Popkultur

Ich habe alle neuen Netflix-Weihnachtsfilme am Stück geschaut, um Weihnachten zu verstehen

Die Zutaten für besinnliche Feiertage: Knutschen, zwinkernde alte Männer und Tanzeinlagen.
Die Autorin und die Hauptcharaktere von Holidate; Ich habe alle neuen Netflix-Weihnachtsfilme am Stück geschaut, um Weihnachten zu verstehen
Anna: privat | Hintergrund: Aus Holidate. Steve Dietl/NETFLIX

Warum es so viele schlechte Weihnachtsfilme gibt? Weil man zwischen dem 26. und 31. Dezember, wenn die Tage zu einem zähen Brei zusammenpampen, allen Anspruch verliert. Ein zweiter Teil einer Weihnachtssaga, von der man den ersten nie gesehen hat, läuft im Fernsehen? Macht nichts. Man hat in den vergangenen Tagen schon so viel konsumiert, dass es jetzt keinen Grund gibt aufzuhören. Tatsächlich…Liebe, Kevin – Allein zu Haus oder Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat. Aschenbrödel läuft in deutschen Fernsehsendern insgesamt 19 Mal zwischen dem 29. November und dem 6. Januar. Aber obwohl es die bewährten Klassiker gibt, findet Netflix, dass noch nicht alle Weihnachtsgeschichten auserzählt sind.

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In der diesjährigen Vorweihnachtszeit beschenkt uns der Streaming-Anbieter mit acht neuen eigenen Spielfilmen. Das sind 15 Stunden und eine Minute Laufzeit. Wenn ich jetzt anfange, bin ich noch vor 1 Uhr in der Nacht fertig. Ich lade die Webseite und beim Anblick der Weihnachtsinhalte in all ihrer Pracht erwarte ich fast, dass Netflix zu mir spricht, wie der Engel Gabriel zu Maria, um mir zu sagen: "Fürchte dich nicht." 

Sie ist verbittert, weil sie single ist und er ist verbittert, weil er hot ist. Klar.

Mein Tag im Homeoffice beginnt mit Holidate. Emma Roberts sagt: "Fuck the holidays." Und drückt ihre Zigarette auf einer Weihnachtsmannstatue aus. Wir starten mit einer sehr aufgeladenen Bildsprache in den ersten Film. Sloane trifft auf Jackson, der einen australischen Akzent hat, damit wir wissen, dass er süß ist. Sie ist verbittert, weil sie single ist und er ist verbittert, weil er hot ist. Klar. Eigentlich geht es in diesem Film nur am Rande um Weihnachten, außer dass der Film an Heiligabend beginnt und endet, spielt das Fest keine Rolle. Es geht vor allem darum, wie schrecklich es ist single zu sein.


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Jackson und Sloane lernen sich in einem Shoppingcenter kennen, während sie ihre echt nicht so schrecklichen Weihnachtsgeschenke umtauschen. Sie entscheiden, dass es einfacher ist die Feiertage zu überstehen, wenn sie Eltern und Freunden keine Antwort schuldig sind, warum sie noch single sind. Als rein platonische Begleitung ist Jackson dabei, wenn sich ihre Familie zu einer Gartenparty zu Ostern trifft oder ihre Verwandten sich am Amerikanischen Unabhängigkeitstag Gliedmaßen wegböllern wollen.

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"Who is this dickhead, that ruined romantic comedies for you?", meint er irgendwann zu ihr, weil es nicht daran liegen kann, dass Rom-Coms schlecht sind, sondern alle weiblichen Meinungen und Emotionen von einem Typen ausgelöst werden müssen. Wie es sich für eine Rom-Com gehört, wird Ryan Gosling ausgiebig thematisiert. Er fühlt sich von ihm bedroht. Sie findet Ryan Gosling cute. Dass er irgendwie aussieht wie eine Podcast-Zwischenspielmelodie klingt – ganz OK aber sehr langweilig – ist ihr scheinbar nicht aufgefallen. Doch alle Meinungsverschiedenheiten werden egal, als sie ihm ihre Liebe gesteht und sich dabei öffentlich blamiert.

Wenigstens weiß ich jetzt: Ich brauche einen Mann und finden werde ich ihn in den Neukölln-Arkaden. Also, falls jemand Bock hat: Ihr findet mich in den Tagen vor Heiligabend in der Ditsch-Schlange. Oder auch nicht, weil: Lockdown.

Alles Gute kommt von oben ist der nächste Film auf meiner Liste. Die Geschichte basiert auf einer humanitären Operation der Amerikanischen Air Force, die jährlich stattfindet. In der Vorweihnachtszeit fliegt die Air Force über die Mikronesischen Inseln und wirft Kisten mit Medikamenten, Nahrung oder Spielzeug ab. Die Aufgabe von Erica, Assistentin einer Kongressabgeordneten, ist es, einen Luftwaffenstützpunkt in Guam zu schließen. Sie soll beweisen, dass die Kosten für die "Operation Christmas Drop" nicht tragbar sind für die amerikanischen Steuerzahler.

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Alle wünschen sich das perfekte Weihnachten, das sie mal hatten.

In Guam trifft sie auf Andrew. Er spielt Ukulele, ist sehr blond, sehr glücklich und der langweiligste Mensch auf der Welt. Gerne würde er die Feiertage mit seiner Familie verbringen. Ihr geht es ähnlich, statt in Guam wäre Erica lieber bei ihrem Vater. Alle wünschen sich das perfekte Weihnachten, das sie mal hatten. Doch all das spielt keine Rolle, wenn man eng umschlungen I saw Santa in His Bathing Suit singen kann.

Eigentlich wünsche ich mir jetzt einen Weihnachtsfilm, den ich so sehr auswendig kenne, dass es sich anfühlt, als würde ich im Haus meiner Kindheit auf der Couch sitzen. Aber weil Aschenbrödel nicht von Netflix vertrieben wird, bleibt mir nichts anders übrig als Jingle Jangle Journey: Abenteuerliche Weihnachten! zu schauen. Visuell erinnert dieser Film an Charlie und die Schokoladenfabrik. Es geht um den Erfinder Jeronicus Jangle, der berühmt ist für seine lebendigen Spielzeuge, bis sein Lehrling ihm alle Ideen klaut. Jahre später hilft ihm seine Enkelin dabei, um Gerechtigkeit zu kämpfen und sein Notizbuch zurückzuholen.

Als ich merke, dass der Film ein Musical ist, will ich mich direkt aufregen, doch der erste Song ist so catchy, dass ich mich das erste Mal in letzten vier Stunden bewegen muss. Später wird mir aber der Gesang und das Getanze zu viel. Die Hauptfigur ist genauso irritiert vom Gesang und der plötzlichen Tanzeinlage wie ich. Als die Postbotin das Lied anstimmt, fragt er sie, ob sie betrunken sei. Ich muss zugeben, dass ich danach kurz zehn Minuten eingenickt bin. Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, dass es wohl die beste Unterhaltung ist, die ich heute zu sehen bekomme. Irgendwann lächelt Jeronicus und sagt: "A child with an imagination always belongs." Seine Enkelin freut sich und ich freue mich mit. Dieser kitschige Glaube an Wunder in Weihnachtsfilmen gibt mir doch fast das Gefühl zu Hause auf der Couch zu sitzen.

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Dieser Film muss die Umsätze der Lamettaindustrie beträchtlich gesteigert haben.

Den zweiten Film einer Reihe zu schauen, ohne den ersten zu sehen, ist bei Weihnachtsfilmen selten ein Problem. Ich habe bis heute den ersten Film der Santa-Clause-Trilogie nicht gesehen. Deshalb mache ich mir auch keine Sorgen, als ich mit Prinzessinnentausch: Wieder vertauscht! weitermache. Vanessa Hudgens gibt es in diesem Film drei Mal. Einmal in cool, einmal in classy, einmal in gemein. Der Titel sagt schon alles. Drei Frauen, die komplett gleich aussehen, wechseln Rollen. Das ganze spielt während der Weihnachtszeit. Dieser Film muss die Umsätze der Lamettaindustrie beträchtlich gesteigert haben. Die Eingangshalle des Schlosses ist bis in die hinterste Ecke geschmückt. "It's absolutely wonderful", sagen die Protagonistinnen dazu und mir tut es in den Augen weh. Jetzt denke ich das erste Mal daran, dass Zimtsterne den Stoff Cumarin enthalten, der die Kekse gut riechen lässt. Zu viele davon sind giftig. So fühle ich mich nach den ersten vier Filmen: eins geworden mit meiner Decke - und vergiftet.

Als nächstes klicke ich auf den Titel Schon wieder Weihnachten, der meine aktuelle Gefühlslage ganz gut zusammenfasst. Die Hauptfigur hat Geburtstag an Heiligabend und findet das schrecklich, deshalb benimmt er sich jedes Jahr aufs Neue wie ein Choleriker und schwitzt dabei unglaublich. Sein Schwiegervater hat dieses Verhalten satt und zwinkert einmal vielsagend. Weil sein Schwiegervater sich die Mühe gemacht hat, ihn zu verfluchen, erlebt er die Weihnachtstage der nächsten Jahre im Schnelldurchlauf, während er sich an den Rest der Jahre nicht erinnern kann.

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So wacht er Jahr für Jahr auf und merkt wie er sich immer mehr von seiner Familie entfernt. Als seine Tochter an Brustkrebs stirbt, betet er für ein Weihnachtswunder. Sein Schwiegervater hebt darauf den Fluch auf und ich bin überrascht davon, dass man diesem Familienvater die Sterblichkeit seiner Kinder vorrechnen muss, damit er sich einmal ein bisschen zusammenreißt. Vielleicht geht es an Weihnachten gar nicht so sehr um Nächstenliebe, sondern darum, dass alle ihre eigene Vorstellung vom perfekten Fest durchsetzen wollen. Ein Weihnachtsbraten mit Wut und Verbitterung als Beilagen.

Endlich ein Film mit einem Weihnachtsmann: The Christmas Chronicles: Teil zwei. Ein klassischer Weihnachtsfilm für Kinder. Die weißen Haare des Weihnachtsmanns umrahmen perfekt geschwungen sein Gesicht. Er sieht so aus wie ein "Männer altern wie Wein"-Model für Peek & Cloppenburg. An seinem Arm würde dann so ein leicht genervt aussehendes 20-jähriges Model hängen. Als ich Mrs. Claus sehe, bin ich deshalb gar nicht überrascht, dass ihre Haare blond sind statt weiß wie seine. Ich wage zu bezweifeln, dass sie auch schon 1700 Jahre auf dem Buckel hat.

Kinder, die an den Weihnachtsmann glauben oder Tom Cruise's nächste religiöse Obsession? Keiner weiß das so genau.

Die Wichtel, eine Kombination aus Furbys und Lemuren, sind direkt einem Albtraum entsprungen. Die zwei Kinder, die aus der Menschenwelt im Weihnachtsdorf landen, um Weihnachten zu retten, glauben so sehr an den Weihnachtsmann, dass sie eine eigene Bezeichnung dafür haben: True Believers. Kinder, die an den Weihnachtsmann glauben oder Tom Cruise's nächste religiöse Obsession? Keiner weiß das so genau. Als der Weihnachtsmann den Christmas Spirit an eine Flughafen misst und dieser bei 7 Prozent liegt, fühle ich mich das erste Mal von diesem Film verstanden. Als er jedoch einen Flashmob als Lösung vorschlägt, direkt nicht mehr. Der Film endet, wie könnte es anders sein, mit einem zwinkernden Weihnachtsmann, der anschließend mit Mrs. Claus knutscht. 

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An dieser Stelle wünsche ich mir, dass ich aufhören kann. Während ich Dolly Parton's Christmas on the Square anmache, schleppe ich meinen welken Körper in die Küche. Der Schokoweihnachtsmann blickt mir höhnisch aus dem Vorratsschrank entgegen. Ich schmiere mir lieber ein Brot. Zurück vor dem Bildschirm brauche ich eine Weile, bis ich verstehe, worum es überhaupt geht. Eine verbitterte Frau will die Stadt, die ihr gehört, an einen Investor verkaufen. Bis zum 24. Dezember müssen alle ihre Läden und Häuser räumen. Die Aufgabe des Engels, verkörpert von Dolly Parton, ist es an die Menschlichkeit der Geschäftsfrau zu appellieren und die Räumungen zu stoppen. Ich schaue den Film, wie ich mir das Brot mit Frischkäse reinschiebe: völlig gedankenlos und ohne darauf zu achten, ob ich schon satt bin. Erst als ich sehe, wie eine Frau ununterbrochen nickt, während sie singt, weil sie den Song so sehr fühlt, merke ich, dass ich kein Nicken übrig habe für diesen Film. Ich will nie wieder Weihnachtslyrics, untermalt mit diesen schrecklichen Glöckchen, hören. Die einzige Erkenntnis, die ich aus diesem Film ziehe: Wenn Dolly Parton verkleidet als Engel bei der Räumung von Liebig 34 dabei gewesen wäre, wäre diese auf jeden Fall anders ausgegangen.

Es ist nach 23 Uhr und es scheint, als hätte Netflix mit dem letzten Film meine Wünsche erhört. Wir können nicht anders will kein Weihnachtsfilm sein. Abgesehen von ein paar Lichterketten im Hintergrund, erinnert wenig an die besinnliche Zeit. Alle sind schlecht gelaunt und wollen sich gegenseitig erschießen. Es fängt damit, dass ein Literaturdozent und eine Frau sich in einer Bar in Berlin treffen und sie ihn davon überzeugt, sie für den Geburtstag ihres Vaters auf dem Land zu besuchen. Dort treffen sie auf Nazis mit Mordlust.  Der Film bringt mir bei, dass es Leute, die dich umbringen wollen, sehr irritiert, wenn du statt mit deiner Geliebten wegzurennen, stehen bleibst und bisschen rumknutschst. Über Weihnachten lerne ich wenig, außer, dass es eine echt schlechte Idee ist, über die Festtage in die Heimat zu fahren.

Während ich den Laptop zuklappe, ertappe ich mich beim Summen des Aschenbrödel-Themesongs.

Bevor die Brandenburger Gangster in eine sehr minimalistische Choreo verfallen, sagt ihr Vater: "Weihnachten ist die Zeit zum Nachdenken. Wie so oft im Leben hätte alles nicht passieren müssen." Ich beziehe diese Aussage auf die Dreharbeiten und meine letzten 15 Stunden. 

Die Zutaten für besinnliche Feiertage sind laut Netflix: Knutschen, zwinkernde alte Männer und Tanzeinlagen. Während ich den Laptop zuklappe, ertappe ich mich beim Summen des Aschenbrödel-Themesongs. Oft habe ich dabei das Gefühl, diese Geschichte schon mal gehört zu haben. Doch dieser unzerstörbare und gleichzeitig selbstverständliche Glaube an Wunder, der in fast allen Weihnachtsfilme eine Rolle spielt, macht aus schlechten Filmen eine Erinnerung daran, wie sich Weihnachten als Kind angefühlt hat.

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