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Gender

Die Geschlechterbinarität ist nicht nur dämlich, sondern auch verhältnismäßig neu

Schuld ist, wer hätte es gedacht: das Patriarchat.
Foto (links): gerryimages | Pixabay | CC0; Foto (rechts): Kristina Paukshtite | Pexels | CC0

Einige der absurdesten Argumente gegen die Rechte von Frauen werden durch die (angeblich) grundsätzlichen, biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern begründet: Frauen könnten keine Führungsrolle einnehmen, weil sie zu irrational sind, wenn sie ihre Tage haben. Frauen sollten sich primär um die Kinder kümmern, weil sie durch die Hormone in ihren Brüsten von Natur aus fürsorglicher sind. Vergewaltigungen sind ein natürliches Nebenprodukt männlicher Geilheit und Aggressionen und der angeborenen Passivität von Frauen.

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Angeblich ist und war unsere vermeintliche Minderwertigkeit schon immer durch unseren Körper begründbar. Im Viktorianischen Zeitalter waren es unsere schwachen Nerven, durch die wir nicht arbeiten konnten und im Mittelalter glaubte man, dass Frauen im Vergleich zu Männern weniger mutig und abenteuerlustig seien, weil ihre "Hoden" kleiner und kälter waren.

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Vor dem 18. Jahrhundert gingen viele Ärzte und Philosophen noch davon aus, dass der Mensch nur ein einziges biologisches Geschlecht hätte: das Männliche. Frauen waren nichts weiter als minderwertige Männer, deren Penis sich nicht nach außen, sondern in das Innere des Körpers entwickelt hat. Galenos von Pergamon, einer der einflussreichsten Ärzte der antiken römischen Welt, war ein großer Befürworter dieser Theorie. Er glaubte, dass Frauen im Grunde Männer waren, deren Genitalien sich im Uterus nicht "vollständig" entwickeln konnten. Er verglich das weibliche Geschlecht im zweiten Jahrhundert vor Christus "mit den Augen eines Maulwurfs", die zwar vorhanden waren, aber eben nicht so vollkommen waren, wie bei höher entwickelten Wesen, weil sie blind und die Lider verschlossen seien. In anderen Worten: Das weibliche Geschlecht ist eine niedere Spezies.

Thomas Laqueur nennt diese Auffassung des biologischen Geschlechts das Ein-Geschlecht-Modell. Sein Buch Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud untersucht, wann und wie die westliche Gesellschaft die Vorstellung von einem einzigen "dominanten" Geschlecht abgelegt und zu einem Zwei-Geschlecht-Modell übergegangen ist, der Geschlechterbinarität, die wir heute kennen. "Anstatt von gegensätzlichen Geschlechtern auszugehen, hingen sie zusammen und waren hierarchisch organisiert", erklärt er gegenüber Broadly. "Es gab eine Hierarchie der Geschlechter und einen Zusammenhang zwischen den Körpern." Das Nasenbluten zum Beispiel war dem Namen nach derselbe körperliche Vorgang wie die Menstruation, sagt Laqueur.

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Diese Hierarchie war allerdings nicht statisch: Durch verschiedene Verhaltensweisen und biologische Vorgänge war es möglich, dass Männer und Frauen auf der Geschlechterleiter ab- beziehungsweise aufsteigen konnten. In medizinische Abhandlungen aus dem Mittelalter steht unter anderem, dass Frauen durch die Pubertät zu Männern werden könnten, wenn sich ihre nach innen gestülpten Genitalien doch noch nach außen senken würden.


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Vor der Aufklärung gingen Ärzte davon aus, dass jedes Lebewesen in unterschiedlichem Maße über vier verschiedene Körpersäfte verfügen würde: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim. Jeder Körpersaft wurde mit einem Element in Verbindung gebracht und in Kategorien wie nass oder trocken, heiß oder kalt eingeteilt. Hitze wurde immer mit Aktivität und daher mit Männern und ihren Heldentaten verbunden. Frauen galten hingegen als kälter und waren entsprechend schlechter als Männer. Auch dass die vaginale Höhle von Frauen geöffnet war, wurde ihnen als Charakterschwäche ausgelegt: Wenn schon ihr Körper so durchlässig war, dann sicher auch ihr Geist und ihre Seele. Allerdings waren alle Menschen in gewissem Maße heiß und kalt, offen und geschlossen, hart und weich, was sich auch mit dem Alter, der Jahreszeit und sogar mit der Tageszeit verändern konnte.

Der Umstieg vom Ein- zum Zwei-Geschlechts-Modell fand bei den meisten Forschern in einer Zeit statt, die man das "lange 18. Jahrhundert" (zwischen 1688 und 1815) nennt. In dieser Zeit fand in Europa die Aufklärung statt, gefolgt von verschiedenen politischen Umbrüchen wie der Französischen Revolution. Damals entstanden auch die ersten Vorstellungen von unantastbaren Menschenrechten.

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"Frauen musste sich per Definition grundlegend von Männern unterscheiden, um die politische Macht über den Einflussbereich von Frauen zu behalten."

Zuvor gab es in der westlichen Gesellschaft Feudalherrschaften, die davon ausgingen, dass Menschen von Geburt an ungleich waren. Könige waren besser als Herren, die wiederum besser als Bauern waren. Dieselbe Überheblichkeit haben sie auch auf ihren Körper übertragen. "Aristokraten hatten bessere Körper und Körper wurden ethnisiert", sagt Laqueur. "Der Körper war offen und fluid und die Folge einer göttlichen Hierarchie." Die Eigenheiten ihres vergänglichen Leibs waren dabei weniger wichtig als die Seele. Alle Menschen waren Diener Gottes, der die weltliche Hierarchie bestimmte.

Doch die Vorstellung, dass es eine von Gott gegebene Ordnung gäbe, wurde von den Philosophen der Aufklärung schließlich infrage gestellt. Das kommt auch in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 zum Ausdruck. In der heißt es zwar, dass alle Menschen "gleich geschaffen" sind, gleichzeitig ging man aber davon aus, dass Frauen und schwarze Menschen unmöglich gleich sein konnten. Daher war es an der Zeit, sich angeborene Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowie zwischen schwarzen und weißen Menschen auszudenken. "Die politischen Theoretiker des 18. Jahrhunderts beriefen sich zunehmend auf potenziell egalitäre Prinzipien. Daher mussten sich Frauen per Definition grundlegend von Männern unterscheiden, um die politische Macht über den Einflussbereich von Frauen zu behalten", schreibt Karen Harvey vom Historical Journal der Cambridge University Press.

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Die "Teile einer Frau" nach François Mauriceau | Foto: McLeod | Wikimedia | Public Domain

In medizinischen Texten wurde der geschlechtliche Unterschied expliziter dargestellt, nachdem die weibliche Anatomie ihre eigenen Benennungen bekommen hatte. Diese Veränderung wird vor allem zwischen der ersten und zweiten Auflage von Des Maladies des Femmes grosses et accouchées des französischen Arztes François Mauriceau deutlich. In der ersten Ausgabe, die 1668 erschien, hieß es noch:

Es haben die Weiber so wohl als die Mannen Testiculos oder Hoden die ebenmäßig das zugebrachte Gebluth in den Samen verwandeln sollen; nichts desto weniger sind sie von den männlichen teils in ihrer Figur, teils in ihrer Größe, Substanz und Beschaffenheit wie auch in ihrer Situation oder Lage unterscheiden.

In der zweiten Ausgabe, die 1683 veröffentlicht wurde, schien es Mauriceaus Herausgeber peinlich zu sein, solche veralteten Benennungen zu verwenden. Schließlich ergänzte der Verleger eine Anmerkung, in der stand, dass ihm ein "Fehler" unterlaufen seie und Frauen Eierstöcke und keine Hoden hätten. Dasselbe Organ wird inzwischen als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal von Männern und Frauen betrachtet, auch wenn Eierstöcke und Hoden einige strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten haben: Zum Beispiel stellen beide das genetische Material her, das zur sexuellen Reproduktion benötigt wird, in Form von Eizellen oder eben in Form von Spermien. Was einst als hinreichende Ähnlichkeit betrachtet wurde, wurde nun als grundlegender Unterschied angesehen.

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Im langen 18. Jahrhundert und dem Viktorianischen Zeitalter verhärteten sich die Vorstellungen von maskulin und feminin, die schließlich als genau entgegengesetzt betrachtet wurden. Als Mediziner noch von der Theorie mit den Körpersäften ausgingen, waren alle ein wenig heiß, ein wenig kalt, ein bisschen Country und ein bisschen Rock'n'Roll. Darüber hinaus wurden Frauen regelmäßig als das promiskuitivere Geschlecht dargestellt. Erst nach dem Wechsel zu einem binären Modell wurden Frauen zu passiven Sexverweigerern degradiert.

Männer sind geil, also müssen Frauen das Gegenteil von geil sein.

"Geschichtlich betrachtet, wurden Frauen immer als laszive und lustvolle Wesen wahrgenommen", schreibt Ruth Perry in ihrer wissenschaftlichen Arbeit Colonizing the Breast. "Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Frauen dann dargestellt, als würden sie einer anderen Daseinsform angehören: liebevoll, aber ohne sexuelle Bedürfnisse." In anderen Worten: Männer sind geil, also müssen Frauen das Gegenteil von geil sein.

Alle nicht-binären und genderfluiden Menschen des 21. Jahrhunderts können sich vielleicht mit dem Gedanken trösten, dass die Geschlechtertrennung nicht immer so starr war wie heute. Allerdings darf man dabei auch nicht vergessen, dass Geschlechter immer klassifiziert wurden, selbst wenn sie fluide waren. Eine Gruppe ging also auch damals als Gewinner hervor und natürlich waren es wie immer die, die besonders männlich waren.

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Die einzige Ausnahme: Jesus Christus. "Es gibt eine ganze Reihe von weiblichen Darstellungen von Jesus", sagt Lacqueur. "Angefangen damit, dass Christus einen offenen Körper hat und blutet. Es gibt auch Gemälde, die zeigen, wie Jesus aus der Brust blutet und Heilige davon trinken. Dieses Motiv zieht sich durch das gesamte Mittelalter." Die am weitesten verbreitete Version dieser Szene zeigt die heilige Katharina von Siena, die Blut aus der Wunde an der Brust von Jesus trinkt. In einem ihrer Briefe mahnt sie: "Ich, Katharina, Dienerin der Diener Jesu, schreibe dir in seinem wertvollen Blut, von dem Wunsch erfüllt, dass du dich von der Liebe Gottes ernährst, wie an der Brust einer liebreichen Mutter. Niemand kann in der Tat ohne diese Milch leben!"

Solltet ihr euch also mal wieder fragen, was Jesus tun würde, wisst ihr nun die Antwort: stillen.

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