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Wie Sexarbeiterinnen im Beruf mit Lust umgehen

Wahre Intimität kann auch in den überraschendsten Augenblicken entstehen – und sorgt dafür, dass der Alltag als Prostituierte oft mehr als “nur ein Job“ ist.
Photo by Joselito Briones via Stocksy

Sexarbeit ist auch nur ein Job—trotzdem geht es dabei doch um die Sexualität eines Menschen oder nicht?

Zu diesem Schluss ist zumindest eine Studie der La Trobe University in Melbourne, die im November 2015 in der Zeitschrift Sexualities veröffentlicht wurde, gekommen. Elizabeth Megan Smith hat für "It gets very intimate for me": Discursive boundaries of pleasure and performance in sex work neun Frauen befragt, die im australischen Victoria in der Sexindustrie tätig sind. Durch Berichte und Fotografien sollten die Sexarbeiterinnen ihre Vorstellungen von Intimität, Performance und Lust erforschen. Dabei stand vor allem im Zentrum, wie die Frauen bei der Arbeit Lust erleben und welche Bedeutung sie diesem Thema beimessen. Darüber hinaus wurden sie gebeten, visuell darzustellen, welches Verhältnis sie zu ihrem Körper haben und wie sie sich um ihren Körper kümmern. Anschließend verglich Smith die Bilder und Berichte mit gängigen Vorstellungen von Sexarbeit sowie theoretischen Begriffen wie Gender, Macht und Performance.

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Zunächst mag die Studie nicht radikal neu wirken, doch es gibt kaum empirische Untersuchungen, die sich mit dem sexuellen Lustempfinden von Sexarbeitern beschäftigen – weder im Rahmen ihrer Arbeit noch im Privaten. Stattdessen sind feministische Theorien über die Arbeit von Frauen in der Sexindustrie in einer hitzigen Debatte versunken, in der es mehrheitlich darum geht, ob Sexarbeit Frauen selbstbestimmter macht oder lediglich ausbeutet. Erst seit Kurzem gibt es Studien, die nahelegen, dass diese mehrere Jahrzehnte alte Debatte über die Entscheidungsfreiheit die Ambiguität des Alltags einer Sexarbeiterin völlig außer Acht lässt.

Ich bin inmitten dieser Debatte groß geworden. Ich wurde 1979 geboren – zur der Zeit, als die Aktivistin und selbsternannte Sexarbeiterin Carol Leigh den Begriff „Sexarbeit" geprägt hat. In meinen ersten Jahren auf dem College habe ich die Werke von radikalen Feministinnen wie Catharine MacKinnon und Kathleen Barry gelesen, die Prostitution nicht als bewusste oder rationale Entscheidung betrachteten. Vielmehr sahen sie darin – nahezu ausnahmslos – die Folge von Nötigung, Drogenmissbrauch oder extremer Armut. Genau aus diesem Grund waren sie auch der Meinung, dass Prostitution mit Vergewaltigung gleichzusetzen wäre. Andere verurteilten Sexarbeiter, weil sie angeblich insgeheim zu ihrer eigenen Unterdrückung und sexuellen Objektifizierung beitrugen.

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Sexpositive Feministen verteidigten sich gegen diese Vorstellung und bezeichneten Sexarbeit als einen grenzüberschreitenden und subversiven Akt. Sie waren der Meinung, dass der Austausch von sexuellen Dienstleistungen gegen Geld sexuell befreiend wäre, weil auf diese Weise moralische Vorstellungen von Sex und Normen wie Heteronormativität und Monogamie untergraben werden könnten. Durch ihre Arbeit gewännen Sexarbeiter Autonomie und Selbstbestimmung innerhalb sozialer Strukturen, die Männer nicht nur sexuell sondern auch wirtschaftlich bevorteilten.

Wir sehen in Korsetts und so vielleicht sexy aus, aber für mich ist das Arbeitskleidung. Dafür fühle ich mich in meinem Flanell-Pyjama ziemlich sexy.

Als ich mit 19, während meinem zweiten Jahr auf dem College, anfing zu strippen, stellte ich fest, dass an dieser Sichtweise tatsächlich etwas dran war. Ich war nicht dazu gezwungen, als Stripperin zu arbeiten und habe mich durch meine Arbeit oft sehr frei gefühlt (ganz im Gegensatz zu der Zeit, als ich als Kassiererin gearbeitet habe). Es kam aber auch vor, dass mir meine Arbeit keinen Spaß gemacht hat und selbstverständlich gibt es auch Frauen, die in der Sexindustrie arbeiten, weil sie keine andere Wahl haben. Das kann durchaus daran liegen, dass sie wirtschaftlich in Not geraten sind oder schlichtweg dazu gezwungen werden.

In den letzten Jahren haben es sich Organisationen, die sich für die Rechte von Sexarbeitern einsetzen, zum Ziel gemacht, Sexarbeit von Sex und Lust zu trennen und stattdessen zu betonen, dass das Ganze auch nur ein Beruf ist wie jeder andere. Viele von ihnen arbeiten unentwegt daran, Sexarbeit mit anderen, ähnlichen Berufen auf eine Stufe zu stellen und den Fokus auf die sehr reale wirtschaftliche Motivation zu legen, die hinter der individuellen Entscheidung, sexuelle Dienstleistungen zu verkaufen, steckt. Was dabei aber oft außer Acht gelassen wird, ist die Frage, inwiefern sich Sexarbeit von anderen Service- und Dienstleistungsberufen unterscheidet. Es wird viel darüber gesprochen, dass Sexarbeit ein ganz normaler Beruf ist, allerdings werden Sex und Lustempfinden dabei meist als vollkommen irrelevant abgetan. Doch Sexarbeiter wissen, dass das Ganze weitaus komplizierter sein kann, als einfach nur für Sex bezahlt zu werden.

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Symbolfoto: Valeria Boltneva | Pexels | CC0

Das liegt zunächst einmal daran, dass Lust durchaus ein relevanter Aspekt dieses Berufs sein kann. Kate, eine der Teilnehmerinnen aus Smiths Studie, erzählt, dass sie vor ihrer Arbeit als Sexarbeiterin Schwierigkeiten hatte, Lust bei Männern zu empfinden. Daher ist sie auch davon ausgegangen, dass Sexarbeit etwas sei, dass sie einfach über sich ergehen lassen müsse, um ihr Geld zu verdienen. Umso überraschter war sie, als sie feststellte, dass sie ihren allerersten Klienten körperlich anziehend fand: "Dieser Kerl hat mir die Tür geöffnet und trug dabei nur ein Paar hautenge Boxershorts—er war sooo heiß! (lacht) Ich konnte nicht anders. Mir ist die Kinnlade runtergefallen und ich dachte nur: 'Warum rufst du mich an!? Du musst doch hunderte Frauen haben, die sich glücklich schätzen würden, vorbeizukommen und die Nacht mit dir zu verbringen.'"

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Andere Klienten, sagt Kate, fand sie "körperlich überhaupt nicht anziehend, aber … sehr süß und wirklich liebenswert." In beiden Fällen bietet Sexarbeit die Möglichkeit, sein eigenes Lustempfinden zu erforschen – und zwar ohne jede emotionale Bindung und frei von Erwartungen, die normalerweise mit sexuellen Beziehungen außerhalb der Arbeit einhergehen. Bis zu diesem Punkt, sagt Kate, "unterscheidet sich die Herangehensweise stark [von Sex in einer Beziehung]. Wenn du arbeitest, gehst du rein und denkst nicht darüber nach, was dir gefallen würde, was funktionieren könnte und ob du gefühlsmäßig bereit dafür bist … du erwartest nicht, dass es dir gefallen wird. Eigentlich ist es so viel einfacher … [Bei der Arbeit] bin ich emotional losgelöster von der anderen Person. Vielleicht fällt es mir deshalb leichter, mich gewissermaßen gehen zu lassen."

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Andere Sexarbeiterinnen, die von Smith interviewt wurden, bezeichneten ihre Arbeit dagegen als intimen und sinnlichen Akt. Sie erzählten von Freundschaften zu ihren Kunden und meinten, dass Stammkunden "wie Familie" seien. Sexuelles Vergnügen könne auch mit einer emotionalen Verbundenheit einhergehen. Eine der Befragten, Melina, bezeichnete ihre Arbeit als "sinnliche Erfahrung, die auch mir gefallen kann". In ihren Augen, sagt sie, "geht es nicht nur darum, abzuspritzen oder Druck abzubauen. Es geht um Intimität und Sinnlichkeit."

Sexarbeit bietet laut eine der Frauen die Möglichkeit, "gemeinsam mit den Klienten zu entspannen und zu erforschen, was einem an Sex und Sexualität gefällt." Sie würde neuen Sexarbeiterinnen raten: "Versuch nicht, dir einzureden, dass es nur ein Job ist."

Das sahen aber nicht alle Frauen, die Smith interviewt hat, so. Obwohl feministische Bewegungen allmählich Abstand von schwarz-weißen Debatten nehmen, bleiben die gängigen Vorstellungen von der Industrie nach wie vor sehr einseitig. Sexarbeiter fühlen sich aufgrund der Tabuisierung ihres Berufs noch immer sehr zerrissen und auch diejenigen, die über ihre Berufswahl sprechen und schreiben, sind sich der feindseligen und uninformierten Wahrnehmung anderer sehr bewusst.

Dieses Stigma, das bereits sehr ausführlich thematisiert wurde, kann auch dazu führen, dass Sexarbeiter eine starre Grenze zwischen ihrem privaten und ihrem professionellen Ich errichten, um sich selbst zu schützen. Um sich gegen negativen Vorstellungen zu wehren, sagt Smiths Studie, gehen manche Sexarbeiter bei der Arbeit auch sehr klinisch vor und versuchen, jede Form von sexuellem Verlangen oder Lust zu meiden.

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All diese widersprüchlichen Debatten haben mich zu meiner eigenen wissenschaftlichen Untersuchung inspiriert (die 2001 durchgeführt und 2010 veröffentlicht wurde). Hierfür habe ich mit Sexarbeitern aus ganz Europa und den USA über ihr Leben und ihre Erfahrungen gesprochen. Genau wie die Sexarbeiter, mit denen ich gesprochen habe, hatte auch ich Regeln und No-Gos, die mein Privatleben streng von meinem Beruf getrennt haben. Insbesondere Kondome boten einen wichtigen Abstand – nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch. Die Teilnehmerinnen von Smiths Studie gaben an, dass sie Kostüme tragen und sich „erotische" Identitäten zulegen, die sich in der Regel stark von ihrem normalen Selbstbild und dem, was sie selbst sexy finden, unterscheiden. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass vier von fünf Personen sagen würden, dass sie Feuerwehrmänner sexy finden. Ich würde aber auch wetten, dass sie sich selbst nicht besonders sexy finden. Genauso geht es Prostituierten", sagt eine der Befragten. "Wir sehen in Korsetts und so vielleicht sexy aus, aber für mich ist das Arbeitskleidung. Dafür fühle ich mich in meinem Flanell-Pyjama ziemlich sexy." Einige Sexarbeiter versuchen auch, ihre Arbeit als Performance zu betrachten und beschränken ihren "authentischen" sexuellen und psychologischen Beziehungen auf persönliche Begegnungen, um mit dem Stigma umzugehen, sagt Smith.

Man sich auch auch gegenüber vielen Erkenntnissen versperren, wenn man nicht anerkennt, dass menschliche Beziehungen sehr komplex und chaotisch sein können.

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Zu dieser Art von Sexarbeiter habe auch ich gehört. Ich war fest davon überzeugt, dass Sexarbeit auch nur Arbeit ist – ein Job wie jeder andere. Dennoch habe ich meine Regeln als Sexarbeiterin, um ehrlich zu sein, ziemlich oft gebrochen und meine Grenzen andauernd verschoben. Als ich beispielsweise als Stripperin in Mexiko gearbeitet habe, hatte ich eine "Nicht anfassen"-Regel, die ich immer wieder gebrochen habe, wenn ich einen Klienten sexuell anziehend fand und/oder er mir mehr gezahlt hat. Wenn ich einen Klienten auf einer persönlichen Ebene interessant fand, habe ich mich außerdem auch schon mal außerhalb der Arbeit mit ihm getroffen. Doch statt die angenehmen sexuellen Erfahrungen einfach anzunehmen, habe ich mich oft zerrissen, verwirrt und "unprofessionell" gefühlt.

Smith befürchtet allerdings, dass es negative Folgen haben könnte, wenn man das Argument, Sexarbeit sei auch einfach nur ein Job, aufweichen würde. Sie glaubt, dass das wohlmöglich dazu führen könnte, dass Sexarbeiter als "fröhliche Huren" abgestempelt werden. "Allerdings würde man sich auch gegenüber vielen Erkenntnissen versperren, wenn man nicht anerkennt, dass menschliche Beziehungen, unser Körper und unser Lustempfinden sehr komplex und chaotisch sein können. Das könnte dazu führen, dass Sexarbeiterinnen, die Lust empfinden, auch weiterhin von den Verurteilen verfolgt werden, die sie verinnerlicht haben", sagt sie. Das ist im Grunde genommen genau das, was mir passiert ist.

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Hierzu muss aber auch gesagt werden, dass es eine Kehrseite haben kann, wenn Sexarbeiter eine gewisse Nähe zu ihren Klienten aufbauen. Eine der Befragten aus Smiths Studie meinte, dass der Umgang mit unhöflichen und respektlosen Klienten im Kontext einer Sexarbeiterin ganz anders ist als in anderen Service- und Dienstleistungsbranchen. Sie vergleicht die Situation rein hypothetisch mit der Arbeit in einem Callcenter: Wenn man dort von einem Kunden angeschrien wird, ist es etwas ganz anderes als als Sexarbeiterin, "weil [Sexarbeit] etwas so persönliches ist", sagt sie. "Sie befinden sich in deinem persönlichen Bereich, deinem Körper. Das hat eine ganz andere Wirkung."

Die Argumente, dass Bordelle feministische Bootcamps und Sex sei der einzige Schlüssel zur Befreiung seien, haben wir längst hinter uns gelassen. Doch es könnte Frauen tatsächlich selbstbestimmter werden lassen, wenn man die sexuellen Erfahrungen von Sexarbeiterinnen weiter erforschen würde, sagt Smith – im Kontext ihrer Arbeit und darüber hinaus. Smiths Arbeit bietet unterdessen eine dritte feministische Sichtweise auf das Thema Sexarbeit. In ihren Augen sind die Erfahrungen einer Sexarbeiterinnen weder bestärkend noch ausbeuterisch, weder sicher noch unsicher, weder "richtig" noch "falsch". Stattdessen, sagt Smith, "ist Sexarbeit ein komplexer Bereich, in dem die vorherrschenden und unterdrückten Debatten aufeinandertreffen und eine Vielzahl von Erfahrungen hervorbringen, die weit über die Binarität von Ausbeutung/Empowerment hinausgehen."


Titelfoto: freestocks.org | Pexels | CC0 [Symbolfoto]