossen sein können, aber irgendwann fehlt es dir, neue Leute zu treffen, die soziale Vielfalt", sagte er. „Für mich war das der komplizierteste Aspekt des Experiments."

Am 4. November 2011 verließ die Crew das Modul wieder. Mit großen Augen und strahlenden Gesichtern begegneten sie erstaunt der Meute an Medienvertretern, die sie mit Fragen und Blitzlichtern bombardierten.

Wie auf der Website von Mars500 zu lesen ist, gab es zehn primäre wissenschaftliche Untersuchungen während des Experiments—von Tests der Lebenserhaltungssysteme eines Raumschiffes auf dem Weg zum Mars bis zu Prognoseverfahren für Gesundheit und Arbeitskapazität der Astronauten. Die Crew verzeichnete während ihrer Mission zwar einige psychologische Anomalien wie Schlaflosigkeit, andere Experimente zeigten jedoch sehr vielversprechende Ergebnisse. Dazu gehörte beispielsweise das 'Salat Maschine'-Experiment, das entscheidende Erkenntnisse dazu lieferte, wie sich unter solch widrigen Bedingungen frisches Gemüse züchten lässt.

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Die erfolgreichsten Aspekte der Simulation zeigten sich in verschiedensten Ernährungsexperimeten, die von der Universität Erlangen betreut wurden. Normalerweise ist es schwierig, verlässliche Ergebnisse zu erzielen, aber da die Mars500-Teilnehmer das Modul nicht verlassen konnten stellten sie die ideale Untersuchungsgruppe dar, um die Auswirkungen eines gesteuerten Ernährungsverhaltens zu untersuchen.

Ich würde auf jeden Fall zum Mars reisen. Aber trotzdem habe ich mich jeden Tag nach der Erde gesehnt.

„Wir mussten genau das essen, was wir bekamen. Nicht mehr und nicht weniger. Meiner Meinung nach war das das schwierigste Experiment von allen", sagte Urbina. „Als wir dann auf dem Mars 'ankamen' aßen wir die gleichen Dosenmahlzeiten wie die Bewohner der ISS. Auf dem Rückweg gab es in erster Linie dehydriertes Essen, das du vor dem Verzehr mit heißem Wasser versetzen musst."

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Im ersten Jahr der Mission, bekamen die Crew-Mitglieder genau dosierte Mahlzeiten, so dass das Team aus Erlangen die Effekte einer drastischen Reduktion der Salzzufuhr an des Teilnehmern untersuchen konnte. Die Wissenschaftler fanden dabei heraus, dass die Salzbalance des Körpers noch wesentlich komplizierter ist als bisher angenommen.

Auch wenn die meisten Menschen denken, ein Zeitraum von mehr als 500 Tagen in Isolation ist mehr als genug für ein ganzes Leben, sagt Urbina, er hätte noch immer keine Skrupel, sich auf die Reise zum Mars zu begeben. Allerdings hält er nichts von einer One-Way-Mission. Er würde sich lieber auf ein Rundtrip zum Roten Planeten begeben und danach wieder zurück kommen.

„Das Modul nach 520 Tagen zu verlassen war die seltsamste Erfahrung meines Lebens. Ich habe eine ganze Zeit, wenn nicht sogar Monate gebraucht, mich wieder daran zu gewöhnen. Es ist, als käme man in einer anderen Welt an", sagte er. „Ich würde auf jeden Fall zum Mars reisen, daran habe ich keinen Zweifel. Doch wir haben jeden Tag an unsere Rückkehr gedacht."