Missbrauch, Schmerz, Demütigung—die Geschichte einer IS-Sklavin
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porträt

Missbrauch, Schmerz, Demütigung—die Geschichte einer IS-Sklavin

Drei Monate befand sich Nadia Murad als Sexsklavin in Gefangenschaft. Dann gelang ihr die Flucht.

Nadia Murad war erst 19, als ihr Heimatdorf nahe der nordirakischen Stadt Sindschar von Truppen des Islamischen Staats eingenommen wurde. „Sie sind am 3. August angekommen und ihr Anführer meinte, dass wir überleben, wenn wir konvertieren. Niemand ist konvertiert", beginnt sie ihre Erzählung.

„Am 15. August wurden die Leute aus unserer Gegend in das örtliche Schulgebäude gebracht, wo es zwei Stockwerke gibt. Die Frauen, Mädchen und Kinder mussten in den ersten Stock, während die Männer im Erdgeschoss geblieben sind. Wir haben versucht, meine Neffen mit uns nach oben zu nehmen. Daraufhin ließen sie die Jungs die Arme hochnehmen—und wer schon Achselhaare hatte, musste unten bleiben."

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Murad konnte dann zusammen mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und den anderen Frauen und Kindern des jesidischen Dorfs Kocho durch die Fenster beobachten, wie der IS die Männer und Jungs abschlachtete. „Manche Männer wurden erschossen, manche geköpft. Außerdem wurden sie in Bussen weggebracht."

„Sechs meiner Brüder sind so gestorben."

Wenn man mit Murad spricht, wird einem schnell klar, dass man Zeuge von Erzählungen wird, die unfassbar schreckliche Kriegsverbrechen beschreiben. Die Dolmetscher werden oft von ihren Gefühlen übermannt und haben Schwierigkeiten, fortzufahren. Die Leute, die Kurmandschi sprechen—also den kurdischen Dialekt Murads—, kommen normalerweise aus der Jesiden-Gemeinde, die durch den Islamischen Staat massiv dezimiert wurde.

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Am 3. August 2014 kehrten die kurdischen Truppen Sindschar den Rücken zu und „überließen uns unserem Schicksal", so die jesidische Prinzessin Oroub Bayazid Ismail. Im Laufe der vergangenen zwei Jahre bedeutete dieses Schicksal die Versklavung von ungefähr 6000 Menschen, Massenexekutionen von Tausenden Männern, sowie verabscheuungswürdiges Vorgehen gegen Frauen, das Vergewaltigungen und Sexhandel beinhaltete. In einem Menschenrechtsbericht der Vereinten Nationen vom März 2015 heißt es, dass diese Gräueltaten auch als Genozid gegen die Jesiden bezeichnet werden könnten.

Murad gehörte zu den vielen Frauen, die als Sexsklaven für Dschihad-Kämpfer gefangen gehalten wurden. Heute lebt sie in Deutschland und hat bereits vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die Folter und den Missbrauch gesprochen, die ihr als Gefangene des Islamischen Staats angetan wurden. Außerdem wurde sie für die Bewusstseinsförderung in Bezug auf das Leiden der Jesiden für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

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Bevor der IS in Kocho einfiel, lebte Murad zusammen mit ihrer Mutter und ihren 12 Geschwistern in einem großen Haus. Ihr Vater verstarb im Jahr 2003. „Als ich noch sehr jung war, hatten wir kaum Geld. Dann fanden meine Brüder jedoch Arbeit und unsere Lebensqualität verbesserte sich. Wir besaßen auch einen großen Garten, der zur einen Hälfte für uns und zur anderen Hälfte für unsere Tiere gedacht war", erinnert sie sich.

Nach der Grundschule blieb Murad erstmal gut ein Jahr zu Hause, weil ihre Mutter nicht wollte, dass sie ohne Begleitung in eine nahegelegene Stadt ging, wo sich die nächstgelegene weiterführende Schule befand. Als eine solche Schule dann jedoch auch in Kocho eröffnet wurde, konnte sich Murad bis zu ihrem 17. Lebensjahr weiterbilden. „Mein Lieblingsfach war Geschichte. Ich konnte mir das Gelesene richtig gut merken. Jetzt ist mein Erinnerungsvermögen aber nicht mehr so wie früher. Ich verwechsle die ganze Zeit irgendwelche Sachen."

Nadia Murad vor der Ankunft des Islamischen Staats | Foto: bereitgestellt von Nadia Murad

Die letzte Erinnerung an ihre Mutter geht zurück bis zu dem bereits erwähnten Tag in ihrem alten Schulgebäude. „Seitdem wir nach der Ermordung der Männer von ihr und den anderen 80 älteren Frauen getrennt wurden, haben wir nichts mehr von ihr gehört." Das Hintergrundbild ihres Handys, das sie fast immer in der Hand hält, zeigt ihre Mutter in festlicher Jesiden-Kleidung. „Als Sindschar befreit wurde, hat man auch ein Massengrab mit 80 weiblichen Leichen gefunden. Genauer untersucht hat man dieses Massengrab jedoch noch nicht und deshalb wissen wir auch nicht sicher, ob sie sich darin befindet." Bis jetzt hat Yazda, ein Interessenverband bestehend aus Mitgliedern und Unterstützern der Jesiden-Diaspora, in Sindschar 19 von 35 vermuteten Massengräbern bestätigt. Der Verband schätzt, dass nur 1500 der 6000 gefundenen Leichen korrekt identifiziert und ordnungsgemäß aufbewahrt werden.

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Ich habe Murad zum ersten Mal im Juli letzten Jahres getroffen, also vier Monate nachdem sie ihren Kidnappern aus Mossul entkommen war. Zusammen mit zwei anderen Gefangenen und der ehemaligen irakischen Parlamentsabgeordneten Ameena Hasan Saeed, die sie aus dem Islamischen Staat schleuste, reiste Murad nach Großbritannien. Dort beschrieb sie dann mit Gänsehaut verursachender Genauigkeit, wie sie missbraucht, vergewaltigt und innerhalb der IS-Truppen weitergereicht wurde. Insgesamt musste sie drei Monate Gefangenschaft erleiden und 13 verschiedene „Besitzer" über sich ergehen lassen, die sie einsperrten, hungern ließen und komplett von der Außenwelt abschotteten.

Damals zeigte sie mir auch ihre Narben von den Zigaretten, die auf ihrer Haut ausgedrückt worden waren. Für diese Narben verantwortlich waren die Kämpfer, die einem Kommandanten namens Salman unterstanden—Murads erster „Besitzer". Nach ihrem ersten erfolglosen Fluchtversuch wurde sie von diesen Männern auch mehrfach vergewaltigt. „Ich fand ein kleines Fenster und kletterte hinaus ins Freie. Dann bin ich aus dem zweiten Stock nach unten gesprungen, aber einer von Salmans Wachmännern hat mich anschließend gefunden und wieder rein gebracht. Ich hätte bei diesem Sprung sterben können—und nach dem, was mir danach angetan wurde, wäre das so wohl auch besser gewesen.

Letztendlich gelang Murad die Flucht, als ihr letzter „Besitzer", ein IS-Busfahrer, außer Haus war, um ihr eine Abaya zu kaufen. Diese Chance musste genutzt werden: Murad floh und klopfte so lange an fremde Türen, bis sie von einer Familie hereingelassen und vierzehn Tage lang versteckt wurde. Danach schmuggelte sie sich mithilfe des Passes ihrer Tochter durch die ersten Checkpoints, schaffte es an der IS-Front vorbei und traf im Nordwesten des Iraks schließlich auf einen ihrer Brüder.

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Nach ihrer Flucht lebte Murad zuerst in einem der überfüllten Flüchtlingslager vor Dohuk in Kurdistan und bekam im September letzten Jahres schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland. Heute lebt sie zusammen mit einer ihrer Schwestern in der Nähe von Stuttgart. Theoretisch könnte sie als ehemalige Gefangene auch eine kostenlose Therapie in Anspruch nehmen, aber Murad hatte nach zwei Terminen bereits genug.

„Wenn ich nur mit einem Therapeuten rede, dann hilft das weder mir noch meiner Familie", erzählt sie mir. „Meine andere Schwester lebt zusammen mit meinen drei übrig gebliebenen Brüdern immer noch in einem Flüchtlingscamp, wo die Umstände ebenso immer noch genauso schlecht sind—verschimmeltes Essen, kein Wasser und kein Strom. Vier der Ehefrauen meiner Brüder werden zusammen mit ihren Kindern dazu immer noch vom IS gefangen gehalten. Wenn ich mich nur im Privaten mit einer Person unterhalte, dann wird sich daran nichts ändern."

Durch ihre Reisen mit Murad Ismael, dem Mitbegründer und Leiter von Yazda, hat sie die vergangenen drei Monate im Nahen Osten, in den USA und in ganz Europa verbracht, um führenden Politikern ihre Geschichte zu erzählen und sich so deren Unterstützung zuzusichern. So wurde Murad auch zur Wortführerin gegen den Genozid an den Jesiden und zum Aushängeschild der Bewegung zur Befreiung der geschätzten 3500 Frauen und Kindern, die vom Islamischen Staat immer noch als Sklaven gehalten werden.

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Vor Kurzem begleitete ich Murad dabei, wie sie ihre Geschichte im englischen Parlament einer Gruppe von sprachlosen und zu Tränen gerührten Abgeordneten vortrug. „Ich habe mich dazu entschieden, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, weil ich davon erzählen will, was mir widerfahren ist und unter was andere Frauen in den Händen des Islamischen Staats immer noch zu leiden haben", erklärt sie mir. „Das ist mein Schicksal. Diese Gräueltaten wurden mir angetan. Egal wo ich auch hingehe, die Leute haben immer Mitleid mit mir—und trotzdem gibt es keine Rettungsaktionen oder andere Fortschritte."

„Sie ist richtig berühmt geworden und überall schlägt ihr eine Welle der Unterstützung entgegen", meint Maher Nawaf, ein Yazda-Aktivist aus Großbritannien. „Sie hat so viele der schrecklichen Dinge erlebt, mit denen wir Jesiden uns auseinandersetzen müssen. Ich weiß nicht, wie sie so stark bleiben konnte, aber wir tragen sie alle in unseren Herzen und sind unglaublich stolz auf sie."

Murad ist sogar zu einer Art Volksheldin geworden: Im Internet findet man einen ganzen Haufen Fan-Art und im ganzen Irak gibt es an diversen Orten Graffitis, die die junge Frau zeigen. Hunderttausende Menschen haben sich das YouTube-Video ihrer Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angesehen. In der Jesiden-Gemeinde ist man sich einig, dass sie verschiedene Aspekte des Traumas der religiösen Minderheit am eigenen Leib erfahren hat.

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„Sie hat mir Fotos von ihrem Neffen gezeigt, der erst acht Jahre alt ist", erzählt Nawaf. „Der IS hat ihn in den Jugendcamps einer Gehirnwäsche unterzogen. Er hat jetzt damit gedroht, seinen eigenen Vater umzubringen. Sie hat also wirklich schon alles durchgemacht, was unserem Volk angetan wird—ihre Mutter und ihre Brüder wurden getötet, ihre Schwägerinnen befinden sich immer noch in Gefangenschaft und die Kinder aus ihrer Familie werden vom Islamischen Staat zu Mördern ausgebildet."

Obwohl Jesiden-Aktivisten oftmals genaue Informationen zu den Aufenthaltsorten von Gefangenen liefern, die mithilfe von Handys noch sporadischen Kontakt halten können, gibt es keine Rettungsversuche—weder von Seiten der internationalen Streitkräfte, noch von Seiten der irakischen und Peschmerga-Truppen.

Deshalb haben die Aktivisten auch eigene Schleuser-Netzwerke aufgebaut: Undercover-Taxifahrer gehen ein großes persönliches Risiko ein und holen Frauen und Kinder aus dem IS-Gebiet raus—das kostet jedoch auch eine ganze Menge Geld. Zwar ist eine Rettung von Murads Neffen nicht sehr wahrscheinlich, aber sie ist dennoch der festen Überzeugung, dass es in ihrem erweiterten Familienkreis sowie in der Jesiden-Gemeinde allgemein viele Menschen gibt, die befreit werden könnten.

Brutale Bilder der Gefangen, mit denen der IS den Familienangehörigen zeigen will, dass sie noch am Leben sind, geben Murad immer wieder neuen Antrieb. „Erst gestern habe ich ein Foto einer 13-Jährigen gesehen", meinte sie gegenüber den Parlamentsabgeordneten. „Auf diesem Foto haben sie sie so angezogen, dass sie aufreizend wirkt."

„Ich gehe einen Tag nach dem anderen an", erzählt sie mir einen Tag später beim Mittagessen in der Londoner Innenstadt. Dabei scrollt sie auf ihrem Handy durch die Fotos ihrer gefangen Familienangehörigen. Zusammen mit den Leuten von Yazda kann sie ihrer Aussage nach ganz entspannt an ihren Reden feilen, aber manchmal findet sie trotzdem nicht die richtigen Worte, um das zu beschreiben, was sie durchmachen musste. Am Ende schmunzeln wir noch über die vielen Bilder, die ihre Fans für sie gemalt haben.

„Ich bin zwar erst 21 Jahre jung, fühle mich aber trotzdem unglaublich alt. Mir kommt es so vor, als hätte ich mich durch sie komplett verändert: Jedes Haar auf meinem Kopf und jeder Teil meines Körpers ist gealtert. Das, was sie mir angetan haben, hat mich total ausgelaugt, und ich bin jetzt ein komplett anderer Mensch. Ich hätte niemals gedacht, dass mir so etwas passieren würde, und ich kann die Geschehnisse gar nicht mal wirklich so beschreiben, dass man das Ganze komplett versteht."

Neben Murad wurden unter Anderem auch noch Papst Franziskus, die weibliche Rad-Nationalmannschaft Afghanistans sowie der Ökonom Herman Daly für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Sie kann sich noch nicht wirklich vorstellen, die Auszeichnung zu gewinnen, aber allein die mögliche Nominierung schmeichelt ihr schon ungemein. Als ich ihr zu dieser Errungenschaft gratuliere, huscht ein schüchternes Lächeln über ihr Gesicht.

„Ich werde von Leuten aus der ganzen Welt unterstützt. Ich weiß auch, wie viele Menschen sich über eine Nominierung für den Friedensnobelpreis freuen würden, und der Gewinn wäre sicherlich auch ein wichtiger Fortschritt für die Befreiung der jesidischen Gefangenen. Aber selbst wenn ich die Auszeichnung letztendlich entgegennehmen sollte, würde ich das mit einem gebrochenen Herzen tun."