Eine Frau vor einer Scheibe, die ihr die Sich versperrt, symbolisch für Depersonalisation, dem Gefühl, dass sich das Leben nicht real anfühlt
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Menschen

Ein Leben mit Depersonalisation und dem „Gefühl, dass nichts real ist“

Neben der Spur steht jeder mal. Wer sich allerdings chronisch so fühlt, als würde er sich und sein Leben eher wie ein Zuschauer verfolgen als selbst involviert zu sein, könnte unter einer Depersonalisations- oder Derealisationsstörung leiden.

Jeder wird wohl auf irgendeine Art und Weise schon einmal das Gefühl gehabt haben, nicht er oder sie selbst zu sein. Das Gefühl, wenn überhaupt durch physische Anwesenheit an gewissen Dingen teilzuhaben, mit dem Kopf aber ganz woanders unterwegs zu sein. Was für viele von uns wohl primär der Langeweile, den Tagträumereien oder Ähnlichem verschuldet ist, kann anderen das Leben regelrecht zur Hölle machen.

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„Ich kann denken, ich kann sehen, ich kann hören, ich kann Auto fahren, ich kenne meinen Namen, ich kenne meine Eltern, ich weiß wo ich wohne, ich weiß wie meine Frau heißt und kenne ihr Geburtsdatum, ich weiß meine Sozialversicherungsnummer auswendig … Alles weist darauf hin, dass ich mich in der Realität befinde. […] Warum habe ich dann trotzdem das Gefühl, dass nichts real ist? Ich bin einfach nicht ich selbst", beschreibt kchendrix, User des online Selbsthilfeforums dpselfhelf.com, sein Leben mit der Depersonalisations- oder Derealisationsstörung. Eindrücke, die ich bestätigen kann, da ich selbst schon unter ähnlichen Symptomschüben gelitten habe.

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Menschen mit dem Depersonalisations- oder Derealisationssyndrom fühlen sich meist vollkommen von sich selbst und ihrem sozialen Umfeld entfremdet. Sie nehmen emotional nicht mehr aktiv an ihrem Leben teil—viel eher beobachten sie teilnahmslos und passiv ihr Handeln, als seien sie Zuschauer eines Filmes.

Als typisches Merkmal einer depersonalisierten Person ist außerdem das Empfinden von Gleichgültigkeit, Emotionslosigkeit und einer allgemeinen Gefühlskälte gegenüber des sozialen Umfeldes und/oder zwischenmenschlicher Konfrontationen jeglichen Motivs zu benennen.

Obwohl die Erkrankung an sich recht unbekannt ist, gelten ihre Symptome geradezu als Volksleiden. Statistiken der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sagen aus, „dass ungefähr die Hälfte aller Erwachsenen Symptome von Depersonalisation oder Derealisation einmal in ihrem Leben erlebt". Was sich erst einmal ziemlich paradox anhört, liegt tatsächlich einer sehr einfachen Feststellung zu Grunde, wie mir Prof. Dr. Matthias Michal—Professor für Psychokardiologie und Stressverarbeitung und stellvertretender Direktor an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz—erklärt: „Depersonalisation ist unsichtbar. Man sieht den Männern und Frauen, die diese Störung haben, nicht an, dass sie unter ihr leiden."

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Ich hatte immer das Gefühl, nicht mit meinem Körper verbunden zu sein, nicht in mir drin zu sein.

Tatsächlich stehen die beiden Störungen nicht synonym füreinander, sondern unterscheiden sich dahingehend, wovon sich die Betroffenen abgeschnitten fühlen. „Die Depersonalisation bezieht sich auf einen selbst, auf den eigenen Körper, den man anders oder gar nicht mehr wirklich wahrzunehmen scheint. Die Derealisation bezieht sich konkreter auf die Umwelt", sagt Dr. Michal. „Die beiden gehen aber üblicherweise Hand in Hand und es sind dieselben Mechanismen involviert, dementsprechend ist es meiner Meinung nach nicht vonnöten, die beiden zwanghaft auseinanderzuhalten." Meist unterscheidet sich bei den Betroffenen nur die Stärke der jeweiligen Ausprägung.

Charlotte litt im Alter von 13 bis 16 Jahren unter dem Depersonalisationssyndrom. „Wie man die Störung wahrnimmt, ist immer subjektiv. Ich hatte, um es ganz einfach zu formulieren, immer das Gefühl, nicht mit meinem Körper verbunden zu sein, nicht in mir drin zu sein", sagt sie und blickt dabei nervös auf den Boden vor ihr. Wenn sie von dieser Zeit erzählt, tut sie es mit der Vorwarnung, dass die meisten Außenstehenden nur sehr schwer nachvollziehen können, wovon sie spricht. „Viel zu oft schon habe ich Leuten davon erzählt und sie hielten mich für bekloppt, oder wollten mir weismachen, dass ich mir das nur einbilde." Sie ist froh, dass ihre Eltern sie ziemlich schnell zu einer Psychotherapeutin schickten, die ihr dabei half „langsam aber sicher zurück zu mir selbst zu finden."

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Ich fragte sie, ob es denn nicht damals auch Leute gab, mit denen sie hätte auf einer Augenhöhe sprechen können, ebenfalls Betroffene oder Gleichgesinnte. „Nein, nicht wirklich", heißt es ihrerseits. „Ich hatte nicht das Gefühl, mit irgendwem darüber sprechen zu können. Irgendwo im World Wide Web, so dachte ich, gibt es vielleicht Infos, Tipps oder Ansprechpartner, die mich nicht diagnostizieren, sondern verstehen … Wirklich erfolgreich war ich mit der Suche danach nicht. Worüber ich am häufigsten stolperte und was den Meisten ausschlaggebend schien, war der vorherige Konsum von Drogen. Damit hatte ich aber nichts am Hut und war insofern fast ratloser als davor."

Und tatsächlich: Egal wo und wie man sich mit dem Thema der Depersonalisation beschäftigt—sei es online oder in medizinischer Fachliteratur—, an irgendeiner Stelle ist immer die Rede von Halluzinogenen, vornehmlich sogar einfachem Marihuana, das von vielen Betroffenen als Auslöser ihrer Probleme definiert wird. Die Userin daisy55 beispielsweise beschreibt, wie sie mit ihrem „Ehemann einen Joint rauchte" und laut Eigendiagnose plötzlich depersonalisierte. Aber ist das überhaupt möglich?

„Es kann durchaus sein, dass der Konsum halluzinogener Drogen Symptome einer Depersonalisationsstörung hervorrufen können. Diese sind aber nur temporär", beruhigt Dr. Michal. „Wenn man keine Drogen mehr nimmt, aber die Depersonalisation langfristig anhält, dann kann man davon ausgehen, dass es nicht von der Droge selbst kommt, sondern diese schlichtweg als Katalysator eines vorher bereits vorhandenen Problems diente."

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Laut dem Experten sind Depersonalisation und Derealisation jeweils Angstsymptome, jedoch „nicht etwa Angst im Sinne einer diagnostischen Kategorie, sondern Angst als biologische Reaktion", erklärt er. „Angst als biologische Reaktion setzt eine Art Abwehrverhalten in Gang, damit man zum Beispiel nicht aufgefressen wird. Es ist also evolutionsbiologisch bedingt—sowohl bei Tieren, als auch bei Menschen. Dieses Abwehrverhalten setzt eine ganze Kaskade an neuralen Aktivierungen in Gang. Diese rufen dann unterschiedlichste Angstsymptome hervor: Schwitzen, muskuläre Verkrampfungen, Fluchtdrang, Pulserhöhung, weite Pupillen und so weiter. Und auf diesem Spektrum lassen sich auch Depersonalisation und Derealisation einordnen."

Viele Patienten denken, ihr Hirn sei defekt—sie hätten es sich durch einen Joint kaputt gemacht, einen Hirntumor oder Ähnliches.

Der Mensch distanziert sich in einer Angstsituation also von dem, was ihm Angst macht. Dr. Michael konkretisiert dieses Verhalten anhand des Beispiels einer seiner ehemaligen Patientinnen, welche unter Agoraphobie litt—also Angst davor hatte, nach draußen zu gehen. „Sie war Studentin und sollte einen Vortrag halten. Auf dem Weg in den Hörsaal hat sie Blut und Wasser geschwitzt, hat am ganzen Körper gezittert. Dann saß sie vor den mehreren Hundert Studenten und wurde plötzlich ganz cool. Sie hat geredet wie eine Radiomoderatorin", erklärt er. „Dieser plötzliche Wandel kam dadurch, dass sie im Moment des Vortragens vollkommen depersonalisiert war. In ihrem Kopf ist nicht sie die Rednerin, sondern sie ist so entfremdet von der Situation, dass sie das Gefühl hat, sie schaue nur zu. Sie fühlt sich nicht eins mit ihrem Körper und dessen Handlung."

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In einer solchen Situation mag es für Außenstehende zweifelsohne hilfreich erscheinen, sich von der eigenen Panik distanzieren zu können, für Betroffene selbst ist diese Abgrenzung von sich selbst und seiner Umwelt aber keineswegs erstrebenswert oder „praktisch". Umso härter trifft deswegen viele die Erkenntnis, dass es nicht gerade einfach ist, sich von der Depersonalisation oder Derealisation zu befreien.

Einer der Gründe dafür ist, dass das Depersonalisationssyndrom verhältnismäßig wenig erforscht ist. Deswegen gibt es bisher weder Medikamente, noch anerkannte Behandlungsmethoden, die explizit auf die Erkrankung zugeschnitten sind. Ein weiteres Problem ist, dass die Verbreitung des Syndroms auch deswegen unterschätzt wird, weil sich viele Betroffene aus Angst vor potenziell negativen Reaktionen nicht zu Wort melden. Der gesellschaftliche Umgang mit dem Problem spiegelt sich auch in der wissenschaftlichen Community wider. „Viele sehen es nicht mal als ernstzunehmende seelische Störung an, sondern nur als flüchtiges ‚Problemchen'", sagt Dr. Michal.

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Aktuell ist der effektivste Weg zur Heilung die Psychotherapie, mit der auch Charlotte zu sich zurückgefunden hat. „Die Depersonalisation ist eine Affekt-Phobie", erklärt mir der Experte. „Wenn man also voll und ganz mit seinen Gefühlen und Emotionen verbunden ist, ist man nicht mehr depersonalisiert. Sinn und Zweck der Psychotherapie ist es also, die Betroffenen mit ihren verborgenen, verdrängten Gefühlen zu konfrontieren. Viele Patienten denken, ihr Hirn sei defekt—sie hätten es sich durch einen Joint kaputt gemacht, einen Hirntumor oder Ähnliches. Ein großer Teil der Therapie besteht also zunächst darin, den Patienten mit seinen Problemen vertraut zu machen." Selbsterkenntnis ist laut Dr. Michal also ein elementarer Bestandteil des weiteren Heilungsprozesses: „ Ab dem Zeitpunkt, an dem die Patienten die Wurzel ihres Problems erkannt haben, sind sie meistens schon einen ganzen Schritt weiter und wissen, dass sie etwas ändern können."

Meine Gefühle sind komisch

Auch Charlotte, die sich inzwischen wieder im Einklang mit Körper und Geist fühlt, ist fest davon überzeugt, „dass durch therapeutischen Beistand ein Sprungbrett gegeben ist, durch welches man zusätzlich eigenen Antriebs, wieder aus dieser Selbstentfremdung hinausfinden kann." Der erste und wichtigste Schritt für Betroffene bleibt allerdings, wie in so vielen Fällen: zu erkennen, dass man ein Problem hat und keine Angst davor zu haben, darüber zu sprechen.